Zwischen Licht und Schatten

Ich falle. Falle in einen tiefen Brunnen, der keine Wände hat. Nur das Gefühl des Fallens. Die Luft zieht an meinen Wangen vorbei, kälter und kälter. Dann plötzlich stehe ich auf einem Marktplatz. Meine Füße berühren warmes Pflaster, die Sonne brennt auf meinen Kopf. Der Himmel ist so blau, dass es in den Augen schmerzt, wenn man zu lange hochschaut. Kein normales Blau, sondern dieses stechende Mediterranblau, das man nur im Süden findet. Wahrscheinlich ist es nicht mal real, dieses Blau.
Der Markt wimmelt von Geräuschen und Gerüchen. Zwiebeln, Knoblauch, Paprikapulver. Irgendwo brutzelt Öl in einer Pfanne. Ich bewege mich zwischen den Ständen, ohne zu wissen, wonach ich suche. Die Verkäufer rufen in einer Sprache, die ich nicht verstehe, aber gleichzeitig doch. Es ist wie das Gefühl, ein Wort auf der Zunge zu haben, das nicht herauswill.Ich bleibe an einem Stand stehen. Auf dem Tisch liegen Fische, silbrig glänzend, mit glasigen Augen, die mich anzustarren scheinen. Manche haben noch Sand an den Flossen. Der Verkäufer trägt eine blutbefleckte Schürze und hantiert mit einem Messer, das so scharf aussieht, dass man sich schon beim Hinschauen schneiden könnte. Er sagt etwas zu mir, aber es verschwimmt in meinen Ohren.
„Ich will nichts kaufen“, sage ich, aber meine Stimme klingt seltsam fremd.Er lacht nur und schneidet einem Fisch den Kopf ab. Das Messer gleitet durch den Fisch wie durch Butter. Kein Widerstand. Ich wende mich ab und laufe weiter.
Die Sonne steht tief und wirft lange Schatten. Mein eigener Schatten dehnt sich vor mir aus wie eine dunkle Pfütze. Manchmal habe ich das Gefühl, er bewegt sich nicht ganz synchron mit mir, als würde er zögern oder vorauseilen. Ich bleibe stehen, um ihn zu testen. Er bleibt auch stehen. Natürlich. Was habe ich erwartet?Am Rand des Marktes steht ein altes Gebäude mit verwitterter Fassade. Die Farbe blättert ab wie Schuppen von einer kranken Haut. Die Fenster sind mit Holzläden verschlossen, nur eines steht offen. Dahinter sehe ich einen schwachen Lichtschein. Eine Lampe vielleicht, oder eine Kerze. Ich gehe darauf zu, ohne zu wissen warum. Meine Füße bewegen sich wie von selbst.
Das Haus hat keine Tür, oder ich kann sie jedenfalls nicht finden. Ich laufe um das Gebäude herum, einmal, zweimal. Beim dritten Mal entdecke ich eine schmale Öffnung, kaum breiter als meine Schultern. Ich zwänge mich hindurch und stehe in einem dunklen Gang. Die Wände sind aus rauem Stein, kühl und leicht feucht. Es riecht nach Moder und etwas anderem, das ich nicht einordnen kann. Ein bisschen wie nasses Fell.
Am Ende des Ganges flackert Licht. Ich gehe darauf zu, langsam, Schritt für Schritt. Der Boden unter meinen Füßen fühlt sich uneben an, als würde ich über kleine Hügel laufen. Ich schaue nach unten und sehe im schwachen Licht, dass der Boden mit kleinen Kieseln bedeckt ist. Nein, nicht Kiesel. Zähne. Hunderte winziger Zähne, wie von Fischen oder Kindern. Ich trete auf sie und höre das leise Knirschen unter meinen Sohlen. Mein Magen zieht sich zusammen, aber ich gehe weiter. Ich muss wissen, was am Ende des Ganges ist.
