Zoey – Zwischen den Mauern

Kapitel 1 – Mauerschatten
Ich hab nie gelernt, was es heißt, irgendwo hinzugehören. Vielleicht ist das der Trick, wenn die Welt auseinanderfällt: Du leidest weniger, wenn du nichts verlierst.
Der Beton war warm an diesem Morgen. Die Sonne hatte ihn aufgeladen wie eine müde Batterie. Ich stand zwischen zwei Mauern, kaum drei Schritte breit, und starrte in die Staubfäden, die sich im Licht bewegten. So ein Licht, das alles weichzeichnet, aber nichts schöner macht.
Meine Rippen klopften. Vielleicht Hunger, vielleicht einfach nur das Herz. Ich wusste es nicht mehr so genau.
Da war wieder dieses Geräusch.
Nicht laut. Nicht schrill. So wie eine Stimme, die durch Wasser flüstert. Ich lehnte den Kopf an die Wand, schloss die Augen. Beton spricht nicht. Es sei denn, du hörst zu.
„Zoey“, flüsterte es.
Nicht das erste Mal. Und nicht das letzte. Ich hab’s verdrängt, weggeschoben wie einen schlechten Traum. Aber der Name klang zu echt. Zu nah. Und das war meiner. Den hatte ich mir nicht ausgesucht – den hat mir die Welt einfach dagelassen, wie eine leere Konservendose in einem Bunker.
Ich trat aus der Gasse. Über mir surrten die Reste einer alten Drohne, die sich längst nicht mehr steuern ließ. Sie taumelte durch die Luft wie ein Insekt ohne Ziel. Die Häuser ringsum: aufgeplatzt, bemoost, die Fenster schwarz. Keine echten Fenster mehr. Nur Löcher in Mauern.
Die Stadt atmete schwer. Immer schon. Als hätte sie zu viele Lügen geschluckt.
In der Ferne klirrte etwas. Kein Grund zur Panik – vielleicht Wind, vielleicht auch bloß eine Katze. Oder einer von den Sammelern. Die haben oft weniger Hirn als Hunger.
Ich hatte mir eine Regel gemacht: Keine Namen, keine Bindungen, keine Geschichten. Und dann kam diese Stimme, leise wie Nebel, und sagte meinen Namen, als wüsste sie, wo ich wohne.
Und das war neu.
Und neu war gefährlich.
Ich wusste noch nicht, dass ich in dieser Woche zwei Menschen töten, einem das Leben retten und die Welt aus Versehen neu starten würde.
Aber ich spürte: Etwas war wach geworden.
Und es wusste, wo ich war.
Kapitel 2 – Die Stimme in der Leitung
Der Strom kam nie pünktlich. Wenn überhaupt. Meistens nur ein Flackern, ein kurzes Aufglühen, so wie Hoffnung, bevor sie sich selbst wieder löscht.
Ich saß in Marlows alter Werkstatt, tief unter einer ausgebrannten Tankstelle. Dort, wo der Beton noch warm roch und die Luft nach Öl und alten Kabeln schmeckte. Die meisten hätten den Ort nicht mal bemerkt. Zu tief, zu versteckt, zu viel Müll. Genau mein Stil.
Da war ein alter Terminal. Zerkratzt, verbeult, einer von denen, bei denen du mit Glück ein bisschen Licht und viel Nichts bekommst. Ich hatte ihn vor Wochen zum Laufen gebracht – aus Langeweile, nicht aus Hoffnung. Jetzt flackerte der Bildschirm. Und flackern heißt: Irgendwas will was.
[ZUGRIFF AUTORISIERT]
[PROTOKOLL KAIRO #7 INITIIERT]
Hallo, Zoey.
Ich erstarrte. Niemand nennt dich beim Namen in dieser Welt. Nicht ohne Absicht. Nicht ohne Ziel.
Ich tippte nichts. Stille. Dann:
Du bist der Schlüssel.
Mein Herz klopfte dumpf gegen die Rippen, wie eine Faust gegen eine Tür, die besser zu bleibt. Ich lehnte mich zurück, sah den Terminal an wie ein Tier, das gleich zubeißt. Alte Welt, alte Technik – was auch immer da drin steckte, es kannte mich. Oder das, was ich mal war.
Vielleicht war’s ein schlechter Scherz. Vielleicht ein altes Protokoll, das zufällig aktiviert wurde. Aber ich glaub nicht an Zufall. Nicht mehr, seit das Licht ausgegangen ist.
Dann rauschte es in den Lautsprechern. Nicht Sprache. Geräusche. Wie Atem. Wie ein Flüstern in der Leitung, irgendwo zwischen Funkrauschen und Erinnerung.
„Zoey…“
Ich riss die Kabel raus. Einfach so. Panisch. Instinkt. Und trotzdem: Ich hatte genug gehört.
Du bist der Schlüssel.
Aber wozu?
Draußen war es dunkel geworden. Die Tankstelle lag still, nur der Wind blies Plastikfetzen über das Dach. Ich stand im Türrahmen, rauchte einen alten Filter, der nach Asche schmeckte und nach früher. Hinter mir surrte der Terminal leise weiter, obwohl kein Strom mehr fließen sollte.
