Das Gespräch auf der Parkbank

Ich sitze auf einer Parkbank und spüre die Frühlingssonne auf meinem Gesicht. Nicht zu heiß, nicht zu kalt – genau richtig. So ein Wetter ist selten. Meistens ist es zu irgendwas. Zu windig, zu schwül, zu was auch immer. Aber heute ist es einfach nur gut.
Vor mir liegt der Teich. Enten gleiten über die Wasseroberfläche, machen dieses typische Enten-Ding, wo sie den Hintern in die Luft strecken und mit dem Kopf untertauchen. Hat was Komisches. Werde nie verstehen, warum ich das so lustig finde.
Eigentlich bin ich hier, um nachzudenken. Hab diesen Job angeboten bekommen. Bessere Bezahlung, mehr Verantwortung, längerer Arbeitsweg. Die klassische Gleichung, bei der man selbst entscheiden muss, ob sie aufgeht oder nicht. Meine Freundin meint, ich soll’s machen. „Du jammerst doch ständig über deine aktuelle Stelle.“ Stimmt schon, aber jammern ist manchmal auch einfach nur jammern, nicht unbedingt der Wunsch nach Veränderung.
Eine Brise weht mir durchs Haar. Es ist länger geworden in letzter Zeit. Sollte mal wieder zum Friseur. Schon komisch, wie man manchmal wichtige Lebensentscheidungen und die Länge der eigenen Haare im gleichen Gedankengang abhandelt.
Da kommt ein alter Mann auf die Bank zu. Grauer Mantel, trotz des warmen Wetters. Hut, so ein altmodischer, wie man ihn nur noch in Filmen sieht. Er deutet auf den Platz neben mir.
„Ist hier noch frei?“ Seine Stimme klingt rau, aber nicht unangenehm.
„Klar, setzen Sie sich.“
Er lässt sich langsam nieder, stützt sich dabei auf einen Stock. Sein Gesicht ist voller Falten, tiefe Furchen, wie eine Landkarte aus Erfahrungen. Seine Augen sind wach, klar, hellblau.
Eine Weile sitzen wir nur da. Schweigen. Er füttert die Enten mit Brotkrumen aus einer Papiertüte. Ich beobachte, wie die Vögel sich ums Futter streiten, sich gegenseitig aus dem Weg drängen, dann wieder friedlich nebeneinander schwimmen.
„Manchmal“ sagt der alte Mann plötzlich, „sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.“
Ich schaue ihn an. Hat er meine Gedanken gelesen? Oder ist das nur so ein Spruch, den alte Leute eben so draufhaben?
„Wie meinen Sie das?“, frage ich.
Er wirft den letzten Krümel ins Wasser und faltet die Tüte ordentlich zusammen, steckt sie in die Manteltasche.
„Die Enten da. Sehen Sie?“ Er deutet mit seinem Stock aufs Wasser. „Die streiten und zanken um jedes Stückchen Brot. Aber am Ende des Tages schwimmen sie alle im selben Teich.“
Ich nicke, obwohl ich nicht ganz sicher bin, worauf er hinauswill.
„Was beschäftigt Sie, junger Mann? Sie sehen aus, als würden Sie mit etwas ringen.“
Normalerweise erzähle ich Fremden nicht von meinen Problemen. Aber irgendwas an ihm gibt mir das Gefühl, dass es in Ordnung ist. Vielleicht ist es die Art, wie er die Enten betrachtet hat, mit einer Mischung aus Belustigung und Weisheit.
„Job-Angebot“, sage ich knapp. „Bessere Stelle, aber weiter weg.“
Er nickt, als hätte ich gerade die Weltformel erklärt.
„Und jetzt überlegen Sie, ob das neue Ufer grüner ist oder ob Sie lieber in Ihrem jetzigen Teich bleiben sollen.“
„So ungefähr, ja.“
Er lehnt sich zurück, legt beide Hände auf seinen Stock und blickt über den Teich hinweg.
„Wissen Sie, ich habe mein Leben lang beim selben Unternehmen gearbeitet. Vierundvierzig Jahre. Vom Lehrling zum Abteilungsleiter. Damals war das noch üblich.“
Ich pfeife anerkennend durch die Zähne. „Lange Zeit.“
„Ja.“ Er lächelt. „Und wissen Sie was? Ich hatte dreimal die Chance zu wechseln. Dreimal habe ich abgelehnt.“
„Warum?“
„Beim ersten Mal hatte ich Angst. Beim zweiten Mal war ich bequem geworden. Und beim dritten Mal…“ Er hält inne, dreht seinen Hut in den Händen. „Beim dritten Mal war ich zu alt für Veränderungen, dachte ich.“
Eine Ente watschelt aus dem Wasser und kommt auf uns zu, wahrscheinlich in der Hoffnung auf mehr Futter. Als sie merkt, dass es nichts gibt, dreht sie um und geht zurück zum Teich.
