As Time Goes By

Unter dem Rost

1.

Ich sitze auf kaltem Beton. Die Fabrik ist tot. War mal was. Ist jetzt Schrott.

„Loke“, sagt der Alte. „Wie der aus den Geschichten.“

Ich heiße Mika. Sage ich nicht.

Er hat eine orangene Kiste. Zeug drin, das mal Essen war. Zwiebeln. Äpfel. Brot wie Stein.

„Nicht gestohlen“, sagt er. „Gesammelt.“

Die Zone. Hunderte Kilometer Nichts. Beton. Rost. Kaputte Fenster.

Er gibt mir Apfel. Ich nehme. Ohne Danke.

„Was hast du früher gemacht?“

„Genug, um es zu bereuen.“

Ich frage nicht weiter. Macht man hier nicht.

Ich will nach Westen. Zur Mauer. Die noch Strom hat. Vielleicht Menschen mit echten Namen.

Er zeigt mir eine Karte. Ölig. Zerrissen. Roter Strich durch tote Städte.

„Ich kann dich bis zur Brücke bringen.“

Ich sage nichts. Aber ich bleibe.

In dieser Welt gibt es zwei Arten Menschen: Die reden. Die teilen.

Er ist beides.

Verdammt selten geworden.

2.

Beton bröckelt unter meinem Arsch. Loke kaut Apfel. Ich starre auf rostigen Handlauf. Führt ins Nichts.

„Du bist zu jung für diese Gegend.“

Ich zucke mit den Schultern. „Nicht mein Fehler.“

Riecht nach feuchtem Schutt. Nach Verwesung. Nach Zeug, das man nicht benennen will.

„Wie lange bist du hier?“

„Lang genug, um zu wissen: Zählen bringt nichts.“

Ich trete gegen Schraubenschlüssel. Klirrt.

„Ich will nach Avenor.“

Jetzt sieht er auf. Blick wie nasser Asphalt.

„Warum?“

„Da ist jemand. Der mir was schuldet.“

„Dann hast du schlechtes Gedächtnis. Drinnen schuldet dir keiner was. Höchstens ’nen Schuss durch die Stirn.“

„Ich kenn einen Weg“, sagt er. „Nicht sauber. Aber ein Weg.“

„Gegen was?“

„Gegen das, was du mir noch nicht erzählt hast.“

Wir stehen auf. Treppe knarzt.

Es gibt keinen Ort zum Zurück. Nur Stufen. Und das hinter der Mauer.

3.

Träume von Glas. Tausend Splitter regnen auf mich. Spüre nichts. Nur Knacken in den Ohren.

Wach auf. Loke steht schon. Bindet sein Zeug zusammen.

„Du redest im Schlaf.“

Antworte nicht. Magen meldet sich. Hunger.

Wir gehen. Über Betonwüsten. Umgestürzte Strommasten. Welt hat sich selbst vergessen.

Avenor. Vor Jahren. Ich war zwölf. Mutter trug roten Mantel. Wie flüssiges Kupfer in der Sonne. Vater verlor seinen Posten. Oder gab auf.

Stadt im Wandel. Erst verschwanden Busse. Dann freie Zugänge. Dann Menschen.

„Sicherheitszonen“, nannten sie es. Klang nach Ordnung. War Ausschluss.

Wir wohnten am Rand. Nacht, Strom ging weg. Keine Leitungen. Nur Stille. Dann Transporter. Dunkel. Ohne Kennzeichen. Nahmen die, die Fragen stellten.

Schwester sah durch Maschendraht. Auf die andere Seite. Aufs Licht. Sie weinte. Ich verstand nicht.

Loke bleibt stehen. „Da vorne.“

Sehe nur verlassene Brücke. Stahlträger im Nebel.

„Ordner?“

Nickt. „Einer ihrer Wege.“

Wir drehen ab. Durch Senke voller Autowracks. Einer hat noch Sitze. Ich berühre Lenkrad. Als könnte ich rückwärts fahren. Zurück.

„Wenn du Avenor erreichen willst“, sagt Loke, „hör auf zurückzuschauen.“

Aber die Stadt ist mein Rückblick. Jeder Schritt ist ein Splitter.

Will sie zusammensetzen. Oder wissen, warum sie zerbrochen sind.

4.

Nacht schmeckt nach Metall. Tropft irgendwo. Liege auf Paletten. Decke riecht nach Öl und Mäusen.

„Du willst also wirklich rein?“

„Ja.“

Kurzes Lachen. „Mutig. Oder dumm.“

„Gibt’s da ’nen Unterschied?“

„Kommt drauf an, ob du überlebst.“

Holt zerfledderte Karte. Taschenlicht flackert.

„Das hier. Alte Trasse. Güterverkehr. Wenn sie dich nicht erschießen, kommst du zur Vorzone.“

Knie mich daneben. Karte fast unleserlich. Aber da ist was.

„Warum zeigst du mir das?“

„Weil du mich erinnerst. Und ich will wissen, ob’s noch jemand schafft.“

Pause.

„Aber das ist nicht das Angebot. Ich geh mit dir.“

Sehe ihn an. Meint es ernst.

„Warum?“

„Hab noch was gutzumachen. Und du stirbst besser, wenn jemand dabei ist.“

„Okay. Dann los.“

Packt Karte ein. In Brusttasche.

„Morgen. Bei Tagesgrau. Bring alles mit, was du brauchst. Alles andere bleibt hier.“

5.

Morgen klebt wie altes Fett. Grauer Brei am Himmel. Gehen los. Kein Wort.

„Keine Straße nehmen. Nie die Wege, die nach Weg aussehen.“

Steigen über verrostete Rohre. Ducken uns unter Plakatwände. Farben so alt, sie könnten wieder schick sein.

Halbes Einkaufszentrum. Von Ranken durchzogen wie verrottetes Organ.

