« Neonherz
As Time Goes By
Stimmen im Zugabteil

Ich sitze im Zug und spüre das leichte Vibrieren des Waggons unter meinen Füßen. Es ist ein altes Modell, eines dieser Wagen mit den senfgelben Polstern, die unter dem Gewicht unzähliger Reisender nachgegeben haben und nun eine Art kollektives Gedächtnis aller Hintern bilden, die je hier saßen. Die Landschaft draußen verschwimmt zu einem undeutlichen Gemisch aus Grün und Grau. Zwischendurch blitzt mal ein Bahnhof auf, an dem wir nicht halten.
Als ich aufwache – ich muss eingenickt sein – sitzt mir eine Frau gegenüber, die vorher nicht da war. Ihr Gesicht wirkt seltsam vertraut, obwohl ich sicher bin, dass wir uns nie begegnet sind. Sie trägt ein blaues Kleid, das aussieht, als käme es aus einer anderen Zeit, vielleicht den 50ern. Ihre Hände liegen gefaltet auf einem kleinen Buch mit abgegriffenen Ecken.
„Endlich wach?“ Sie lächelt, und etwas an diesem Lächeln macht mich nervös.
„War ich lange weg?“
„Zeit ist relativ im Zug.“ Sie schlägt ihr Buch auf. „Besonders in diesem.“
Erst jetzt bemerke ich, dass die anderen Sitze leer sind. Dabei war das Abteil vorher voll besetzt gewesen. Eine Schulklasse, wenn ich mich richtig erinnere, mit einem Lehrer, der ständig in sein Handy flüsterte.
„Wo sind die anderen hin?“
Die Frau schaut kurz von ihrem Buch auf. „Die sind ausgestiegen. Während du geschlafen hast.“
„Alle?“
„Natürlich alle. Wer steigt schon halb aus?“ Sie lacht, und es klingt wie Glas, das über Metall kratzt.
Draußen zieht eine Stadt vorbei, die ich nicht kenne. Die Häuser stehen dicht gedrängt, als würden sie sich gegenseitig stützen. Ein alter Wasserturm ragt über allem auf wie ein Wächter. Ich bin mir sicher, dass wir nicht durch diese Gegend fahren sollten. Mein Ticket liegt auf meinem Schoß – Berlin nach München, Direktverbindung, keine Zwischenhalte in merkwürdigen Städten mit Wassertürmen.
„Wissen Sie, wo wir sind?“ Ich halte mein Ticket hoch, wie einen Beweis.
Die Frau legt einen Finger zwischen die Seiten ihres Buches und schließt es halb. „Du bist auf der richtigen Strecke, aber du schaust in die falsche Richtung.“
„Was soll das heißen?“
Sie deutet mit dem Kinn zum Fenster. „Schau genauer hin.“
Als ich wieder nach draußen blicke, sehe ich, dass die Stadt tatsächlich rückwärts an uns vorbeizieht. Die Häuser bewegen sich in die falsche Richtung, als würde der Zug nicht vorwärts, sondern rückwärts fahren. Oder als würde die Landschaft sich bewegen, nicht wir.
„Das ist nicht möglich.“
„In Träumen ist alles möglich.“ Sie öffnet ihr Buch wieder.
„Warte, ich träume?“
Sie seufzt, als müsste sie einem Kind erklären, dass Wasser nass ist. „Natürlich träumst du. Warum sonst würde ich mit dir reden?“
Bevor ich antworten kann, öffnet sich die Abteiltür, und ein Mann tritt ein. Er hat graue Schläfen und trägt einen abgetragenen Anzug, der mal teuer gewesen sein muss. Seine Augen sind so dunkel, dass ich keine Pupillen erkennen kann.
„Ist hier noch frei?“ Seine Stimme klingt, als käme sie durch einen alten Lautsprecher.
Obwohl das Abteil fast leer ist, wartet er auf eine Antwort. Die Frau nickt ihm zu, ohne aufzusehen. Er setzt sich neben sie und zieht eine Zeitung aus seiner Jackentasche, die er sorgsam auseinanderfaltet. Die Schlagzeile lautet: „Zug verschwunden – Passagiere werden vermisst.“
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. „Darf ich mal sehen?“ Ich strecke die Hand nach der Zeitung aus.
Der Mann zieht sie zurück. „Das ist nicht für dich bestimmt.“
„Aber—“
„Lass ihn in Ruhe.“ Die Frau schaut mich streng an. „Er liest immer dieselbe Zeitung. Seit Jahren.“
Der Mann schaut sie irritiert an. „Seit Jahren? Ich bin doch gerade erst eingestiegen.“
„Für dich vielleicht.“ Sie wendet sich wieder ihrem Buch zu. „Für mich bist du schon eine Ewigkeit hier.“
Ich reibe mir die Augen. Etwas stimmt hier ganz und gar nicht. Der Zug scheint schneller zu werden, das Rattern der Räder auf den Schienen wird lauter. Draußen ziehen die Landschaften in einem Tempo vorbei, das unmöglich ist. Als würden wir durch die Zeit rasen.
