Unter der Oberfläche

Ich schwimme. Das Wasser um mich herum ist klar wie Glas, aber dunkel. Irgendwie ist es gleichzeitig Tag und Nacht. Ich spüre die Kühle an meiner Haut, wie sie in meine Poren kriecht, mich durchdringt. Meine Arme bewegen sich wie von selbst, gleichmäßige Züge, die mich vorantreiben. Wohin? Keine Ahnung. Irgendwohin.
Es fühlt sich gut an, diese Schwerelosigkeit. Als hätte jemand all die Probleme von meinen Schultern genommen und sie in winzige Luftbläschen verwandelt, die an meinem Körper aufsteigen und verschwinden. Pop, pop, pop. So einfach ist das. Ich atme ein. Unter Wasser. Verrückt, oder? Aber es funktioniert. Meine Lungen füllen sich mit dieser seltsamen Flüssigkeit, die gleichzeitig Wasser und Luft ist. Das Licht verändert sich. Von oben dringen goldene Strahlen durch die Wasseroberfläche. Sie tanzen und flirren, werfen schimmernde Netze auf den sandigen Grund unter mir. Ich kann ihn sehen, obwohl es tief sein muss. Sehr tief. Zwischen den Sandkörnern glitzert etwas. Klein und silbrig. Ich tauche tiefer.Eine Münze. Uralt und mit seltsamen Zeichen versehen. Ich strecke meine Hand aus, aber je näher ich komme, desto weiter entfernt sie sich. Typisch. Selbst in meinen Träumen verarscht mich das Universum.Die Strömung wird stärker, zieht an meinen Beinen. Nicht bedrohlich, eher… einladend. Also lasse ich los, gebe mich ihr hin. Sie trägt mich fort, durch einen Unterwassercanyon. Die Wände sind nicht aus Stein, sondern aus… Büchern? Tausende von Büchern, aufeinandergestapelt, die Seiten wehen im Wasser wie Algen. Ich greife nach einem, und die Seiten lösen sich auf, werden zu einem Schwarm winziger silberner Fische, die um meinen Kopf herumschwirren.
Die Fische verschwinden, und plötzlich ist da ein Tisch. Mitten im Meer. Ein gedeckter Tisch mit weißem Tischtuch, Kerzen, Weingläsern. Der Tisch schwebt einfach so im Wasser, und die Flammen der Kerzen brennen, als wäre es das Normalste der Welt. Vier Stühle. Auf dreien sitzen verschwommene Gestalten. Sie haben keine Gesichter, nur dunkle Schemen, wo die Augen sein sollten. Der vierte Stuhl ist leer. Für mich? Die Gestalten winken mir zu. Komm, essen.Ich setze mich. Auf dem Teller vor mir liegt ein Fisch. Ein ganzer Fisch, mit Kopf und Augen, die mich anstarren. Er ist perfekt zubereitet, golden gebraten, duftet nach Zitrone und Rosmarin.

„Du musst essen“, sagt eine der Gestalten. Die Stimme klingt wie das Rauschen von Sand.Da steht jemand. Eine Gestalt, größer als ein Mensch, in einen dunklen Mantel gehüllt. Kein Gesicht, nur Schatten. In der Hand hält sie etwas. Ein Buch? Nein, ein Notizbuch. Mein Notizbuch. Das, in dem ich all meine Träume aufschreibe, meine Ideen, meine heimlichen Hoffnungen. Die Gestalt blättert darin, liest, nickt ab und zu.“Gib das zurück“, krächze ich. „Das ist privat.“Die Gestalt schaut auf, oder tut zumindest so, denn ich kann keine Augen sehen. „Nichts ist privat“, sagt sie mit einer Stimme, die klingt wie raschelnde Blätter. „Besonders nicht Träume.
„Eine Welle trägt mich an eine Küste. Warm, goldener Sand. Ich spüre ihn unter meinen Füßen, zwischen meinen Zehen. Die Sonne brennt auf meiner nassen Haut. Salzwasser tropft aus meinen Haaren, läuft mir über das Gesicht, schmeckt auf meinen Lippen wie Tränen.Vor mir erstreckt sich ein Strand, menschenleer, unendlich. In der Ferne, wo der Sand auf den Himmel trifft, steht eine Figur. Zu weit weg, um zu erkennen, wer es ist. Sie winkt.
Ich setze einen Fuß vor den anderen. Der Sand ist heiß, aber nicht unangenehm. Mit jedem Schritt werde ich leichter, als würde etwas von mir abfallen, zurückbleiben wie eine Spur im Sand, die die nächste Welle fortspülen wird.Die Figur am Horizont wartet. Ich gehe weiter. Ein Schritt nach dem anderen.
Die Sonne steht tief, wirft lange Schatten über den Sand. Das Wasser glitzert golden und rot. Friedlich. Ich könnte ewig hier sitzen.
Ich schaue wieder aufs Meer hinaus. Die Sonne berührt jetzt den Horizont, taucht alles in feuriges Licht. Das Wasser kommt näher, die Wellen lecken an den Beinen des Stuhls. Ich sollte aufstehen, weggehen, aber ich bleibe sitzen. Das Wasser steigt höher, umspült meine Füße, meine Knöchel. Es ist warm wie ein Bad.In der Ferne, dort wo Himmel und Wasser verschwimmen, taucht etwas auf. Ein Boot. Ein kleines Fischerboot mit rotem Segel. Es bewegt sich langsam, gleitet über das Wasser wie ein Traum. An Bord ist eine Gestalt, die mir zuwinkt. Ich kneife die Augen zusammen, versuche zu erkennen, wer es ist, aber die untergehende Sonne blendet mich.Das Wasser erreicht meine Knie. Der Stuhl beginnt zu schwanken, wird von den Wellen angehoben. Ich klammere mich fest, das Notizbuch immer noch an meine Brust gedrückt. Der Stuhl wird zum Boot, treibt hinaus aufs offene Meer, den Wellen und der untergehenden Sonne entgegen.Das Boot mit dem roten Segel ist jetzt näher. Ich kann die Gestalt an Bord besser erkennen. Es ist… ich. Eine Version von mir, älter vielleicht, die Haut gebräunt von vielen Tagen in der Sonne, die Augen heller, klarer.
Die beiden Boote treiben aufeinander zu, getragen von einer sanften Strömung. Als sie sich fast berühren, streckt die andere Version die Hand aus. Ich zögere, dann ergreife ich sie. Die Hand ist warm, fest, vertraut und doch fremd.
„Wohin gehen wir?“, frage ich.Die andere Version deutet auf den Horizont, wo die Sonne jetzt halb versunken ist und den Himmel in Flammen setzt. „Nach Hause“, sagt sie einfach.Das Wort hallt in mir wider, weckt ein tiefes Sehnen. Nach Hause. Ja. Wohin auch immer das sein mag.
Die Sonne versinkt vollständig, und für einen Moment ist alles in goldenes Licht getaucht. Dann, mit dem letzten Sonnenstrahl, löst sich alles auf. Die Boote, das Meer, der Himmel, sogar die andere Version von mir. Alles zerfällt in goldene Partikel, die um mich herumtanzen wie Glühwürmchen, bevor sie verblassen.Dunkelheit. Stille.
Und dann…Ich wache auf. Mein Herz schlägt ruhig und gleichmäßig. Durch das offene Fenster dringt das erste Morgenlicht, malt zarte Muster auf den Boden. Von draußen höre ich das ferne Rauschen des Meeres, das Kreischen der Möwen.