„Was war das früher?“

„Irgendwas mit Lebensfreude. Jetzt eher Tetanus.“

Mittags: alter Industriepark. Riecht nach Gummi, Eisenstaub, brackigem Wasser. Kran halb umgestürzt. Tauben darauf wie schlechtgelaunte Wächter.

Loke hockt sich hin. „Spuren.“

Sehe nur Dreck. Er zeigt: Staub liegt anders. Jemand durchgeschlurft. Frisch.

„Ordner?“

„Vielleicht.“

Zieht Messer ein Stück raus. Licht findet Klinge.

Geräusch. Metall auf Metall. Dann Stille.

„Außen rum.“

Schleichen an Halle vorbei. Über schiefes Wellblechdach. Rutsche fast ab. Loke packt mich.

Senke voller Geröll. Autowracks. Eingestürzte Werbetafeln.

„Da durch.“

Stinkt nach Öl und Moder. Unten: Kombi, halb im Matsch. Scheiben eingeschlagen. Rücksitz: Kindersitz. Leer. Voller Laub.

Bleibe kurz stehen. Herz macht einen Schlag zu viel.

„Willkommen im Abseits“, sagt Loke.

Meint nicht nur die Senke.

6.

Regen kommt schräg. Feuchter Staub. Kleidung durch bis auf die Knochen. Sagen nichts.

Altes Klärbecken. Beton grün vor Algen. Wasser steht still wie tote Erinnerung.

„Hier runter.“

Loke gleitet über Kante. Ich folge. Stiefel schrammen über feuchte Steine. Stinkt nach totem Wasser.

Unten: alter Technikraum. Tür eingetreten. Zusammengebrochene Pritsche. Wand voller Graffiti. „BLEIB WACH“ in krummer Schrift. Daneben Kreis, durchgestrichen. Zeichen gegen die Ordner.

„Du schläfst zuerst. Ich hör.“

Will widersprechen. Aber Kopf schneller müde als Stolz. Schlafe sofort.

Wache auf. Zu still.

Kein Tropfen. Kein Loke. Nur mein Atem.

Dann sehe ich sie.

Frau. Ruhig. Schwarze Kleidung. Unauffällig. Haut blass. Haar wie gemalt. Um Hals: silberner Kreis.

„Du bist Mika.“

Rühre mich nicht.

„Dein Vater war im Energieausschuss. Deine Schwester wurde ausgetragen. Du bist am 9. Juni geflohen. Richtig?“

Antworte nicht. Sie sieht mich an. Liest in mir. Nicht wie Mensch. Wie Maschine mit menschlichem Gesicht.

„Du hast etwas, das du nicht verstehen willst. Aber ich kann helfen.“

Tritt näher. Hände berühren nichts. Einfach nur da. Kehle wird trocken.

„Du willst Loke. Du willst Avenor. Du willst Schuld.“

Schritte. Schatten in der Tür. Loke.

Sieht sie. Sagt kein Wort. Gesicht verändert sich. Echte Angst.

„Spureneinheit“, flüstert er.

Springe auf. Frau weicht nicht zurück.

„Dies ist kein Zugriff. Dies ist eine Erinnerung.“

Dann ist sie weg.

Kein Geräusch. Nur dünner, metallischer Ton in den Ohren.

„Was zum Teufel war das?“

Loke schaut mich an. Stimme rauer als je zuvor.

„Das war ein Echo. Von dem, was du bist. Und was du nicht erzählen willst.“

Sage nichts.

Irgendwo tief in mir weiß ich: Sie hatte recht.

7.

Regen verzogen. Kälte bleibt. Sitzt in Klamotten wie zweiter Körper. Laufen seit Stunden. Reden wenig.

„Was wollte sie?“

Loke bleibt stehen. „Sie war nicht real. Nicht ganz.“

„Wie meinst du das?“

„Spureneinheiten operieren zwischen Archiv und Fleisch. Sammeln. Deuten. Infiltrieren.“

Schlucke. „Sie wusste Dinge über mich…“

„Weil sie in dir drin war. Nicht in dem Moment. Vorher. Vielleicht vor Wochen. Vielleicht in einem Traum.“

Will protestieren. Aber das hier ist nicht mehr die Art Welt, in der Widerspruch zählt.

Später. Halb eingestürzter LKW. Unterschlupf. Loke holt Messer raus. Wetzt Klinge an Leder.

„Du fragst dich, warum ich das mache.“

Antworte nicht.

„Weil es mich erinnert. An früher. An Dinge, die ich noch anfassen kann.“

„Was warst du? Bevor du das hier warst?“

Lacht. Kurz. Bitter.

„Ein Name. Mit Zugang. Leitungsverantwortlicher für Südkranz von Avenor. Konnte mit einem Befehl ganze Blocks abschalten. Oder am Leben halten.“

„Und dann?“

„Dann wurde mein Name gestrichen.“

Steckt Messer weg. Holt altes Identmodul raus. Rechteckig. Blind. Verkratzt, aber lesbar.

„Loke Yarin. Zugriffsklasse: 3A+ / Innenzugang“

„Hat dir nichts genützt?“

„Hat mich zum Ziel gemacht.“

Nehme das Ding. Wiegt nichts. Fühlt sich schwerer an als ganzer Rucksack.

„Warum behältst du es?“

„Weil ich nicht vergessen will, wie viel ich war. Und wie wenig das bedeutet.“

Nimmt es zurück. Steht auf.

„Schlaf. Morgen erreichen wir den Kontrollpunkt.“

Nicke. Ziehe Decke über Kopf. Aber Name bleibt in meinem Ohr.

Loke Yarin.

Und plötzlich frage ich mich: Wer war ich, bevor mein eigener Name mir fremd wurde?

8.

Kontrollpunkt taucht auf wie schlechter Gedanke. Plötzlich. Unangenehm. Unvermeidlich.

Zwischen zwei Brückenpfeilern. Halb eingestürzt, halb überwuchert. Alte Schilder hängen schief.

Loke hebt Hand. Duckt sich unter rostigen Balken. Ich folge.