Der Raum, in den ich trete, ist größer als das Haus von außen aussah. Die Decke wölbt sich hoch über mir, verliert sich im Dunkel. An den Wänden hängen Tücher in verschiedenen Rottönen. Manche sehen aus wie Samt, andere wie dünne Seide. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch mit einer weißen Decke. Darauf stehen Teller und Gläser, als wäre alles für ein Festmahl vorbereitet. Aber die Teller sind leer.„Hola! Bienvenido a mi casa!“ Eine Stimme aus dem Nichts. Ich drehe mich um, aber da ist niemand. „Setz dich, iss mit mir.“Ich setze mich auf einen der Stühle am Tisch. Die Lehne ist unbequem, drückt gegen meinen Rücken wie ein stumpfer Dorn. Vor mir erscheint ein Teller mit Essen. Paella, garniert mit Muscheln und Garnelen. Der Duft steigt mir in die Nase, salzig und würzig. Mein Magen knurrt.„Iss“, sagt die Stimme wieder. „Es wird kalt.“
Ich nehme die Gabel, die neben dem Teller liegt. Sie fühlt sich schwer an, als wäre sie aus Blei. Ich steche in den gelben Reis, führe ihn zum Mund. Er schmeckt nach nichts. Ich kaue und kaue, aber es ist, als würde ich Papier essen. Ich schlucke trotzdem.„Schmeckt es dir nicht?“ Die Stimme klingt enttäuscht. „Ich habe den ganzen Tag gekocht.“
„Doch, es ist gut“, lüge ich und stecke mir noch eine Gabel in den Mund. Diesmal schmeckt es nach Asche.
Der Raum beginnt sich zu verändern. Die roten Tücher an den Wänden bewegen sich, als würde ein Wind durch den Raum wehen. Aber ich spüre keinen Luftzug. Die Tücher lösen sich von den Wänden, schweben durch den Raum wie Quallen im Meer. Einer streift mein Gesicht, feucht und warm wie eine Zunge.
„Wir haben nicht viele Besucher hier“, sagt die Stimme. Sie kommt jetzt von überall und nirgendwo. „Die meisten finden den Weg nicht.“
„Welchen Weg?“, frage ich und versuche, die schwebenden Tücher zu ignorieren.„Na, den Weg hierher. Zu uns. Ins Innere.
„Das Licht im Raum wird schwächer. Die Kerzen auf dem Tisch flackern und erlöschen eine nach der anderen. Bald sitze ich fast im Dunkeln. Nur ein schwacher roter Schein bleibt, wie von einer weit entfernten Glut.
„Ich sollte gehen“, sage ich und stehe auf. Der Stuhl knarrt unter mir.
„Aber du bist doch gerade erst gekommen“, sagt die Stimme. „Und du hast noch nicht alles probiert.
„Auf dem Tisch erscheinen neue Teller. Einer mit dunklen Oliven, glänzend vor Öl. Ein anderer mit dünn geschnittenem Schinken, so dünn, dass man durch die Scheiben hindurchsehen kann. Ein dritter mit kleinen gebratenen Fischen, deren Augen wie schwarze Perlen glänzen.
„Du musst essen“, beharrt die Stimme. „Sonst wirst du zu schwach für die Reise.“
„Welche Reise?“„Die Reise zurück, natürlich.“Ich setze mich wieder, nehme eine Olive. Sie platzt zwischen meinen Zähnen, bitter und salzig zugleich. Der Geschmack breitet sich in meinem Mund aus wie eine Welle. Ich nehme noch eine, dann noch eine. Jede schmeckt intensiver als die vorherige. Die letzte schmeckt nach Meerwasser und Sand .
Plötzlich wird mir kalt. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme. Der Raum wird immer dunkler, die Wände scheinen näher zu kommen. Die schwebenden Tücher kreisen jetzt schneller, wie in einem stummen Tanz. Sie streifen immer wieder mein Gesicht, meinen Hals. Es fühlt sich an, als würden sie mich streicheln, aber nicht auf eine angenehme Art.
„Ich muss wirklich gehen“, sage ich und stehe wieder auf. Diesmal bleibe ich stehen.
„Niemand geht“, flüstert die Stimme direkt in mein Ohr. „Nicht, bevor er alles probiert hat.“Ich schlucke. Mein Mund ist trocken, obwohl ich gerade die saftigen Oliven gegessen habe. Auf dem Tisch erscheint ein neuer Teller. Darauf liegt etwas, das aussieht wie ein Stück Fleisch. Es pulsiert leicht, als würde es atmen.
„Was ist das?“, frage ich, obwohl ich die Antwort nicht wirklich hören will.„Das letzte Gericht“, sagt die Stimme. „Das Wichtigste.“Ich schaue auf das pulsierende Fleisch. Es ist rot und feucht, wie etwas Lebendiges. Ich kann nicht… ich will nicht…„Nur ein Bissen“, drängt die Stimme. „Nur ein kleiner Bissen.“Ich schüttele den Kopf und trete vom Tisch zurück. Die schwebenden Tücher kommen näher, wickeln sich um meine Arme, meine Beine. Sie fühlen sich nicht mehr wie Stoff an, sondern wie klebrige Fäden. Ich versuche, mich zu befreien, aber sie halten mich fest.