Eine Durchsage knistert durch den Lautsprecher über der Tür, aber die Stimme ist so verzerrt, dass ich kein Wort verstehe. Nur einzelne Silben dringen durch das Rauschen: „…Halt…nicht…aussteigen…Gefahr…“
„Was hat die Stimme gesagt?“ Ich schaue zu den beiden anderen.
Die Frau und der Mann tauschen einen Blick aus. „Hast du was gehört?“ fragen sie gleichzeitig.
„Natürlich! Die Durchsage eben.“
„Es gab keine Durchsage.“ Der Mann faltet seine Zeitung langsam zusammen. „Du hörst Stimmen, mein Freund.“
„Aber ich habe es deutlich gehört!“
„In diesem Zug hört jeder nur, was er hören will.“ Die Frau klappt ihr Buch zu. „Oder was er hören muss.“
In diesem Moment verlangsamt der Zug seine Fahrt. Durch das Fenster kann ich einen Bahnsteig erkennen, der langsam näher kommt. Er ist leer bis auf eine einzelne Gestalt, die am Ende steht, in einem langen, dunklen Mantel.
„Wir halten? Aber das ist kein Halt auf meiner Strecke.“ Ich schaue auf mein Ticket, aber die Buchstaben darauf verschwimmen vor meinen Augen.
„Manche Halte stehen nicht im Fahrplan.“ Der Mann mit der Zeitung steht auf und knöpft sein Jackett zu. „Das sind die wichtigsten.“
Die Frau erhebt sich ebenfalls. „Wir müssen aussteigen.“
„Beide?“
„Es ist unser Halt.“ Sie nickt dem Mann zu, der die Abteiltür öffnet und ihr den Vortritt lässt.
„Und was ist mit mir?“ Ich fühle mich plötzlich panisch bei dem Gedanken, allein zurückzubleiben.
Die Frau dreht sich noch einmal um. „Du musst weiterfahren. Dein Halt kommt später.“
„Aber ich will auch aussteigen. Ich will wissen, wo wir sind.“
„Du kannst nicht aussteigen. Nicht hier.“ Der Mann schüttelt den Kopf. „Diese Station ist nicht für dich.“
Bevor ich protestieren kann, sind sie durch die Tür verschwunden. Ich springe auf und folge ihnen, aber als ich den Flur erreiche, sind sie nirgends zu sehen. Der Zug steht still, die Türen sind geöffnet, aber der Bahnsteig draußen ist nun vollkommen leer.
Als ich wieder ins Abteil zurückkehre, sitzt dort ein kleines Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen. Sie trägt ein weißes Kleid und hält eine alte Puppe im Arm, deren Porzellangesicht einen Riss hat, der von einem Auge bis zum Kinn reicht.
„Hallo,“ sagt sie mit einer Stimme, die zu alt klingt für ihr Gesicht. „Du hast deinen Halt verpasst.“
„Das war nicht mein Halt,“ antworte ich und setze mich ihr gegenüber.
„Woher willst du das wissen? Du warst ja nicht draußen.“ Sie streichelt den Kopf ihrer Puppe. „Manchmal ist der wichtigste Halt der, den wir verpassen.“
Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, langsam und zögernd zunächst, dann immer schneller. Das Rattern der Räder schwillt zu einem Brüllen an, das die Scheiben vibrieren lässt.
„Wo fahren wir hin?“ Ich muss fast schreien, um das Getöse zu übertönen.
Das Mädchen lacht. „Der Zug fährt immer dorthin, wo er hinfahren soll.“
„Aber ich meine, welcher Bahnhof? Welche Stadt?“
Sie schüttelt den Kopf, als hätte ich einen schlechten Witz gemacht. „Züge fahren nicht zu Orten. Sie fahren durch Zeit.“
Ich will antworten, aber plötzlich flackert das Licht im Abteil, einmal, zweimal, dann erlischt es ganz. Im Dunkel höre ich, wie das Mädchen mit seiner Puppe flüstert, leise Worte, die ich nicht verstehen kann. Dann kehrt das Licht zurück, aber das Mädchen ist verschwunden. Stattdessen sitzt ein alter Mann mir gegenüber, der aussieht wie eine ältere Version meiner selbst.
„Ich habe auf dich gewartet,“ sagt er mit meiner Stimme.