Hinter zerbeulter Blechwand kauern wir. Weiter vorne flimmert was. Sensorfeld. Noch aktiv.

„Hätte nicht gedacht, dass die Dinger noch laufen.“

„Tun sie auch nicht richtig. Aber richtig genug.“

Beobachten. Minuten. Dann Bewegung.

Zwei Gestalten. Uniformen ohne Abzeichen. Dunkle Masken. Keine Stimme. Nur Gang verrät: sie fühlen sich sicher.

„Scheiße“, flüstert Loke.

Zweiter Trupp. Von der Seite. Drei Mann. Langsam. Geübt.

Festgenagelt.

„Zurück?“

„Zu spät.“

Taste nach Messer. Lächerlich. Loke packt meinen Arm.

„Wenn sie dich greifen, sag nichts.“

„Was?“

„Gar nichts. Nicht mal deinen Namen.“

„Warum?“

„Weil sie ihn dir sonst wegnehmen. Und jemand anderem geben.“

Schriller Ton. Kaum hörbar. Hinter meinem Schädel.

Presse Zähne aufeinander. Loke zuckt zusammen. Schritte. Atem wie durch Wand. Kein Zugriff. Noch nicht. Aber sie wissen: wir sind da.

„Plan?“

„Ja. Wir machen Lärm.“

„Was?“

Grinst. Irre. Flüchtig.

„Vertrau mir. Ich kann Dinge kaputtmachen.“

Zieht runden Gegenstand raus. Alt. Handgebaut. Blinkend.

„Zeitverzögert. Fünf Sekunden. Richtung Ost.“

Wirft.

Licht. Krach. Staub.

Rennen. Nicht nach Osten. Quer. Durch Schlitz zwischen Wänden. Höre Schreie. Nicht viele. Nur einer. Langgezogen.

Stolpern. Schlagen gegen Beton. Stürzen durch Grube.

Stille.

Nur Herz hämmert.

Loke liegt neben mir. Hustet. Lacht heiser.

„Rostschatten. So nennen sie diese Trupps. Lautlos. Aber wenn du das Licht erwischst, werfen sie Schatten.“

Sage nichts.

Aber weiß: Wir sind nicht entkommen. Nur verschoben.

9.

Riecht nach altem Rauch. Gebrochenem Beton. Himmel, der mehr versprochen als gehalten hat.

Brückenruine. Verbindet kein Ziel mehr. Loke nennt es Dämmerposten. Früher war hier Licht. Kontrollleuchten. Suchstrahler. Jetzt nur Dämmerung.

„Vorposten der Inneren Energieverteilung. Haben von hier ganze Sektoren gedimmt. Je nachdem, wer gut stand.“

Nicke. Halte Ausschau. Senke, umgeben von totem Gestrüpp. Kabel hängen aus Masten wie Adern aus aufgerissenen Leibern.

„Da drin. Notfunkgerät. Wenn’s nicht geklaut ist, bringt’s uns was.“

Klettere zuerst. Einstieg schmal. Rost schneidet durch Jacke. Drinnen: Kontrollraum. Leer. Staubig. Nicht ganz tot.

Geräusch. Leises Knacken. Elektronisch. Wie Hauch eines Herzschlags.

Loke hockt vor Pult. Schraubt Abdeckung auf. Funkgerät. Alt, aber leuchtend. Anzeige flackert. Zeigt Leben.

„Geht das Ding?“

„Vielleicht für eine letzte Nachricht. Wenn sie noch zuhört.“

Tippt. Stellt ein. Atmet durch.

Spricht rein: „Ilja. Hier ist Yarin. Zwei Personen. Keine Optionen mehr. Koordinaten folgen.“

Stille. Sekunden. Minuten.

Dann zischt es. Anzeige zuckt. Stimme.

„Verstanden.“

Nur ein Wort.

Loke lächelt nicht. Aber steht auf. Als hätte ihm jemand Schmerz aus dem Rücken gezogen.

„Sie ist da.“

Will fragen, wer sie ist. Wie er sie kennt. Warum sie hilft.

Aber was in seinem Gesicht sagt: Das ist lange Geschichte.

Machen uns bereit. Draußen dunkler. Dämmerposten macht Namen alle Ehre. Als wir Gebäude verlassen, knackt Funkgerät nochmal.

„Bleibt nicht zu lang. Sie folgen Schatten. Und der eure ist lang.“

10.

Damals war Licht anders. Wärmer. Oder lag daran, dass ich glaubte: wir gehören dazu. Zur Stadt. Zu denen mit Strom. Mit Zukunft.

Südliches Randviertel von Avenor. Nahe alter Bahnlinie. Mauer gab’s schon. Aber noch nicht aus Beton. Damals Zaun. Mit Lücken. Menschen gingen durch.

Schwester hieß Lenea. Zwei Jahre jünger. Immer klüger. Hatte Gespür für Stimmungen.

„Sie ziehen uns ab“, sagte sie eines Abends.

Ich lachte. „Wohin denn?“

„Nicht uns. Papa. Dann Mama. Dann wir.“

Hatte recht.

Zwei Wochen später: Brief. Schmales Papier. Siegel der „Verwaltung für Übergangsstrukturen“. Vater wurde „aus Sicherheitsgründen“ innerer Station zugeteilt. Shuttle holte ihn nachts. Keine Taschen.

Mutter stand drei Nächte auf Dach. Starrte auf Türme der Stadt. Die blinkten. Die ihr Mann jetzt versorgte.

„Da brennt sein Leben. Wir frieren.“

Dann kam der Tag.

Montag. Grau wie Blei. „Für Umverteilung bereithalten.“ Bedeutete: raus. Wer keine Freistellung hatte, musste gehen.

Lenea und ich hielten Papiere hoch. Frau mit Scanner nickte. Sah unsere Mutter an. Ausweis: rot markiert. „Nicht kompatibel.“

Ich schrie. Lenea nicht. Umklammerte Mutter.

„Einer von euch darf bleiben“, sagte Mann in Grau.