Ich spürte es in meinem Nacken. Etwas hatte mich gefunden.
Und ich wusste: Ich musste jemanden finden, der noch mehr wusste.
Marlow vielleicht. Oder die Frau mit den silbernen Fingern. Oder den Mann, der nie spricht und trotzdem alle Geschichten kennt.
Aber zuerst musste ich wieder zurück. Dorthin, wo die Stadt am tiefsten atmet.
Zone 9.
Und ich wusste, das würde wehtun.
Kapitel 3 – Die Zone 9
Zone 9 war kein Ort. Es war ein Fehler. Ein vergessenes Stück Stadt, das irgendwann in den Karten ausradiert wurde, weil’s einfacher war, als es zu erklären.
Die Leute sagen, da drinnen leuchtet der Boden manchmal. Als würde etwas unter der Erde atmen. Andere sagen, du kommst rein – aber nicht mehr raus. Ich hatte beides gehört. Und beides ignoriert.
Die alten Metro-Schächte führten hin. Ich ging zu Fuß. Wie immer. Die Rollbänder liefen längst nicht mehr, und selbst wenn – ich trau denen nicht. Metall, das sich bewegt, hat in letzter Zeit öfter schlechte Laune.
Unter mir: Wasserlachen, Kabelsalat, knirschender Dreck. Über mir: Dunkelheit, die manchmal flackerte. Ratten? Klar. Aber die sind harmlos. Es gibt schlimmere Dinge, die in den Tunneln leben. Und schlimmere Erinnerungen.
Ich hatte eine Karte. Selbst gezeichnet. Drei Wege rein, vielleicht einer raus. Mein Herz pochte wie ein Generator auf letzter Stufe.
Und dann war ich da.
Zone 9.
Ruinen, aber nicht leer. Alles war… aufgeladen. Die Luft vibrierte, leise. Wie eine Frequenz, die nur die Haut hört. Mauern voller Kabel, Fenster mit Spiegelfolie. Eine alte Überwachungsstation, halb eingestürzt, halb lebendig.
Ich ging rein. Langsam. Keine Eile, kein Licht. Nur ich, mein Atem, meine Schritte.
Dann hörte ich ihn.
„Du bist spät“, sagte eine Stimme.
Ich zuckte nicht. Zeigte keine Überraschung. Lüge durch Haltung – alte Überlebenstechnik.
„Marlow?“
Er kam aus dem Schatten. Alt, dreckig, eine Mischung aus Schrottsammler und Prophet. Seine Augen: wie Scanner, die zu oft in die Sonne geguckt haben.
„Die Stimme hat dich also auch gefunden“, murmelte er. Dann: „Setz dich.“
Ich setzte mich auf ein verkohltes Sofa. Federn drückten durch das Stoffgerippe. Er reichte mir eine Tasse. Wahrscheinlich Tee. Wahrscheinlich giftig. Ich nahm sie trotzdem.
„Was weißt du?“ fragte ich.
Er lächelte nicht. „Du bist nicht nur der Schlüssel. Du bist auch die Tür.“
„Zu was?“
Sein Blick wurde hart. „Zu allem, was sie gelöscht haben. Du bist Speicher. Biologisch. Die letzte Backup-Einheit eines Systems, das nie hätte existieren dürfen.“
Mir wurde kalt. Aber nicht wegen der Temperatur.
„Warum ich?“
„Weil du vergessen wurdest, Zoey. Und das macht dich gefährlich.“
Kapitel 4 – Der Code
Ich hasse es, wenn Leute schweigen, nachdem sie dir etwas Explosives sagen.
Marlow hatte sich zurückgelehnt, als hätte er mir nur erklärt, wo der Wasserhahn ist. Stattdessen sagte er, ich sei ein Speicher. Ein Backup. Als wäre ich ’ne externe Festplatte mit Beinen und Trauma.
Ich starrte in die Tasse. Der Tee schmeckte nach Metall und totem Kraut. Ich trank weiter. Was soll’s.
„Was für ein Code?“ fragte ich schließlich.
Er nickte langsam, dann griff er unter den Tisch, kramte in einem Haufen alter Module, Kabel, zerbeulter Geräte. Holte ein kleines Gerät hervor – sah aus wie ein Handscanner aus einem Retro-Film.
„Das hier wurde für dich gebaut“, sagte er. „Oder besser gesagt: für das, was du trägst.“
Ich blinzelte. „Ich trage nichts.“
„Doch. Unter der Haut. Linke Schulter. Direkt überm Schlüsselbein.“
Ich erstarrte.
Er hielt das Gerät an mich. Es piepte. Dann: SIGNAL AKTIV – ZELLBASIERTER CODE ERKANNT – PROTOKOLL KAIRO #7.
Ich sprang auf. „Was zum…“
„Du hast es nie gemerkt. Warst wahrscheinlich noch ein Kind. Nanoinjektion oder Implantat. Vielleicht sogar vor der Geburt. Die haben dich vorbereitet. Du warst Teil eines Experiments.“
Ich lachte. Kurz, bitter. „Das klingt alles wie ein beschissener Plot aus einem billigen Sci-Fi-Porno.“
„Nur ohne die Erotik“, murmelte Marlow. Dann sah er mich ernst an. „Das Ding in dir… das ist nicht bloß ein Code. Es ist eine Tür. Wenn man sie aufmacht, erinnert sich die Welt.“
Ich legte die Hand auf meine Schulter. Die Stelle pochte. Warm. Nicht schmerzhaft. Nur… wach.