„Und was würden Sie heute anders machen?“, frage ich.
Der alte Mann lacht leise. „Beim ersten Mal hätte ich den Mut haben sollen zu gehen. Es war eine gute Gelegenheit, und ich war jung. Was hätte schon passieren können?“
Ich muss an meinen Jobwechsel denken. Die Angst vor dem Unbekannten kenne ich nur zu gut.
„Und bei den anderen beiden Malen?“
„Beim zweiten Mal war es richtig zu bleiben. Ich hatte gerade Familie gegründet, brauchte die Sicherheit. Und beim dritten Mal.…“ Er schüttelt den Kopf. „Da hätte ich auch wechseln sollen. Es wäre eine Herausforderung gewesen, etwas Neues zu lernen, neue Menschen kennenzulernen. Stattdessen bin ich in meiner Komfortzone geblieben und habe die letzten Jahre bis zur Rente einfach ausgesessen.“
„Woher weiß man, wann man gehen und wann man bleiben soll?“, frage ich.
Er wendet sich mir zu, seine blauen Augen fixieren mich. „Das ist die Millionen-Euro-Frage, nicht wahr? Wenn ich das mit Sicherheit wüsste, würde ich nicht auf einer Parkbank sitzen und Enten füttern.“
Wir lachen beide.
„Aber ich kann Ihnen sagen, worauf ich im Nachhinein achten würde“, fährt er fort. „Auf mein Bauchgefühl. Nicht auf die Angst – die ist ein schlechter Ratgeber. Sondern auf diese leise Stimme, die uns sagt, was wir wirklich wollen.“
„Und wenn die Stimme schweigt?“
„Dann hat sie schon gesprochen, und Sie haben nur nicht zugehört.“ Er tippt sich an die Brust. „Hier drin wissen wir meistens, was richtig ist. Wir reden es uns nur oft genug aus, bis wir es nicht mehr hören können.“
Ich denke an die letzten Wochen, wie ich hin und her überlegt habe, Pros und Contras aufgeschrieben habe, mit Freunden diskutiert habe. Aber eigentlich weiß ich es schon die ganze Zeit. Ich will die neue Stelle. Der Gedanke daran macht mich nervös, aber auch aufgeregt. Eine gute Art von Aufregung.
„Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen“, sage ich langsam.
Er nickt zufrieden, als hätte er genau das erwartet. „Natürlich wissen Sie das. Sie sind kein Dummkopf, das sehe ich.“
Diese direkte Art bringt mich zum Lächeln. Keine Floskeln, keine falschen Komplimente. Einfach nur eine ehrliche Einschätzung.
„Sie erinnern mich an meinen Großvater“, sage ich. „Der hat auch nie ein Blatt vor den Mund genommen.“
„Ein kluger Mann, Ihr Großvater.“ Er zwinkert mir zu. „Wissen Sie, manchmal ist es gar nicht so wichtig, welche Entscheidung man trifft. Wichtiger ist, dass man sie aus den richtigen Gründen trifft und dann voll dahinter steht.“
„Und wenn es die falsche Entscheidung war?“
„Dann lernt man daraus und trifft beim nächsten Mal eine bessere.“ Er zuckt mit den Schultern, als wäre es das Einfachste der Welt. „Das Leben ist zu kurz, um sich über Fehler zu grämen, die man nicht mehr ändern kann.“
Eine tiefe Weisheit liegt in seinen Worten, die mich berührt. Nicht weil sie besonders originell wäre, sondern weil sie aus einem Leben voller Erfahrungen kommt.
„Haben Sie Kinder?“, fragt er unvermittelt.
„Nein, noch nicht.“
„Ich habe zwei Söhne und eine Tochter. Alle erwachsen jetzt, mit eigenen Kindern.“ Er holt ein altes Lederportemonnaie hervor und zeigt mir ein Foto. Drei lächelnde Erwachsene mit einer Gruppe von Kindern verschiedenen Alters. „Das ist vom letzten Weihnachten. Die ganze Bande.“
Ich betrachte das Bild. Sie sehen glücklich aus, eine richtige Familie. Etwas, das ich mir auch wünsche, irgendwann.
„Schöne Familie“, sage ich.
„Ja, das ist sie.“ Er steckt das Portemonnaie wieder ein. „Wissen Sie, was ich ihnen immer sage? ‚Lebt euer Leben so, dass ihr am Ende keine Reue habt.‘ Nicht meine Worte, aber gute Worte.“
Ich nicke. Es ist ein einfacher Rat, aber schwer zu befolgen.
„Meine Frau ist vor drei Jahren gestorben“, sagt er plötzlich. Die Worte hängen schwer in der Luft.