Lenea drehte sich zu mir. Lächelte. Nahm meine Hand. Drückte sie.

„Du gehst. Ich bleibe bei Mama.“

Weiß noch, wie ich schrie. Aber Körper ging trotzdem weiter. Weg. Durch Tor. Durch Licht. Allein.

War vierzehn. Auf der anderen Seite der Mauer.

Loke sagt später nichts. Hört nur zu.

„Glaubst du, sie lebt noch?“

Zucke mit Schultern. „Ich glaube, sie erinnert sich.“

„Manche Dinge sind stärker als Mauern.“

Nicke. Will es glauben.

11.

Regen zurück. Feiner Nebelregen. Macht alles klamm. Loke trägt Funkgerät an der Seite. Summt. Nicht regelmäßig. Oft genug für Eigenleben.

Zwei Tagesmärsche von Avenor. Keine Schilder. Keine Karten. Nur Gefühl. Und Funk.

„Ilja wird sich melden. Hat ihre eigene Zeit.“

„Und ihre eigene Stimme.“

Erinnere mich an das, was ich hörte. Durch Dämmerposten. Ruhig. Trocken. Wie Sand auf Glas.

Nachmittags. Alter Betonring. Früher Wasserwerk. Funkgerät knackt. Rauscht. Dann kommt sie.

„Yarin. Empfang miserabel. Höre euch wie durch Blei.“

„Kontrollriss 4. Noch zwei Etappen. Verfolgung wahrscheinlich.“

Pause.

„Nicht wahrscheinlich. Sicher. Ihr seid getrackt.“

Magen zieht sich zusammen. Loke bleibt ruhig.

„Route Nord?“

„Negativ. Vollsperre. Zwei Trupps. Bewegungseinheit. Schweres Gerät.“

„Westleitung?“

„Möglich. Aber nur mit Zugang zu altem Netzschacht.“

„Pumpwerk?“

„Noch da. Versteckt. Koordinaten folgen. Müsst schnell sein. Sie haben eure Stimmen. Versuchen, euch zu locken.“

Loke tippt Verschlüsselung ins Gerät.

„Verstanden. Wir nehmen den Splitter.“

Verbindung tot. Kein Abschied. Nur Regen, der an Beton schlägt.

„Splitter?“

„Weg, den sie vergessen haben. Weil er wehgetan hat.“

„Dir?“

„Allen.“

Steht auf. Wird wieder zu dem, der er mal war. Sehe Mann mit Zugang. Mann mit altem Namen.

„Was ist Ilja für dich?“

Bleibt still.

„Die letzte, die noch weiß, wie ich klinge.“

Machen uns auf. Westlich. Durch verbogene Masten. Wind pfeift durch Knochen. Stadt rückt näher. Mit ihr Stimmen, die uns hören wollen.

12.

Schienen liegen wie Narben. Gerade. Rostig. Endlos. Früher rollten Lastzüge. Energiecontainer. Verpflegung. Menschen, die nicht gefragt wurden. Jetzt nur Erinnerungen.

Folgen der Trasse. Westlich. Wind weht Staub ins Gesicht. Zwischen Gleisen wachsen Kräuter. Loke sagt: „Zugwurz“. Weiß nicht, ob das stimmt. Hat’s erfunden, um Stille zu füllen.

Dann stehen wir da.

Anhöhe. Schienen enden in altem Bahnhofsplateau. Halb überwachsen. Dahinter: Avenor.

Sieht aus wie Fata Morgana. Türme aus Licht. Gerastert wie digitales Gebirge. Bewegungen hinter spiegelnden Flächen. Kuppeln spiegeln Himmel, obwohl keiner da ist. Stadt liegt in Senke. Von Nebel umgeben. Nicht echt. Gemacht. Atmosphärischer Wall.

Trete näher an Kante. Herz stolpert.

„So nah war ich nie.“

Loke nickt. „Und doch ewig weit weg.“

Setzen uns auf umgestürzten Waggon. Stahl kalt. Wind pfeift durch Ritzen.

„Was würdest du tun, wenn du einfach so reinkämst?“

Denke kurz nach.

„Würde meine Schwester suchen. Sehen, ob sie noch weiß, wie ich heiße.“

Nickt. Sagt nichts. Aber sehe: Antwort berührt bei ihm was, das lange zugeschüttet war.

Am Horizont zieht was durch Himmel. Kein Flugzeug. Keine Drohne.

„Zugvögel. Fliegen über die Stadt. Nie hinein. Instinkt.“

Sehe den Schwarm. Schwarz gegen Licht. Frei. Ziellos.

„Und wenn sie sich verirren?“

„Dann sieht Avenor aus wie Paradies. Bis es zu spät ist.“

Nicke. Genau so fühlt es sich an.

Später. Sonne geht unter. Dämmerung legt sich wie bleierner Staub auf Landschaft. Loke macht kleines Feuer. Essen Zwieback. Schmeckt nach Maschinenhalle.

Irgendwann, als Himmel sich schließt:

„Morgen gehen wir runter. Zum Schacht. Wenn sie uns nicht vorher finden.“

Nicke.

In meinem Innern flattert was. Kein Vogel. Stück Erinnerung. Zerbrechlich. Aber lebendig.

13.

Kommen näher. Stadt beginnt zu flüstern.

Nicht laut. Aber da. Leises Summen unter der Haut. Rhythmus, der nicht zum Wind gehört. Avenor liegt unter uns wie schlafender Koloss aus Licht. Keine Mauern. Nur Glas.

„Schau genau hin“, sagt Loke.

Tue es.

Stadt umgeben von Membran. Nicht sichtbar, aber spürbar. Wärme bricht sich. Geräusche werden geschluckt. Menschen gehen durch breite Straßen. Lächeln. Helle Kleidung. Saubere Gesichter. Kinder auf Fahrrädern. Cafés mit Musik.

Sieht aus wie Werbefilm, der nie endet.