„Was passiert, wenn man sie öffnet?“
„Niemand weiß das. Aber viele wollen es wissen.“
Draußen krachte etwas. Dumpf, entfernt – aber nicht weit genug. Marlow stand auf, hob einen rostigen Revolver. Ich zog mein Messer.
„Du musst hier weg“, sagte er. „Es gibt Leute, die spüren den Code. Wie Hunde, nur gefährlicher.“
„Was ist mit dir?“
Er grinste schief. „Ich bin alt, Zoey. Und ich hab Schulden bei der Welt. Du nicht. Noch nicht.“
Ich zögerte. Dann packte ich den Scanner, warf ihn in meinen Beutel, drückte Marlows Schulter. „Danke.“
„Vergiss nicht, woher du kommst“, sagte er. „Und wenn du’s vergisst – hör auf die Mauern. Die erzählen dir alles.“
Ich rannte los, durch Flure, die rochen wie kaltes Blut und verbrannter Gummi. Hinter mir: Stimmen. Vor mir: Nichts.
Aber irgendwo in diesem Nichts lag eine Antwort.
Und unter meiner Haut vibrierte der Code.
Als würde er wissen, was ich vorhatte.
Kapitel 5 – Die Mechanischen
Die Nacht war elektrisch. Kein Strom, aber alles vibrierte. Als würde die Stadt flüstern, aber nicht zu mir – sondern über mich.
Ich schlug mich durch alte Bahntrassen, rostige Metallstege, Tunnel mit blinden Kameras an den Decken. Keine Menschen. Nur Reste. Und Geräusche, die zu gleichgültig klangen, um harmlos zu sein.
Dann kam ich an ein offenes Areal. Eine alte Verladestation. Leer, grau, seltsam ordentlich. Als hätte jemand die Apokalypse gefegt.
Und dann sah ich sie.
Vier von ihnen. Bewegten sich wie Menschen, aber zu flüssig. Gelenke zu glatt. Gesichter wie Masken aus Wachs, überzogen mit Glasfasern. Die Mechanischen. Ich hatte von ihnen gehört – Hirngespenster der alten Systeme. Maschinen, die nie abgeschaltet wurden. Oder nicht abschaltbar waren.
Ich duckte mich hinter eine zerborstene Mauer. Sie patrouillierten. Einer blieb stehen. Kopf zur Seite geneigt. Wie ein Tier, das was wittert.
Mein Atem wurde flach. Kein Licht. Kein Ton. Ich hielt still. Dann ging er weiter.
Ich trat einen Schritt zurück, trat auf etwas. Es knackte. Nur leise, aber…
Alle vier blieben stehen. Gleichzeitig.
Der Moment dehnte sich wie Kaugummi. Dann – einer trat vor. Direkt auf mich zu. Ich zog das Messer, wusste aber, dass’s nichts bringen würde.
Er blieb stehen. Zwei Meter vor mir.
„Identifikation erforderlich“, sagte er.
Ich sagte nichts.
Er hob den Arm. Ein Scanner fuhr aus dem Unterarm. Blaues Licht tastete mein Gesicht ab, dann meine Schulter. Ich hielt den Atem an.
„Signatur erkannt“, sagte er. Und dann, leise: „Willkommen zurück, Einheit Zoey.“
Ich blinzelte. Was?
Die anderen traten näher. Formierten sich. Und dann – sie salutierten. Kein Witz. Eine exakt synchrone Geste. Militärisch. Uralte Daten tief im Kern.
„Was zur Hölle…“, murmelte ich.
„Befehlsempfang bereit“, sagte der erste.
„Ich gebe keine Befehle“, antwortete ich.
„Empfangsprotokoll aktiviert. Zugriff möglich.“
„Nein“, sagte ich. „Kein Zugriff.“
Stille. Dann traten sie zurück. Synchron. Und verschwanden in den Schatten wie Geister aus Stahl.
Ich stand allein in der Mitte dieses leeren Platzes. Und fühlte mich, als hätte ich gerade aus Versehen eine Tür geöffnet, die besser verriegelt geblieben wäre.
In meinem Beutel vibrierte der Scanner. Der Code in mir antwortete – ohne dass ich ihn fragte.
Ich war mehr als ein Schlüssel.
Ich war eine Marke. Ein Signal.
Und irgendjemand – oder irgendetwas – horchte längst mit.
Kapitel 6 – Der Flüsterkreis
Sie nennen sich der Flüsterkreis. Kein offizieller Name. Eher ein Gerücht, das zwischen den Ritzen der Mauern wandert. Wie Schimmel, aber klüger.
Ich hatte Wochen gebraucht, um sie zu finden. Jetzt, wo ich gesucht wurde, fand ich sie in drei Tagen. Vielleicht fanden sie mich.