„Nur ein Bissen“, wiederholt die Stimme, lauter jetzt. „ES IST DOCH NUR EIN BISSEN!“Mit einem Ruck reiße ich mich los und renne zum Ausgang. Der Gang mit den Zähnen ist verschwunden. Stattdessen sehe ich eine Treppe, die nach unten führt. Ich nehme zwei Stufen auf einmal, stolpere, falle fast. Die Stimme hinter mir schreit etwas, aber ich verstehe die Worte nicht mehr.Die Treppe scheint kein Ende zu nehmen. Ich laufe und laufe, meine Lunge brennt. Die Stufen werden schmaler, rutschiger. Es ist, als würde ich auf feuchtem Moos laufen. Meine Füße finden kaum Halt.
Dann plötzlich ist da keine Treppe mehr. Ich trete ins Leere und falle. Der Fall dauert ewig und keinen Augenblick zugleich. Ich spüre, wie mein Magen sich zusammenzieht, wie die Luft aus meiner Lunge gepresst wird. Ich schreie, aber kein Laut kommt aus meinem Mund.Ich lande auf Sand. Weicher, warmer Sand, der unter meinem Gewicht nachgibt. Ich liege auf dem Rücken und schaue in den Himmel. Er ist nicht mehr blau, sondern orange und rosa, wie bei einem Sonnenuntergang. Die Luft riecht nach Salz und Algen. Ich höre das Rauschen von Wellen.Ich setze mich auf und sehe das Meer vor mir. Es ist ruhig, fast spiegelglatt. Die untergehende Sonne wirft einen goldenen Pfad über das Wasser, direkt auf mich zu. Als würde sie mir einen Weg zeigen.
Hinter mir raschelt etwas. Ich drehe mich um und sehe eine Reihe von Dünen. Dahinter erkenne ich das Dach eines Hauses. Der Sand unter meinen Händen fühlt sich real an, körnig und warm. Ich lasse ihn durch meine Finger rieseln und beobachte, wie er zurück auf den Boden fällt.Ich stehe auf und klopfe den Sand von meiner Kleidung. Meine Hose ist nass am Saum, als hätte ich im Wasser gestanden. Aber ich erinnere mich nicht daran. Ich gehe ein paar Schritte auf das Meer zu. Das Wasser ist klar, ich kann den Grund sehen, kleine Fische, die zwischen den Steinen hindurchhuschen. Ein Krabben läuft seitwärts über den Sand, verschwindet in einem Loch.
Die Sonne sinkt immer tiefer, taucht alles in ein goldenes Licht. Der Himmel färbt sich dunkler, erste Sterne erscheinen. Es ist friedlich hier, ruhig. Kein Vergleich zu dem seltsamen Haus mit dem pulsierenden Fleisch und der unheimlichen Stimme.Ich setze mich wieder in den Sand und schaue aufs Meer hinaus. Weit draußen sehe ich ein Boot. Es bewegt sich kaum, als würde es auf der Stelle treiben. Ich kann nicht erkennen, ob jemand darauf ist. Es ist nur eine dunkle Silhouette gegen den leuchtenden Himmel.
Der Wind frischt auf, bringt den Geruch von gegrilltem Fisch mit sich. Mein Magen knurrt wieder. Ich habe Hunger, richtigen Hunger, nicht diese seltsame Leere von vorhin. Ich stehe auf und gehe in Richtung der Dünen, auf das Haus zu.Je näher ich komme, desto deutlicher wird das Haus. Es ist größer als ich dachte, zweistöckig, mit einer Terrasse, die zum Meer hin ausgerichtet ist. Auf der Terrasse steht ein Tisch, gedeckt für eine Person. Eine Kerze flackert im Wind, wirft tanzende Schatten. Daneben steht ein Teller mit Essen. Ich kann Fisch erkennen, Kartoffeln, ein Glas Wein.
Ich gehe die Stufen zur Terrasse hinauf. Der Tisch ist für mich gedeckt, das weiß ich irgendwie. Ich setze mich und probiere den Fisch. Er schmeckt köstlich, frisch und zart, mit Zitrone und Knoblauch gewürzt. Der Wein ist kühl und fruchtig, prickelt leicht auf der Zunge.Während ich esse, beobachte ich den Sonnenuntergang. Die letzten Strahlen verschwinden am Horizont, hinterlassen einen purpurnen Schimmer. Die Nacht bricht herein, aber es ist nicht vollkommen dunkel. Der Mond steht groß und rund am Himmel, wirft sein silbriges Licht über das Wasser.
Nach dem Essen bleibe ich sitzen, genieße die Ruhe. Aus dem Inneren des Hauses dringt leise Musik. Eine Gitarre, ein melancholisches Lied. Ich kenne die Melodie, aber der Name will mir nicht einfallen. Es ist, als würde sie aus einer anderen Zeit zu mir herüberwehen.