„Siehst du das? Sie wirken zufrieden.“

Loke schnaubt. „Weil sie glauben, dass nichts draußen existiert. Und wenn doch, dann hat es kein Recht.“

Lehne mich gegen Felsen. Magen zieht sich zusammen. Nicht vor Hunger. Anderes Ziehen. Hat mit Schuld zu tun. Mit Hoffnung, die zu lange getragen.

Fahrzeug gleitet vorbei. Geräuschlos. Schatten auf Rollen. Daneben: zwei Ordner. In Zivil. Nur an Bewegungen erkennbar. Diese Art, wie sie jeden Blick durchbohren.

„Was passiert, wenn jemand von drinnen nach draußen will?“

„Kommt drauf an, ob er gefragt hat.“

„Und wenn nicht?“

„Dann verschwindet er. Offiziell nie dagewesen.“

Sage nichts. Denke an Lenea. An Fenster mit Sichtschutz. An ihre Stimme, die ich mir vorsprechen muss.

Schleichen weiter. Alter Wartungskanal. Loke führt durch Graben. Mündet in stillgelegten Zubringer. Über uns: Lichter. Bewegungsmelder. Keiner springt an. Entweder tot. Oder wir nicht wichtig genug.

Stehen vor Glaswand. Aussichtsplattform. Verwildert, aber intakt. Dahinter: Stadt. Zum Greifen nah.

„War mal öffentlich. Bevor sie entschieden: der Blick ist gefährlich.“

Sehe in Gesichter der Menschen hinter Scheibe. Keiner sieht zurück. Einwegspiegel. Ich existiere nicht.

Trotzdem will ich durch. Nicht aus Rache. Nicht aus Hoffnung.

Sondern, weil ich wissen muss: Ist dort drinnen noch jemand, der weiß, dass ich draußen bin?

14.

Passiert schnell.

Alter Versorgungsschacht. Riecht nach Schwefel und alter Zeit. Loke murmelt von „Zugangspunkt 7B“. Will Gitter anheben. Zeigt Signal mit zwei Fingern. Warte, bleib flach.

Welt einfriert.

Kein Licht. Kein Knall. Plötzlich: Sie.

Drei. Vielleicht vier. Schwarz gekleidet. Gesichter hinter matten Masken. Keine Abzeichen. Keine Worte. Nur Bewegung. Klinisch. Sauber. Final.

Ducke mich hinter Metallrohr. Zu schmal zum Atmen. Loke hebt Hände. Nicht als Aufgeben. Eher: Das war eh klar.

„Yarin, Zugriff. Keine Widerrede.“

Stimme klingt, als käme sie aus anderem Hals. Verzerrt. Fremd. Nicht menschlich, nicht künstlich. Dazwischen.

Loke schaut nicht zu mir. Kurzes Zucken des rechten Handgelenks. Dreht sich um.

Nehmen ihn mit. Keine Fessel. Kein Schlag. Er geht selbst. Als würde er was abschließen.

Warte. Zähle Herzschläge. Fünf. Zehn. Fünfzig.

Krieche aus Versteck.

Schacht leer. Kein Blut. Kein Kampf. Kein Ton im Wind.

Nur das Notizbuch. Lokes Notizbuch. Liegt offen. Halb unter loser Schraube.

Greife danach. Riecht nach Öl. Nach Metall. Nach ihm.

Erste Seite: Zeichnungen. Linien. Codenamen.

Zweite Seite: Satz.

„Wenn du das liest, bist du allein. Aber nicht ohne Weg.“

Schlucke. Renne.

Stadt weit über mir. Avenor glänzt. Als sei nichts geschehen. Höre Stimmen. Echte. Lautsprecher. „Bewegung in Sektor W14″ – das bin ich.

Tauche unter. Laufe durch altes Kanalrohr. Rutsche Abhang hinab. Irgendwo schlagen Hunde an.

Ziel: altes Pumpwerk. Iljas Versteck. Ort, der nicht auf Karten existiert. Aber in Lokes Buch mit roter Tinte markiert.

Renne, bis Lunge brennt. Bis Beine zittern. Bis ich vergesse, was ich verloren hab.

Während Nacht sich senkt, weiß ich: Sie haben Loke.

Aber sie haben mich noch nicht.

15.

Eingang unter Schild: „TRINKWASSER STUFE 2″. Hat seit Jahrzehnten nichts mit Wasser zu tun. Tür schwer. Doppelt verriegelt.

Klopfe nicht. Lege Hand auf Scanner. Wie in Lokes Notizen. Drei Sekunden Druck. Zwei kurze Schläge gegen Metall.

Stille. Klicken. Tür gibt nach.

Riecht nach Papier. Strom. Kalter Erde.

„Du bist zu spät.“

Stimme, bevor ich sie sehe.

Ilja.

Steht zwischen alten Generatoren. Silhouette wie ausgeschnitten aus Rauch. Schlank. Unruhig. Zigarette in der Hand. Brennt nicht. Augen wach. Zu wach. Und müde.

Trete ein. Halte Lokes Buch hoch.

„Sie haben ihn.“

Nickt. Keine Überraschung. Kein Mitleid.

„War zu erwarten. Hat sich zu nah an Stromlinie gewagt.“

Sage nichts. Atem geht schneller. Luft trocken. Raum flimmert vor Kabeln.

„Du bist Mika.“

„Ja.“

„Du willst rein.“

Nicke.

„Dann musst du zahlen.“

Ziehe Stirn kraus. „Was?“

Lächelt schmal. Kein Humor. Nur Zynismus.

„Nichts ist umsonst. Du willst Schleuse? Hab sie. Du willst Zugang? Geb ihn dir. Aber du bringst mir was zurück.“

Atme tief durch. „Was?“

Dreht sich um. Holt altes Datenmodul aus Kiste. Legt es zwischen uns.

„Da drauf ist Liste. Namen. Protokolle. Verschwundene.“

Sehe Gerät an. Als würde es mich beißen.