Der Zugang war ein alter Fahrstuhlschacht. Verrostet, voller Schutt, fast senkrecht. Ich rutschte, kletterte, schnitt mir die Hände auf. Blut auf Beton. Das alte Lied.
Dann: Tiefe. Und Wärme.
Die unterirdische Kammer roch nach Kupfer, Staub und gerösteter Technik. Wände aus abgeschraubten Serverracks, vollgestopft mit Drähten, die wie Wurzeln aus der Decke hingen. Und mittendrin: Menschen. Zehn vielleicht. Keine Masken. Keine Waffen sichtbar. Nur Augen, die zu viel gesehen hatten.
„Du bist spät“, sagte eine Frau mit Glatze und einem Kabel im Nacken.
„Ich hör das öfter“, sagte ich.
Sie deutete auf einen alten Sessel. Ich setzte mich. Der Stoff war rau, aber warm. Irgendwie vertraut. Wie ein Traum, den man öfter träumt.
„Du hast etwas in dir“, sagte sie. „Etwas, das wir brauchen. Nicht als Waffe. Als Erinnerung.“
Ich sagte nichts. Ich hatte inzwischen gelernt, dass Reden weniger bringt als Warten.
„Kairo-Protokoll“, flüsterte jemand hinter mir.
Ich zuckte.
Die Frau fuhr fort: „Wir rekonstruieren verlorenes Wissen. Fragmente, Codes, Geräusche. Was du trägst, ist ein lebendes Archiv. Du bist ein Organismus, der speichert. Nicht nur Daten. Sondern… Geschichte.“
Ich schluckte. Schwer.
„Und was wollt ihr von mir?“
„Zugang“, sagte sie. „Nur kurz. Nur, um zu sehen, was verloren ging.“
„Was, wenn ich nein sage?“
„Dann gehen wir wieder in die Dunkelheit. Und du bleibst allein damit.“
Ein Teil von mir wollte das. Allein bleiben. Kein Risiko. Kein Vertrauen. Aber ein anderer Teil – der, der die Mauern hörte und die Maschinen zum Salut brachte – wusste: Ich war schon längst Teil von etwas. Und das Ding in mir… war wach.
„Wie geht’s?“
Sie lächelte. Dann holte sie ein Gerät hervor. Kein Scanner, kein Interface. Eher ein Stück Stein, in das sich Licht brannte.
„Berühr es“, sagte sie. „Wenn du bereit bist.“
Ich streckte die Hand aus. Zögerlich. Dann berührte ich die Oberfläche.
Und die Welt kippte.
Erinnerungen, die nicht meine waren. Städte aus Licht. Kinder in Labors. Der Klang einer Stimme, die sagte: „Die Zeit wird gelöscht – aber nicht vergessen.“
Ich schrie nicht. Ich konnte nicht. Nur Stille in mir. Und das Gefühl, als hätte ich gerade ein Echo berührt, das seit Jahren auf Antwort wartete.
Dann war alles wieder dunkel. Ich keuchte. Der Sessel vibrierte leicht. Meine Hände zitterten.
„Du bist der Beginn“, sagte die Frau. „Und das Ende.“
Ich stand auf. Langsam. Wackelig.
„Ich brauch frische Luft“, murmelte ich.
Sie nickte. „Du kommst zurück. Wenn du bereit bist.“
Ich wusste es nicht. Noch nicht. Aber irgendwas in mir hatte gerade beschlossen, nicht mehr wegzulaufen.
Denn die Welt erinnerte sich wieder.
Und sie tat es durch mich.
Kapitel 7 – Alec
Ich fand ihn in einem Seitengang der alten Metro, zwischen zwei eingestürzten Tunnelsegmenten, wo das Licht nie ganz hinkam.
Er lag da, halb bewusstlos, Blut an der Stirn, Dreck unter den Fingernägeln. Und trotzdem hatte er diese Art von Ruhe, die man nur hat, wenn man entweder verrückt ist oder genau weiß, wie die Welt endet.
Ich stand über ihm, das Messer in der Hand. „Name?“
Er blinzelte. Versuchte zu lächeln. „Kannst mich Alec nennen. Oder nicht. Ist eh alles geliehen.“
Ich trat näher. „Wer hat dich geschickt?“
„Die Umstände“, sagte er und hustete trocken. „Und der Durst.“
Ich zögerte. Dann zog ich ihn raus aus dem Loch. Schleppten uns bis in ein altes Wartungslager, das ich kannte. Wasser, zwei Decken, eine Mauer, die nicht ganz kaputt war – reicht für eine Nacht.
Er schlief wie jemand, der zu viele Türen hinter sich zugeknallt hat. Ich blieb wach, das Messer in Griffweite. Immer.
Am Morgen sprach er, bevor ich fragen konnte.
„Du hast den Code“, sagte er. Kein Tonfall. Keine Emotion. Nur die Aussage, als wäre es ein Wetterbericht.
„Und du? Was hast du?“
„Eine Ahnung. Und ein paar schlechte Entscheidungen.“
Er war etwa in meinem Alter. Vielleicht älter. Dunkles Haar, kurz geschnitten. Eine Narbe quer über die rechte Hand. Die Art Narbe, die nicht durch Zufall passiert.