Die Tür zum Haus steht offen. Ein warmer Lichtschein dringt nach draußen. Ich stehe auf und gehe hinein. Der Raum ist gemütlich eingerichtet, mit bequemen Sesseln und einem Kamin, in dem ein kleines Feuer knistert. An den Wänden hängen Bilder von Landschaften, von Meer und Bergen.
Auf einem Tisch in der Ecke liegt ein aufgeschlagenes Buch. Ich gehe hin und schaue auf die Seiten. Die Schrift verschwimmt vor meinen Augen, formt sich neu. Es sind keine Worte mehr, sondern Bilder. Bilder von mir, wie ich durch den Markt laufe, wie ich in dem seltsamen Haus sitze, wie ich am Strand stehe. Es ist, als würde das Buch meine Geschichte erzählen, während ich sie erlebe.Ich blättere um. Die nächste Seite ist leer. Ich blättere weiter, aber alle folgenden Seiten sind leer. Als würde die Geschichte hier enden oder als wäre sie noch nicht geschrieben.
Ein Geräusch lässt mich aufschrecken. Es klingt wie das Kratzen von Krallen auf Holz. Ich drehe mich um, aber da ist nichts. Der Raum ist leer, bis auf die Möbel und mich. Das Feuer im Kamin flackert, wirft unruhige Schatten an die Wände.Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus. Der Mond steht jetzt höher am Himmel, sein Licht fällt direkt auf das Boot, das ich vorhin gesehen habe. Es ist näher gekommen, liegt jetzt direkt vor dem Strand. Und jetzt kann ich sehen, dass jemand darauf steht. Eine Gestalt, die zu mir herüberschaut. Sie hebt die Hand, winkt mir zu.Mein Herz schlägt schneller. Ich kenne diese Gestalt. Oder sollte sie kennen. Es ist jemand, den ich einmal gekannt habe, vor langer Zeit. Aber ich kann mich nicht an den Namen erinnern.
Ich wende mich vom Fenster ab und gehe zur Treppe, die nach oben führt. Ich steige die Stufen hinauf, langsam, eine nach der anderen. Oben ist ein langer Flur mit mehreren Türen. Alle sind geschlossen bis auf eine am Ende des Ganges. Dahinter ist ein Schlafzimmer mit einem großen Bett. Die Decke ist zurückgeschlagen, als würde jemand auf mich warten.Ich setze mich auf die Bettkante. Die Matratze gibt nach, weich und einladend. Ich bin müde, so müde. Der Tag war lang und seltsam. Ich lege mich hin, ziehe die Decke über mich. Sie riecht nach Lavendel und Sonne, als hätte jemand sie draußen trocknen lassen.Meine Augen fallen zu. Ich versinke in den Kissen, spüre, wie die Müdigkeit mich übermannt. Fast bin ich eingeschlafen, da höre ich wieder dieses Kratzen. Diesmal lauter, näher. Es kommt von unter dem Bett.Ich will aufstehen, nachsehen, aber ich kann mich nicht bewegen. Mein Körper ist schwer wie Blei. Das Kratzen wird lauter, dringlicher. Dann höre ich ein leises Wimmern, wie von einem Tier.
Mit letzter Kraft hebe ich den Kopf und schaue über die Bettkante. Unter dem Bett ist es dunkel, aber ich kann etwas sehen. Zwei Augen, die zu mir hochstarren. Sie leuchten grün im Mondlicht, das durchs Fenster fällt.
„Wer bist du?“, flüstere ich.Die Augen blinzeln, verschwinden kurz, tauchen wieder auf. Dann kriecht etwas unter dem Bett hervor. Es ist eine Katze, schwarz wie die Nacht, mit einem weißen Fleck auf der Brust.
„Miau“, macht sie und springt auf das Bett, rollt sich neben mir zusammen. Ihr Fell ist warm und weich. Sie fängt an zu schnurren, ein beruhigendes, rhythmisches Geräusch.
Ich lege meine Hand auf ihren Rücken, spüre, wie sie sich unter meiner Berührung entspannt. Meine Angst verfliegt, macht Platz für eine tiefe Ruhe. Die Katze schmiegt sich enger an mich, ihr Schnurren wird lauter. Es ist das letzte, was ich höre, bevor ich einschlafe.Und dann träume ich. Ich träume von Märkten und Häusern und Stränden. Von Booten und Katzen und Menschen ohne Namen. Von Tischen voller Essen und leeren Tellern. Von roten Tüchern, die durch die Luft schweben. Von Treppen, die nach unten führen, immer weiter nach unten. Und von einem Buch, dessen letzte Seiten noch leer sind. Wartend darauf, beschrieben zu werden.