„Menschen, die zu viel wussten. Oder zu laut waren. Einer war meine Schwester.“

Zündet Zigarette an. Zieht tief.

„Will wissen, ob sie lebt. Ob sie drinnen ist. Will Bild. Satz. Irgendwas.“

Nicke langsam.

„Und wenn nicht?“

Zuckt mit Schultern. „Dann bring mir Namen, den ich hassen kann.“

Nehme Modul. Vibriert leicht. Wie Herz. Kein echtes. Aber nah genug.

Ilja lehnt sich zurück.

„Schacht B17 noch offen. Kurz. Vielleicht paar Stunden. Danach gesperrt, neu versiegelt. Du gehst heute Nacht.“

Sehe sie an. Augen ruhig. Hart. Klar.

„Und Loke?“

Antwortet nicht sofort.

Dann leise: „Wenn sie ihn noch brauchen, lebt er. Wenn nicht… dann lebt er in dir weiter.“

Drehe mich um. Gehe zur Tür.

Bevor ich raus bin, ruft sie: „Mika.“

Bleibe stehen.

„Wenn du stirbst – stirb nicht umsonst.“

Nicke.

16.

Iljas Datenmodul liegt auf Schoß wie heiße Waffe. Surrt leise. Immer wieder. Als würde es atmen. Bildschirm alt. Blass. Grünlich. Funktionstüchtig.

Ladebalken stockt bei 87 %. Warte. Höre auf das, was ich nicht hören will.

Draußen flackert Himmel. Hat nichts mit Wetter zu tun. Ferne: Summen von Suchdrohnen. Nicht hier. Noch nicht.

Klickt. Ladebalken springt auf 100 %.

PERSONENDATEN: VERMISST – SELEKTIV KLASSIFIZIERUNG: NICHT-KOMPATIBEL / INAKTIV / AUFGELÖST

Liste beginnt.

Namen. Geburtsdaten. Letzte Koordinaten. Status: „verloren“, „nicht gemeldet“, „abgetrennt“.

Scrolle. Loke hatte recht. Das ist keine Liste. Das ist Friedhof ohne Gräber.

Paar Namen erkenne ich. Leute aus unserer Straße. Lehrer. Ladenbesitzerin. Sogar Energieinspekteur meines Vaters.

Bleibe hängen.

Lenea Rissin Geb. 24.04. Letzte Meldung: Avenor – Inneres Bildungsprogramm 2A Status: verschlüsselt / blockiert / keine Rückmeldung

Magen dreht sich. Finger bleibt auf Bildschirm. Zittert leicht.

Sie lebt.

Oder lebte lang genug für Registrierung.

„Inneres Bildungsprogramm“ – nicht einfach Schulen. Programme, in die sie Kinder stecken. Formen wollen. Kompatibel machen. Rückstand abschneiden. Identitäten schleifen.

Lese nochmal.

Blockiert.

Heißt: sie war drin. Ist vielleicht noch da. Sie wissen, dass sie existiert. Wollen nicht, dass ich es weiß.

Lehne mich zurück. Herz hämmert gegen Brust. Als hätte es zu lange geschwiegen.

Später gebe ich Ilja Modul zurück. Sieht mir lang ins Gesicht. Kein Mitgefühl. Keine Überraschung.

Nur diese Stimme, ruhig wie Akte: „Jetzt hast du einen Grund.“

Nicke. Langsam. Still.

Ilja bereitet Zugang vor. Schacht B17. Alte Wartungsschleuse. Halb eingebrochen. Durch Rohre zugänglich. Nur passierbar für einen. Nur einmal.

„Wenn du drin bist, hast du vielleicht sechs Stunden, bevor sie Route merken.“

„Reicht.“

Schaut mich an. „Du bist nicht Loke.“

Schüttel Kopf. „Nein.“

„Aber hast denselben Blick, wenn du zu viel weißt.“

Verlasse Pumpwerk mit Rucksack. Plan. Und Namen, der brennt.

Lenea.

Wenn sie noch lebt, finde ich sie.

Oder Avenor wird endlich wissen: Ich bin draußen. Und hab nicht vergessen.

17.

Eingang zu Schacht B17 unter zerschlagenem Wartungstunnel. Schmiegt sich zwischen zwei Rohrleitungen wie vergessener Nerv. Ilja hat mir Karte gezeichnet. Nicht auf Papier. Auf Haut. Linien mit Edding auf Unterarm. Unter Jacke. Kein Scanner kann sie fressen.

Taste mich vorwärts. Geruch ändert sich. Von Erde zu Rost. Von Rost zu Wasser.

Dumpfes Rauschen dringt durch Wände. Nicht nah. Aber gewaltig.

Schiebe Gitter auf. Kreischt kurz. Dann Stille. Nur Atem. Und Zittern in Knien.

Schacht schmal. Kaum Meter breit. Endlos lang. Kabel hängen durch. Tot oder lebendig – weiß nicht. Taste mich vorwärts. Bücke mich unter Rohren. Krieche durch Staub wie Asche.

Dann höre ich ihn. Den Fluss.

Nicht wie Bach. Nicht wie Regen. Sondern wie Tier. Tief. Dumpf. Mächtig. Als würde unter Stadt was leben, das nie dafür gedacht war.

Erreiche Kammer.

Ovaler Raum. Fünf Meter Durchmesser. An Wand: altes Kontrollpanel. Tot. Darunter: Fluss. Schwarz. Breit. Kein natürliches Wasser. Mehr Flüssigkeit aus Abfluss. Chemie. Industrie. Still, aber nicht ruhig.

Schmale Brücke führt hinüber. Kein Geländer. Nur zwei Stangen. Überzogen mit grünem Schleim.

Trete drauf. Brücke federt. Einmal. Noch mal. Gehe.

Andere Seite: Luke. Alt. Verklemmt. Versiegelt. Reiße. Drücke. Trete. Gibt nach. Ruck. Licht flackert. Dann Stille.

Krieche hinein.

Gang. Beton. Rohre. Dann Fliesen. Sauber. Weiße Fliesen.