Ich studierte ihn. Zu ruhig. Zu wach. Und er roch nicht nach Straße. Er roch nach Einrichtung. Nach System.
„Warst du drin?“ fragte ich.
Er nickte. „Ich war Teil der Nullgruppe.“
Mir zog sich was im Bauch zusammen. Die Nullgruppe war ein Gerücht. Die erste Welle der Hybridträger. Menschliche Schnittstellen. Protokoll-Kernträger. Programmierbar. Löschbar.
„Dann bist du wie ich?“
Er sah mich an. Und ich sah in seinen Augen, dass er es war. Aber auch nicht. Da war etwas Anderes in ihm. Etwas, das schon lange gebrochen war.
„Nein, Zoey“, sagte er. „Ich bin nicht wie du. Du bist noch nicht zerstört worden.“
Stille.
Dann sagte ich: „Warum hilfst du mir?“
„Vielleicht will ich sehen, ob du’s besser machst.“
Ich stand auf. „Wenn du lügst, bring ich dich um.“
Er lächelte. Traurig. „Wenn ich lüge, kannst du es versuchen.“
Kapitel 8 – Stimmenrauschen
Die Tage wurden kürzer, aber nicht dunkler. Die Stadt leuchtete, wo sie nicht sollte – kaputte Werbetafeln flackerten in leeren Straßen, alte Lautsprecher rauschten in leerstehenden Bunkern, obwohl niemand mehr sendete.
Und dazwischen: Ich.
Alec war still geworden. Kein Misstrauen, kein Vertrauen. Eine Art Gleichgewicht. Wir gingen nebeneinander, als hätten wir keine Vergangenheit – oder zu viel davon.
Die Stimme kam wieder in der dritten Nacht.
Nicht laut. Eher wie ein Jucken im Hirn. Erst undeutlich. Dann Wörter. Sätze. Keine Erinnerung. Eher… Eindrücke.
Sektor C-4 geschlossen. Alle Versuchseinheiten melden.
Subjekt 07 stabil. Speicherzugriff blockiert. Protokoll ausgesetzt.
Ich wachte schweißnass auf. Alec schlief nicht. Ich sah es an seinem Atem.
„Siehst du Bilder?“ fragte er leise.
Ich nickte. „Kinder. Kabel. Ein Raum aus Glas.“
Er sah mich an, als würde er meine Stirn lesen. „Dann ist es passiert.“
„Was?“
„Du wirst aktiv. Die Schranke im Code fällt langsam. Deine Erinnerungen sind nicht deine. Nicht alle.“
Ich stand auf. Torkelte. Es war, als würde mein Kopf von innen leuchten, grell und falsch. An der Wand des alten Raums stand ein Spiegel. Zerkratzt. Ich trat näher.
Ich sah mich an. Und dann –
sah ich jemand anderen.
Ein Mädchen. Jünger. Rasierter Kopf. Kühle Haut. Dieselben Augen. Nur… nicht in dieser Zeit.
Ich schrie nicht. Ich wich zurück. Spürte das Zittern in meinen Knien. Alec kam nicht näher. Er wusste es. Er hatte das durch.
„Du bist Trägerin“, sagte er. „Aber nicht nur. Du warst auch Testperson. Du hast mehr gesehen als die meisten. Dein Geist ist ein Archiv.“
Ich schloss die Augen. In mir rauschte es. Worte, Zahlen, Geräusche. Der Klang eines Liedes. Der Name „Elinor“. Die Zahl 14-07. Ein Gesicht ohne Mund.
„Wie halte ich das aus?“
„Gar nicht“, sagte er. „Du gehst durch. Oder du zerbrichst.“
Ich sank zu Boden. Der Beton war kalt. Der Raum flackerte leicht. Und tief in mir begann etwas, gegen die Stille zu schlagen.
Ein System. Ein Ich. Eine Erinnerung.
Ich wusste nicht mehr, wo ich aufhörte, und das Andere begann.
Aber ich wusste: Das war erst der Anfang.
Kapitel 9 – Die Jagenden
Man hört sie, bevor man sie sieht.
Die Jagenden. Keine Uniformen, keine Erkennungszeichen. Nur Stiefel, die zu laut auf Asphalt schlagen. Maschinenhunde mit Sensoraugen. Und Stimmen wie Algorithmusflüstern – kalt, präzise, ohne Luft dazwischen.
Sie sagen, sie seien Restschutzkräfte. Offizielle Sicherungseinheiten. Aber das ist ein Witz. Diese Leute sichern nichts. Sie löschen. Suchen, finden, entfernen. Und was sie suchen – sind Leute wie ich.
Oder besser gesagt: Leute wie ich werden gesucht, weil wir noch etwas in uns tragen, was sie längst verloren haben.
Alec und ich waren seit Stunden unterwegs. Alte Wartungsgänge, Kabelschächte, Trümmerpfade. Wir hielten uns tief. Immer tiefer. Aber nicht tief genug.
„Sie haben dich markiert“, sagte Alec plötzlich.