„Das tut mir leid.“
„Mir auch.“ Er schmunzelt leicht, trotz des traurigen Themas. „Achtundvierzig Jahre waren wir verheiratet. Eine lange Zeit, um jemanden zu lieben. Eine noch längere Zeit, um ohne ihn zu leben.“
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Jede Floskel erscheint mir unpassend.
„Aber wissen Sie was? Ich bereue keine Minute davon. Nicht die guten Zeiten und nicht die schlechten. Weil alles zusammen unser Leben ausgemacht hat.“ Er klopft mit seinem Stock auf den Boden, als wolle er seinen Worten Nachdruck verleihen. „Und darum geht es letztendlich. Man muss sein Leben so leben, dass man am Ende sagen kann: ‚Es war mein Leben. Nicht perfekt, aber meins.’„
Die Sonne steht jetzt tiefer, wirft lange Schatten über den Park. Die meisten Enten haben sich ans Ufer zurückgezogen. Es ist ruhiger geworden.
„Ich sollte langsam nach Hause gehen“, sagt der alte Mann und macht Anstalten aufzustehen.
Ich stehe schnell auf, um ihm zu helfen, aber er winkt ab. „Geht schon, danke. Bin noch nicht so gebrechlich, wie ich aussehe.“
Mit erstaunlicher Leichtigkeit steht er auf und richtet seinen Mantel.
„Danke für das Gespräch“, sage ich. „Es hat mir wirklich geholfen.“
„Gern geschehen. Manchmal braucht man einfach jemanden, der einem zuhört und ein paar Binsenweisheiten von sich gibt.“ Er lacht über seinen eigenen Scherz.
„Nein, wirklich. Sie haben mir die Klarheit gegeben, die ich gebraucht habe.“
Er nickt anerkennend. „Dann bin ich froh. Und jetzt gehen Sie und nehmen Sie diesen neuen Job an. Oder lassen Sie es. Was auch immer Ihr Herz Ihnen sagt.“
Er tippt an seinen Hut, dreht sich um und geht langsam den Kiesweg entlang. Seine Gestalt wird kleiner, bis er schließlich um eine Ecke biegt und verschwindet.
Ich setze mich wieder auf die Bank und schaue über den Teich. Die Wasseroberfläche glitzert im Abendlicht. Es ist merkwürdig ruhig, als hätte die ganze Welt kurz innegehalten.
Ich hole mein Handy heraus und schreibe eine Nachricht an meine Freundin: „Ich nehme den Job an. Erzähle dir später alles.“
Als ich auf ‚Senden‘ drücke, fühle ich eine seltsame Erleichterung. Als hätte ich eine Last abgeworfen, die ich schon viel zu lange mit mir herumgeschleppt habe. Und plötzlich wird mir klar, dass der alte Mann Recht hatte. Ich habe die Antwort die ganze Zeit gewusst.
Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Das Sonnenlicht tanzt rot hinter meinen Lidern. Ich höre das leise Plätschern des Wassers, das Rascheln der Blätter in den Bäumen. Für einen Moment bin ich völlig im Einklang mit allem.
Als ich die Augen wieder öffne, kommt es mir vor, als wäre ich aus einem kurzen Traum erwacht. Ich blicke mich um. Die Bank neben mir ist leer, als hätte nie jemand dort gesessen. Die Enten schwimmen friedlich auf dem Teich, zwei davon streiten sich um ein Stück Brot, das jemand ins Wasser geworfen hat.
War der alte Mann real? Oder war er nur eine Projektion meiner eigenen Gedanken, meiner eigenen Unsicherheiten und Hoffnungen?
Ich stehe auf und gehe denselben Weg entlang, den er genommen hat. Am Ende des Weges biege ich um die Ecke und sehe – nichts. Nur den leeren Park, ein paar Jogger in der Ferne, eine Mutter mit Kinderwagen.
Einen Moment lang stehe ich einfach da, verwirrt, fast ein bisschen enttäuscht. Dann muss ich lächeln. Vielleicht spielt es keine Rolle, ob er real war oder nicht. Die Erkenntnis, die er mir gebracht hat, ist es auf jeden Fall.
Ich mache mich auf den Heimweg, die Hände in den Taschen, ein Lächeln auf dem Gesicht. Der Wind weht mir durchs Haar, und ich denke, dass ich wirklich zum Friseur gehen sollte, bevor ich am neuen Arbeitsplatz anfange.
In der Ferne höre ich ein Lachen, das mich an den alten Mann erinnert. Ich drehe mich um, aber da ist niemand. Nur der Wind in den Bäumen, das Licht der untergehenden Sonne, das durch die Blätter fällt und Muster auf den Boden zeichnet. Ich gehe weiter und fühle mich seltsam leicht. Als hätte ich nicht nur eine Entscheidung getroffen, sondern auch eine Lektion fürs Leben gelernt. Von einem alten Mann auf einer Parkbank