Bin drin.

Avenor.

Nicht glitzernde Oberfläche. Nicht Sicht aus Ferne.

Sondern Bauch der Stadt. Das, was lebt. Und verschluckt.

Atme flach. Jede Bewegung hallt. Höre Schritte, die nicht meine sind. Stimmen flüstern, obwohl keiner spricht.

Weiß: Sie wissen, dass ich da bin. Oder werden es bald wissen.

Aber bin nicht hier, um zu bleiben.

Bin hier, weil ich Stimme suche. Und Wahrheit, die nicht untergehen darf.

18.

Avenor von innen fühlt sich falsch an. Nicht wegen Licht – das ist weich. Flimmernd. Fast beruhigend. Nicht wegen Geräusche – gedämpft, rhythmisch, fast wie Musik.

Ist der Geruch.

Riecht nicht. Gar nicht. Das macht mir Angst.

Bewege mich durch unterirdische Gänge. So sauber, dass selbst Gedanken schmutzig wirken. Kein Staub. Keine Spuren. Nur Gefühl: beobachtet werden. Nicht mit Augen. Mit Systemen.

Loke hatte Zugangspunkt markiert: „Versorgungseinheit Nord-Ost, Schacht E7″. Finde ihn. Hinter abgelöster Wandplatte. Versteckt in Hohlraum, der nur existiert, weil jemand sich nicht an Baupläne gehalten hat.

Klettere hinein.

Lager liegt still. Kein Personal. Nur Maschinen, die langsam Regale sortieren. Alles automatisiert. Trotzdem: höre Stimmen. Leise. Klare Kommandos hinter Metall.

Schleiche weiter. Herz pocht wie defekter Motor. Dann Tür. Halb offen.

Dahinter: Raum. Stuhl. Und Loke.

Sitzt. Gefesselt, aber aufrecht. Stirn blutig. Hände zitternd. Nicht gebrochen. Als er mich sieht, halte ich Luft an.

Sieht mich. Lächelt.

„War klar, dass du’s versuchst.“

Trete ein. Schnell. Ohne Plan. Nur Gedanke: Raus. Jetzt.

„Kannst du gehen?“

„Kann ich fallen? Dann kann ich auch gehen.“

Durchtrenne Fessel an Armen. Beine angeschwollen. Aber er steht. Wankt. Hält sich an mir fest.

„Sie wissen, dass ich hier bin.“

„Natürlich. Sie lassen dich gewähren.“

Starre ihn an. „Warum?“

„Weil sie wissen wollen, wohin du gehst. Wen du triffst. Sie verfolgen nicht dich. Sie verfolgen Hoffnung.“

Schlucke. Helfe ihm auf Beine. Schleichen zurück in Gang. Höre Sirenen. Nicht laut. Aber echt. Irgendwas hat sich verändert.

„Was hast du ihnen gesagt?“

Loke atmet schwer. „Nichts, was sie nicht eh wussten. Aber nichts von dir.“

Glaube ihm. Muss ihm glauben.

Erreichen Schacht. Ziehe Platte zur Seite. Loke stolpert hinein. Ich hinterher.

Bevor ich sie wieder schließe, höre Stimme. Ruhig. Weiblich. Verzerrt.

„Du bist nicht der Erste, Mika. Aber vielleicht bist du der Letzte.“

Friere. Platte fällt ins Schloss. Dunkelheit.

In Finsternis neben mir flüstert Loke: „Das war Bruchstelle. Kein Zugriff. Kein Tod. Aber Riss. Und durch Risse kommt Licht.“

Atme aus. Kriechen weiter.

19.

Liegen im Schatten gekippten Lüftungstanks. Servicebereich unter Avenors Westkante. Kein Mensch sollte hier sein. Kein Licht. Nur Tropfen von Kondenswasser. Keuchen von Loke. Als hätte er letztes Wort schon gesagt.

Halte ihn fest. Presse Stoffstück auf seine Seite. Dort, wo ihn was erwischt hat. Kein Schuss. Eher Stromstoß. Was nicht blutet, aber brennt. Haut blass. Augen flackern.

„Nicht schlafen.“

„Ich höre doch. Mehr als genug.“

Glaube ihm. Hört Dinge, die ich nicht hören will.

Paar Stunden später – oder Minuten – taucht Licht auf. Nicht grell. Warm. Wie von alten Glühbirnen. Dann Gesicht.

Frau. Anfang vierzig. Rußgeschwärzte Weste. Wacher Blick. Neben ihr Junge. Vielleicht dreizehn. Schmal. Kabel um Schulter gewickelt wie Waffe.

„Wer seid ihr?“

Antworte nicht sofort. Zeige nur Loke.

Sieht ihn an, dann mich. „Ihr habt keine Zeit.“

Bringen uns in Kammer. Ehemalige Wartungszentrale. Jetzt Lager. Schlafplatz. Zuflucht. Vier Menschen. Zwei bewaffnet. Keine Uniformen. Aber dieselbe Entschlossenheit.

„Wir nennen uns nicht“, sagt Frau. „Keine Namen. Keine Aufzeichnungen.“

„Wie dann?“

„Flüstern.“

Erzählen mir: gibt sie seit Jahren. Kleine Zellen. Nie mehr als fünf. Sie hören. Speichern. Sprechen weiter. Heimlich. Immer mit Risiko: einer von ihnen längst umgedreht.

„Widerstand?“

Frau lacht. Kurz. Hart. „Das ist kein Widerstand. Das ist Erinnerung daran, dass es uns gibt. Und dass wir nicht einverstanden sind.“

Haben Listen. Andere als Ilja. Namen, die offiziell nie existiert haben. Orte, aus Karten gelöscht. Plan? Vielleicht. Eher Puls. Schimmer.