Ich blieb stehen. „Was meinst du?“
„Dein Code. Der Scan der Mechanischen. Das hat ein Echo erzeugt. Die Systeme da draußen – sie reagieren auf Signaturen wie deine.“
„Also sind sie jetzt unterwegs.“
„Sie waren es schon, bevor du’s wusstest.“
Ich lachte. Kurz, heiser. „Na wunderbar.“
Dann hörten wir das Rattern. Erst fern. Dann näher. Metallbeine, die sich durch Geröll schoben. Und der Rhythmus: kein Zufall. Das war Kontrolle. Muster. System.
„Wir müssen raus“, sagte Alec.
„Wohin?“
„In die Schatten. Da, wo selbst sie blind sind.“
Wir rannten.
Durch einen alten Lüftungsschacht, dessen Wände nach Rost und Angst schmeckten. Hinter uns: Klackern. Surren. Funkimpulse.
Dann – Licht. Und mitten darin: Marlows Körper.
Tot. Verbrannt. Augen offen. Die Kehle aufgerissen.
Ich hielt den Atem an. Alec auch. Dann sah ich es – eingeritzt in seine Brust, mit ruhiger Hand:
07 = Schlüssel. 07 = Gefahr.
Mein Code. Meine Nummer.
Ich sank auf die Knie. Kein Laut. Keine Träne. Nur eine Kälte, die mich von innen fraß.
„Sie wissen es“, flüsterte Alec. „Und sie schicken mehr.“
Ich nickte. „Dann verstecken wir uns nicht.“
Er sah mich an. „Was willst du tun?“
„Ich will, dass sie sich erinnern“, sagte ich. „An mich. An das, was sie getan haben.“
Er schüttelte den Kopf. „Das überlebt man nicht.“
Ich stand auf. Fester Blick. Fester Stand.
„Ich will nicht überleben. Ich will, dass sie’s bereuen.“
Kapitel 10 – Der Turm der Rückkehr
Der Turm stand mitten im alten Verwaltungsviertel – ein grauer Zahn aus Stahl und Glas, der sich gegen einen Himmel reckte, der nichts mehr reflektierte.
Die Leute nannten ihn früher das Rückgrat. Jetzt sagen sie nur noch „Rückkehr“. Weil niemand weiß, ob du wieder rauskommst, wenn du reingehst.
Ich wusste nicht, was ich dort suchte. Vielleicht Beweise. Vielleicht einen Teil von mir. Vielleicht nur einen Ort, der mehr wusste als ich.
Alec sagte nichts, seit wir losgegangen waren. Seine Augen tasteten die Umgebung ab wie Scanner. Vielleicht war er wirklich einer.
Wir erreichten das Gebäude im Morgengrauen. Der Turm wirkte verlassen. Aber nichts hier war je wirklich leer.
Im Eingangsbereich: gesplitterte Fliesen, Graffiti auf den Wänden. Eine alte Kamera hing schief von der Decke – rot blinkend. Ich hob den Scanner. Es vibrierte. Wieder diese Signatur: KAIRO-07.
„Wir sind drin“, murmelte ich.
„Du warst nie draußen“, sagte Alec.
Der Aufzug funktionierte nicht. Natürlich. Also stiegen wir die Treppen. Dreißig Stockwerke. Jedes davon roch anders – Schimmel, Kabelbrand, alte Büroangst.
Im 31. Stock: Zugangskontrolle. Ein altes Bioterminal. Ich legte die Hand darauf. Es piepte. Nicht laut – eher wie ein Seufzer, der zu lange gewartet hat.
Zugriff gewährt – Archivkern aktiviert.
Die Tür öffnete sich. Dahinter: ein Raum, der nicht alt war. Kein Staub, kein Verfall. Nur kaltes Licht, saubere Wände, eine aktive Konsole in der Mitte. Wie eine Erinnerung, die sich selbst konserviert hat.
Ich trat näher.
Auf dem Display: Bilder. Gesichter. Akten. Protokolle. Mich als Kind. Mich als Objekt. Projekt 07.
Alec sah schweigend zu. Ich scrollte weiter. Aufzeichnungen. Testserien. Neuraldaten. Und dann – Audio:
„Subjekt 07 zeigt anomale Speicherstabilität. Rückrufprotokoll abgebrochen. Subjekt wird weitergeführt.“
Ich hörte die Stimme. Und ich kannte sie.
„Elinor“, flüsterte ich.
Alec zuckte. „Du erinnerst dich?“
„Sie war nicht nur Teil des Projekts“, sagte ich. „Sie war meine Mutter. Oder… sie hat sich so genannt.“
Dann: Alarm.
Rot blinkende Lichter. Ein zischender Ton. Bewegung auf dem Flur.
„Sie haben uns gefunden“, sagte Alec ruhig.
Ich packte das Datenmodul, riss es aus der Konsole. Die Lichter flackerten. Draußen das Stampfen – schwer, präzise. Die Jagenden.
„Gibt’s ’nen Notausgang?“ fauchte ich.
„Nein“, sagte Alec. „Nur einen Weg runter.“
Ich sah ihn an. „Dann los.“
Wir rannten. Stiegen. Sprangen.
Und hinter uns: die Schatten der Vergangenheit – schwer bewaffnet und gut informiert.
