As Time Goes By
Die Schattenläufer
Ich renne durch die Stadt, nicht aus Angst, eher aus einer Art Notwendigkeit. So wie man manchmal Durst hat und trinken muss. Nur dass es eben Rennen ist. Die Straßen sind leer, aber nicht auf diese unheimliche Art, eher wie an einem Feiertag, wenn alle zuhause sind und nur die wirklich Wichtigen unterwegs. Zu denen ich offenbar gehöre. Ich fühle die Pflastersteine unter meinen Sohlen, ein bisschen zu hart, ein bisschen zu deutlich. Meine Schuhe sind dünn, wahrscheinlich die falschen für so was. Aber wer plant schon einen Traum-Marathon? Weiterlesen
Der Regen, der blieb
In einer Stadt ohne Namen, unter einem Himmel, der nie mehr aufklarte, fiel der Regen. Nicht in Strömen, nicht in Schauern – sondern stetig, in winzigen, silbrigen Tropfen, die weder kalt noch warm waren. Die Menschen nannten ihn den Stillregen, weil er kam, ohne zu klingen, und blieb, ohne zu gehen.
WeiterlesenZwischen Ranken und Ruinen
Carla zog Zoe hinter sich her, barfuß über den feuchten Asphalt. Die Stadt war längst zugewachsen, verschlungen von Ranken, deren Blätter im Schein der untergehenden Sonne fluoreszierten. Wo einst Menschen lebten, hörte man jetzt nur das Summen der Insekten, das Knacken der Wurzeln, die sich durch Beton fraßen. Weiterlesen
Aschestadt
Der Himmel war grau, seit sie denken konnte. Kein Regen, kein Wind – nur das ewige Flimmern toter Luft über zerborstenen Fassaden. Zwischen den Trümmern der Aschestadt kroch die Zeit wie ein verwundetes Tier. Niemand sprach mehr von „Früher“. Die Erinnerung war gefährlich geworden. Weiterlesen
Marie
Marie hat ein Lachen, das alles andere um sie herum in Schwarzweiß verwandelt.
Marie hat ihre Spuren überall hinterlassen, wie Brotkrumen in einem düsteren Märchen. Eine angebrochene Flasche Bordeaux in der Küche, der schwere Duft ihres Parfums auf meinem Kopfkissen, ein einzelner seidener Strumpf unter dem Bett – halb versteckt, halb Mahnmal, wie eine nicht eingelöste Drohung. Weiterlesen
Claire
Sie hebt eine Augenbraue, die so perfekt geschwungen ist, dass sie in Paris auf jedem Laufsteg Neid auslösen würde. Aber Claire ist hier und wird hierbleiben, verwurzelt wie die knorrigen Pinien am Strand, wie ihre Mutter und deren Mutter davor. Und ich? Ich bin noch hier, weil … ja, weil. Manchmal sind die wichtigsten Fragen die ohne Antwort. Weiterlesen
Vittoria
Als sie das Tiramisu brachte, kam eine andere Frau mit ihr. Auf den ersten Blick konnte man die Ähnlichkeit sehen – dieselben dunklen Augen, dieselben hohen Wangenknochen. Aber während Giulias Gesicht offen war, hatte das der anderen Frau etwas Berechnendes. Weiterlesen
Giulia
Ich blickte auf und sah sie. Dunkle Augen, die direkt in meine schauten. Ein Lächeln, das nicht aussah wie das eines Menschen, der den ganzen Tag fremde Leute bedient. Ihr Haar war zu einem losen Knoten gebunden, ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Sie trug ein einfaches weißes Hemd und eine schwarze Hose, aber irgendwie sah es an ihr aus wie etwas Besonderes. Weiterlesen
Ingrid
Als ich den Hof betrete, sehe ich Ingrid, die gerade einen Korb mit Rüben von der Wasserpumpe wegträgt. Sie trägt dieselbe praktische Kleidung wie gestern – Jeans, kariertes Hemd, Gummistiefel – und ihr blondes Haar ist zu einem lockeren Zopf geflochten.
„Alex!“ ruft sie überrascht. „Schon wieder hier?“
„Das Brot von gestern war zu gut,“ sage ich mit einem Lächeln. „Ich musste mehr haben.“
Sie lacht – dieses warme, kehliges Lachen, das mir schon gestern aufgefallen ist. „Mama hat gerade frisches gebacken. Komm mit.“
Ich folge ihr zur Küche, die mir nun schon vertraut vorkommt. Liv steht am Herd, nimmt gerade ein Brot aus dem Ofen. Sie blickt auf, als wir eintreten.
„Der Deutsche,“ sagt sie und nickt zur Begrüßung. „Dir hat es also geschmeckt?“ Weiterlesen
Astrid
Hinter mir höre ich Schritte auf dem Holzsteg. Dann eine Frauenstimme.
„Enjoying the view?“
Ich drehe mich um. Eine Frau steht da, vielleicht Anfang dreißig, schlank, mit dunklen Haaren, die ihr locker auf die Schulter fallen. Sie trägt Jeans und einen grauen Pullover, über dem eine Schürze gebunden ist. Ihre Augen sind so grün wie der Fjord und mustern mich neugierig.
„Ja,“ sage ich. „Es ist wunderschön hier.“
Sie lächelt. „You must be Alexander. The German.“
Wieder bin ich überrascht. „News really does travel fast around here.“
Sie lacht, ein helles, klares Lachen. „It's a small village. I'm Astrid. Astrid Haugland. This is my place.“ Sie deutet auf das Gebäude hinter uns.
„Das Fjellgård?“
„Yes. Hotel and café. Not that we get many guests this time of year.“ Sie setzt sich neben mich auf den Steg, allerdings mit gebührendem Abstand. „What brings you to Gryteselv, Alexander? Most tourists come in the summer.“
„Ich bin kein Tourist,“ sage ich. „Ich... bleibe eine Weile. Und bitte, nenn mich Alex.“ Weiterlesen