„Wer bist du?“
„Das weißt du genau.“ Er deutet auf mein Ticket. „Schau nach.“
Als ich auf das Ticket blicke, steht dort, wo früher das Reiseziel stand, nur ein einziges Wort: „Erkenntnis.“
„Was soll das bedeuten?“
„Es bedeutet, dass du aufhören musst zu fragen und anfangen musst zu verstehen.“ Der alte Mann legt den Kopf schräg. „Du reist schon dein ganzes Leben in diesem Zug. Du steigst ein, du steigst aus, aber du kommst nie an.“
„Das ist Unsinn. Ich bin erst heute eingestiegen.“
„Bist du sicher?“ Er zieht eine Taschenuhr hervor und öffnet den Deckel. „Was, wenn ich dir sage, dass dieser Zug dein Leben ist? Jedes Abteil ein anderer Traum, jeder Mitreisende ein Teil von dir selbst?“
Ich schaue aus dem Fenster. Der Himmel draußen hat eine unmögliche Farbe angenommen, ein tiefes Violett, durch das gelegentlich Blitze zucken.
„Ich verstehe nichts mehr,“ sage ich schließlich.
„Das ist der erste Schritt.“ Der alte Mann lächelt nachsichtig. „Verstehen beginnt mit dem Eingeständnis des Nichtverstehens.“
Der Zug wird wieder langsamer, aber draußen ist kein Bahnhof zu sehen, nur Dunkelheit und diese seltsamen Blitze, die die Nacht zerreißen.
„Wo halten wir jetzt?“
„Nirgendwo. Wir nehmen jemanden auf.“ Der alte Mann schaut zur Tür.
Als hätte er es geahnt, öffnet sich die Abteiltür, und eine Gestalt tritt ein, die vollständig in Schwarz gekleidet ist. Ihr Gesicht ist durch einen Schleier verborgen, aber ich kann spüren, dass sie mich anstarrt.
„Darf ich mich setzen?“ Die Stimme ist weder männlich noch weiblich, weder jung noch alt.
„Natürlich.“ Der alte Mann rückt zur Seite.
Die verhüllte Gestalt setzt sich neben ihn und legt die Hände im Schoß zusammen. Durch den schwarzen Stoff sehe ich, dass die Finger unnatürlich lang sind.
„Du hast Angst,“ sagt die Gestalt zu mir. Es ist keine Frage.
„Sollte ich?“
„Angst ist ein schlechter Reisebegleiter.“ Sie neigt den Kopf. „Aber manchmal ein notwendiger.“
Der alte Mann nickt zustimmend. „Ohne Angst keine Überwindung.“
„Was soll ich überwinden?“ Ich fühle mich zunehmend unwohl zwischen diesen beiden seltsamen Gestalten.
„Die Illusion, dass du weißt, wohin die Reise geht.“ Die verhüllte Gestalt hebt eine Hand und deutet auf meine Brust. „Der Weg ist nicht auf deinem Ticket verzeichnet, sondern hier drin.“
In diesem Moment durchfährt ein heftiger Ruck den Zug. Die Lichter flackern erneut, und die Luft scheint zu vibrieren. Durch das Fenster sehe ich, dass wir eine Art Tunnel betreten haben, dessen Wände aus schimmerndem, flüssigem Licht zu bestehen scheinen.
„Was ist das?“ Meine Stimme klingt dünn und ängstlich.
„Die Grenze,“ sagt der alte Mann.
„Zwischen was und was?“
„Zwischen dem, was du zu wissen glaubst, und dem, was du wirklich weißt.“ Die verhüllte Gestalt legt den Kopf in den Nacken, als würde sie an die Decke schauen. „Zwischen Traum und Erwachen.“
Das Licht im Tunnel wird intensiver, blendet mich fast. Die Konturen im Abteil verschwimmen, als würde alles zu schmelzen beginnen.
„Ich will aufwachen,“ sage ich, plötzlich von Panik erfasst.
„Bist du sicher?“ Der alte Mann beugt sich vor. „Manchmal ist der Traum klarer als das Wachen.“
Bevor ich antworten kann, kommt der Zug abrupt zum Stehen. Die plötzliche Stille nach dem Getöse ist ohrenbetäubend. Kein Rattern mehr, kein Rütteln, nichts.
„Wir sind da,“ sagt die verhüllte Gestalt und erhebt sich.
„Wo ist ‚da‘?“
„An deinem Halt.“ Der alte Mann steht ebenfalls auf. „Es ist Zeit auszusteigen.“
„Aber ich weiß nicht, wo wir sind!“
„Das weiß niemand, bis er ausgestiegen ist.“ Die verhüllte Gestalt öffnet die Abteiltür. Dahinter ist nichts zu sehen als strahlendes, weißes Licht. „Komm.“
Zögernd erhebe ich mich. Meine Beine fühlen sich schwer an, als wäre ich tagelang nicht gelaufen. „Was ist dort draußen?“
„Das, was du mitbringst,“ sagt der alte Mann und deutet auf meine Hände.