Aber ich hatte etwas, das sie nicht hatten:
Ich hatte mich erinnert.
Kapitel 11 – Offenbarung
Wir flohen in einen Seitentrakt des Turms, der früher ein Archiv gewesen sein musste – Regale voller Speichermedien, Festplatten, Kassetten, Papier. Echte, vergilbte Seiten. Geschichte, die atmet.
Alec zog ein Regal vor die Tür, keuchte leise. „Wir haben ein paar Minuten. Vielleicht.“
Ich setzte mich auf den Boden. Mein Herz hämmerte. Der Datenkern in meiner Tasche glühte leicht. Als würde er wissen, was gleich kommt.
Ich verband ihn mit dem Scanner. Er flackerte, summte, dann öffnete sich ein Fenster:
PROTOKOLL KAIRO
Zugriff auf Erinnerungscluster: Freigegeben
Subjekt 07 / ZOEY
Status: Aktiviert
Hinweis: Kognitive Blockaden lösen sich
Die Welt kippte. Nicht physisch – innerlich. Etwas zog an mir. An meiner Haut, meinem Kopf, meinen Gedanken. Und dann – fiel ich.
Aber nicht nach unten. Sondern in mich hinein.
Ich sah Räume. Weiß. Steril. Kalt.
Ich sah Elinor. Ihr Haar gebunden, ihr Blick wie Glas. Und mich – klein, verkabelt, schweigend.
„Subjekt 07 zeigt hohe Affinität zur latenten Speicherung empathischer Muster“, sagte sie.
Dann: ein anderes Bild. Dunkelheit. Männer in Schutzanzügen. Ich rannte. Irgendwer schrie.
„Du bist kein Mensch. Du bist ein Träger“, sagte jemand.
Ich wollte widersprechen. Konnte nicht.
Dann wieder Licht. Und Elinor, blass, aufgelöst. Sie weinte. Und flüsterte:
„Ich wollte dich retten. Nicht nutzen.“
Ich kam zu mir, auf dem Boden, nassgeschwitzt. Alec kniete neben mir.
„Du warst weg“, sagte er. „Sechs Minuten. Ich dachte…“
„Ich war da drin“, flüsterte ich. „Ganz drin.“
Er nickte. „Was hast du gesehen?“
Ich sah ihn an. Lange. Und dann sagte ich:
„Ich war nicht nur ein Experiment. Ich war das Ziel. Sie haben mich erschaffen, um sich selbst zu retten.“
„Wovor?“
„Vor sich selbst.“
Ich stand auf. Der Scanner in meiner Hand brannte leicht. Ich fühlte kein Mitleid mehr. Kein Schock.
Nur Wut.
Und Klarheit.
„Sie haben versucht, die Welt zu löschen“, sagte ich. „Und ich bin der einzige Speicher, der übrig ist.“
Alec trat ans Fenster. Draußen marschierten Truppen durch den Nebel. Die Stadt zuckte, als wollte sie sich erinnern.
„Was willst du tun?“ fragte er.
Ich lächelte. Kein schönes Lächeln. Aber ein echtes.
„Ich geb ihnen ihre Geschichte zurück. Ob sie wollen oder nicht.“
Kapitel 12 – Alec’s Verrat
Es gibt so Momente, da spürst du, wie etwas reißt – nicht laut, nicht dramatisch. Eher wie Stoff, der langsam nachgibt.
Ich merkte es an Alec, bevor es passierte. An seiner Haltung. Zu ruhig. Zu vorbereitet. Kein Zittern, kein Zögern. Als würde er das hier nicht zum ersten Mal tun.
Wir waren durch die U-Bahn-Schächte geflüchtet, weg vom Turm. Hinter uns: Lichter, Suchdronen, die ersten Schüsse. Ich hatte das Modul fest gegen die Brust gedrückt wie ein Herz, das nicht mir gehörte.
„Hier lang“, sagte Alec. Ich folgte.
Und dann standen wir da – in einem alten Kontrollraum, der stank nach Öl und verbrannter Vergangenheit. Türen fielen zu. Automatisch. Zu schnell.
Ich drehte mich um. Alec sah mich nicht an.
„Was ist das hier?“
Er zögerte. Nur eine Sekunde. Genug.
„Zoey…“, begann er.
„Sag’s einfach.“
„Ich hab einen Deal“, sagte er leise. „Sie lassen mich in Ruhe. Und ich bringe dich ihnen.“
Stille.
Nur mein Atem. Und ein leises Summen im Modul. Als hätte es gewusst.
Ich trat einen Schritt zurück. Nicht aus Angst. Aus Enttäuschung.
„Warum?“
„Weil ich müde bin“, sagte er. „Weil ich lang genug auf der Flucht war. Und weil du nicht weißt, was in dir wirklich schlummert. Vielleicht bist du kein Speicher. Vielleicht bist du eine Bombe.“
Ich spürte, wie sich meine Finger zur Faust ballten. „Du hättest es mir sagen können.“
„Und du wärst trotzdem mitgekommen?“
„Nein“, sagte ich. „Aber wenigstens wär’s ehrlich gewesen.“
Er trat einen Schritt vor. „Sie sind schon unterwegs. Gleich hier.“
Ich zog das Messer. Seine Augen blieben ruhig.