„Ihr müsst weiter. Ihr zieht Aufmerksamkeit auf euch. Wir können das aushalten. Ihr nicht.“

Will protestieren. Aber Loke flüstert: „Sie hat recht. Wir sind der Stein, nicht der Strom.“

Bevor wir gehen, drückt Junge mir was in Hand. Alte Kassette. Magnetband. Handbeschriftet.

„Rissin – 12A Archivspur“

Sehe ihn an. „Woher hast du das?“

Zuckt mit Schultern. „War da. War wichtig. Ich glaube, es ist Stimme.“

Herz hämmert. Nicke. Gehe.

Flüsterrat bleibt zurück. Namenlos. Unsichtbar.

Aber weiß jetzt: Wir sind nicht allein. Stadt ist nicht so still, wie sie klingt. Manche Stimmen überleben. Auch wenn sie nur geflüstert werden.

20.

Kassette wiegt fast nichts. Fühlt sich schwerer an als alles, was ich bisher getragen hab. Halte sie, während Loke schläft. Oder bewusstlos ist – weiß nicht genau. Atmung flach. Haut zu blass.

Verstecken uns in vergessenem Treppenhaus. Zwischen Versorgungsetage und Kanalraster. Wände gekachelt. Luft steht. Kein Fenster. Kein Geräusch. Kein Zeitgefühl.

Finde altes Abspielgerät in Schrank voller Elektroschrott. Frag mich nicht, warum es noch geht. Vielleicht Schicksal. Vielleicht rostiger Zufall.

Schiebe Kassette ein.

Leises Rauschen. Dann:

„Testaufnahme, Programm 12A. Name: Lenea Rissin. Teilnehmerstatus: angepasst. Kompatibilitätsrate: 94 Prozent. Abweichung: sprachlich, emotional, historisch. Maßnahmen vorgeschlagen: Stimmdämpfung, Erinnerungsarchivierung. Kein familiärer Rückbezug erkennbar.“

Herz verkrampft sich. Stimme ruhig. Aber nicht ihre.

Dann andere Stimme. Brüchig. Zögerlich. Aber echt.

„Ich heiße Lenea. Ich… erinnere mich an Licht. An jemanden. Weiß nicht mehr, wie er hieß. Aber ich glaube, er hat mich mal gehalten, als ich… als ich Angst hatte.“

Stille.

Aufnahme schaltet um. Technisches Protokoll. Neutral. Kalt.

„Stimme fragmentiert. Erinnerung instabil. Keine Relevanz für äußere Vorgänge. Empfehlung: Abschluss.“

Stoppe Band.

Sitze lange da. Kopf gegen Wand.

Sie lebt. Oder lebte. Lang genug, um sich an mich zu erinnern. Trotz allem. Trotz Dämpfung. Trotz System.

Loke kommt langsam zu sich. Gebe ihm Wasser. Trinkt wenig. Nickt.

„Du hast sie gefunden.“

Kein Fragezeichen. Nur Gewissheit.

„Ich hab Spur. Stimme.“

Sieht mich an. Augen glimmen kurz. „Dann müssen wir hoch. Ein letzter Blick. Und dann raus.“

Verlassen Stille. Kriechen durch letzte Schächte. Bis wir altes Panoramafenster erreichen. Halb zugewachsen. Halb zersprungen. Dahinter: Avenor. Türme. Licht. Glattes Leben.

Sehen auf das, was uns verstoßen hat. Was wir geliebt haben. Was wir vielleicht nie verstehen werden.

Denke an Ilja. An Jungen. An Flüsternden. An Lenea.

„Was jetzt?“

Loke lehnt sich an Wand. Lächelt blutig. „Jetzt gehen wir. Und sehen, was von uns bleibt.“

21.

Morgen nur zu erahnen. Kein Sonnenaufgang. Kein Himmelswechsel. Nur dünner Streifen Helligkeit am Rand der Welt. Wie Versprechen, das keiner ausgesprochen hat.

Stehen auf altem Aussichtsrücken westlich der Stadt. Unter uns liegt Avenor. Fern. Glatt. Makellos. Kein Rauch. Kein Lärm. Postkartengerechte Illusion.

Loke sitzt auf niedrigem Betonsockel. Beine ausgestreckt. Rücken krumm. Atmet flach, aber regelmäßig. In seinem Gesicht liegt was, das man fast Frieden nennen könnte. Oder Aufgabe.

Stehe neben ihm. Notizbuch in der Hand. Ist leer. Letzte Seite hat er herausgerissen.

„Willst du’s sehen?“

Schüttelt Kopf. „Hab’s lange genug gesehen. Jetzt reicht’s, dass du’s trägst.“

Nicke. Ziehe Blatt aus Jacke.

Letzter Eintrag.

Wenn jemand fragt: Ich war hier. Nicht, um zu bleiben. Nicht, um zu gewinnen. Nur, um zu erinnern.

Dass es uns gab. Dass wir gesehen haben. Dass wir gefehlt haben dürfen.

Avenor war nicht unser Ende. Aber vielleicht unser Spiegel.

Wenn du das liest – lauf nicht. Geh.

Unten am Rand des Plateaus beginnt Trampelpfad. Kaum sichtbar. Von Dornen durchzogen. Führt fort. Nicht zurück.

Sehe zurück zur Stadt. Suche Zeichen. Gesicht. Schatten hinter Glas.

Aber da ist nichts. Und genau das ist das Zeichen.

Atme durch. Lege Notizbuch auf Sockel neben Loke. Sieht mich an. Schwach, aber klar.

„Und du?“

„Ich bleib noch. Vielleicht kommt noch einer vorbei, der’s braucht.“

Schüttel Kopf. „Du und deine verfluchte Romantik.“

Lacht. Krächzend. Winkt mir weg.

„Geh, Mika. Und vergiss nicht: Wenn du sie findest – sag ihr, dass sie richtig lag.“

Nicke. Ein letztes Mal.

Dann drehe ich mich um. Und gehe.

Kein Ziel. Kein Plan. Nur ein Schritt nach dem anderen.

Und irgendwo in mir: eine Stimme, die weiß, wie ich heiße.

ENDE

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