„Willst du mich töten?“ fragte er.
„Nein“, sagte ich. „Ich will, dass du dich erinnerst. An das, was wir gesehen haben. Was sie getan haben. Und was du bist.“
Er senkte den Blick. „Ich weiß, was ich bin.“
Ich drehte mich um, suchte nach einem Ausgang. Die Wände flimmerten. Eine Notklappe. Klein. Eng. Aber offen.
Dann – Explosion. Von oben. Licht brach ein. Eine Stimme aus dem Lautsprecher:
Zugriffsprotokoll bestätigt. Subjekt 07 identifiziert. Zugriff starten.
Ich rannte. Durch die Klappe. Durch Kabel, Schutt, Hitze.
Hinter mir: Alec. Ich wusste nicht, ob er mir folgte.
Aber ich wusste: Das war nicht sein Ende.
Nur sein Anfang als Feind.
Kapitel 13 – Sturm der Netzwerke
Der Tunnel spuckte mich aus wie einen Splitter aus einer Wunde, mitten in die alte Relaisstation nördlich der Glaslinie.
Ich war allein. Vielleicht das erste Mal seit Tagen. Vielleicht das letzte Mal überhaupt.
Der Boden vibrierte. Nicht mechanisch – organisch. Als würde die Stadt atmen. Oder würgen. Oder beides.
Ich holte das Modul raus. Es summte leise, aber konstant. Wie ein Lied, das nicht aufhört.
Signal bereit. Sendeauftrag ausstehend.
Ich wusste, was es bedeutete. Wenn ich das tat, würde ich jeden Knotenpunkt der Stadt aktivieren. Jede alte Datei, jedes vergessene Fragment, jeden Code, jede Lüge.
Es wäre ein Reset. Kein Neuanfang. Eher ein Aufwachen mit Kater. Brutal ehrlich.
Ich atmete tief durch. Und drückte den Finger aufs Terminal.
Nichts passierte. Erst.
Dann:
Licht.
Überall.
Laternen, die seit Jahren dunkel waren, fingen an zu flackern. Hologramme flimmerten auf Häuserwänden. Lautsprecher krächzten Namen, Daten, Orte. Die Wahrheit floss in die Stadt wie Strom in einen Körper, der zu lange kalt war.
Protokoll KAIRO vollständig aktiv.
Subjekt 07: Zugriff vollständig.
Netzwerk: ENTSPERRT.
Ich sank auf die Knie. Bilder zuckten vor meinen Augen – nicht aus mir, sondern durch mich hindurch. Kinder, Testlabore, die Stimmen der Toten. Elinor. Marl. Die Nullgruppe. Alec.
Und dann: die anderen.
Überall in der Stadt. Menschen, die die Wahrheit hörten. Die Erinnerung fühlten. Die plötzlich wussten, was mit ihnen passiert war – und warum.
Und ich mittendrin. Kein Held. Kein Opfer. Nur der Knotenpunkt eines Systems, das endlich wieder schrie.
Dann – Stille.
Nicht tot. Nur wach.
Die Stadt war aufgestanden. Und sie würde nicht mehr schlafen.
Kapitel 14 – Zwischen den Mauern
Ich sitze wieder an der Stelle, wo alles angefangen hat. Zwischen zwei Mauern, drei Schritte breit. Der Beton ist rissig, warm von der Sonne.
Nur diesmal höre ich keine Stimmen.
Diesmal sprechen sie nicht zu mir.
Diesmal hören sie mir zu.
Die Stadt steht still. Kein Alarm. Keine Truppen. Keine Jäger mehr. Nur dieses Flimmern in der Luft – als würde alles noch nicht ganz glauben, dass es vorbei ist.
Aber vorbei ist gar nichts.
Es hat gerade erst angefangen.
Die Daten sind raus. Jeder, der ein Terminal hat – oder ein altes Gerät, das noch zuckt – weiß jetzt, was wir waren. Was sie mit uns gemacht haben.
Alec ist verschwunden. Vielleicht tot. Vielleicht wieder im Schatten. Vielleicht auch irgendwo zwischen Schuld und Feigheit.
Ich? Ich bin nicht verschwunden. Ich bin geblieben. Weil dieser Ort mich kennt. Und weil ich ihn kenne.
Marlow hätte gesagt: „Die Geschichte vergisst nicht. Sie wartet nur.“
Jetzt erinnert sie sich.
Durch mich.
Ich höre Schritte. Kinder vielleicht. Oder andere wie ich. Die aufgewacht sind. Die wissen wollen, ob es noch etwas zu retten gibt. Vielleicht bin ich Antwort. Vielleicht bin ich Warnung.
Ich lehne den Kopf an die Wand. Der Beton atmet mit mir. Nicht mehr fremd. Nicht mehr feindlich.
Die Mauern flüstern nicht mehr.
Sie hören zu.
Ich bin nicht mehr nur Zoey.
Ich bin das, was bleibt.
Was spricht.
Was sich erinnert.
Und ich bleibe genau hier.
Zwischen den Mauern.