Erst jetzt bemerke ich, dass ich etwas halte. Es ist ein Schlüssel, alt und schwer, aus einem dunklen Metall.
„Wozu ist der?“
„Das findest du heraus, wenn du ihn benutzt.“ Die verhüllte Gestalt macht einen Schritt zur Seite, gibt den Weg frei. „Aber du musst dich entscheiden. Der Zug wartet nicht.“
„Und wenn ich nicht aussteige?“
„Dann fährst du weiter,“ sagt der alte Mann. „Immer weiter, von Traum zu Traum, ohne je anzukommen.“
Ich schaue zum Fenster. Draußen ist nur das weiße Licht zu sehen, keine Konturen, keine Formen, nichts, was einen Hinweis geben könnte, wo ich bin.
„Ich habe Angst,“ gestehe ich.
„Das ist gut,“ sagt die verhüllte Gestalt. „Angst zeigt, dass du verstehst, was auf dem Spiel steht.“
Ich drehe den Schlüssel in meiner Hand. Er fühlt sich warm an, fast lebendig. „Wird es wehtun?“
„Jede Geburt tut weh,“ sagt der alte Mann. „Und jedes Erwachen ist eine Geburt.“
Tief durchatmend mache ich einen Schritt auf die Tür zu, dann noch einen. An der Schwelle halte ich inne und drehe mich noch einmal um. Doch die beiden sind verschwunden. Das Abteil ist leer, die Sitze unberührt, als hätte nie jemand dort gesessen.
Mit klopfendem Herzen trete ich durch die Tür ins Licht. Für einen Moment bin ich geblendet, kann nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen außer einer intensiven Wärme, die mich umgibt. Dann, langsam, beginnen sich Konturen abzuzeichnen.
Ich stehe auf einer weiten Ebene. Der Himmel über mir ist von einem tiefen, klaren Blau, wie ich es noch nie gesehen habe. In der Ferne erheben sich Berge, deren Gipfel in Wolken gehüllt sind. Vor mir steht ein Haus, klein und einfach, mit einem Garten voller Blumen, deren Duft die Luft erfüllt.
Und in der Tür des Hauses steht eine Gestalt, die mir zuwinkt. Ihr Gesicht kann ich nicht erkennen, aber ich spüre, dass sie mir bekannt ist, vertrauter als irgendjemand sonst.
Ich schaue zurück, doch der Zug ist verschwunden. Wo er hätte stehen müssen, erstreckt sich nur die weite Ebene. Als hätte es ihn nie gegeben.
Der Schlüssel in meiner Hand wird schwerer. Ich blicke auf ihn hinab und erkenne, dass es kein gewöhnlicher Schlüssel ist. Er ist kunstvoll gearbeitet, mit Symbolen verziert, die ich nicht entziffern kann.
Als ich wieder aufschaue, steht die Gestalt direkt vor mir. Ich kann ihr Gesicht immer noch nicht sehen, aber ihre Stimme ist klar und deutlich, als sie sagt: „Willkommen zu Hause.“
„Wer bist du?“ frage ich, obwohl ich die Antwort bereits zu kennen glaube.
„Das weißt du,“ sagt die Gestalt und nimmt meine Hände in ihre. Sie sind warm und fest und real. „Ich bin der Teil von dir, der schon immer hier gewartet hat.“
„Und das Haus?“
„Dein wahres Zuhause. Das, wonach du immer gesucht hast.“ Sie nimmt den Schlüssel aus meiner Hand. „Bereit, einzutreten?“
Ich nicke, unfähig zu sprechen. Gemeinsam gehen wir auf das Haus zu. Der Weg unter unseren Füßen ist weich und gibt leicht nach, wie frisch gefallener Schnee, obwohl es ein sonniger Tag ist.
An der Tür hält die Gestalt inne und reicht mir den Schlüssel zurück. „Du musst öffnen. Es ist deine Entscheidung.“
Mit zitternden Händen führe ich den Schlüssel ins Schloss. Er passt perfekt, als wäre er dafür gemacht worden. Als ich ihn drehe, höre ich ein sanftes Klicken, und die Tür schwingt auf.
Dahinter ist kein Raum, wie ich ihn erwartet hätte. Stattdessen sehe ich einen weiteren Zugwagon, identisch mit dem, aus dem ich gerade ausgestiegen bin. Und dort, auf dem senfgelben Polster, sitze ich selbst und schlafe.
„Ich verstehe nicht,“ flüstere ich.
„Doch, das tust du.“ Die Gestalt legt eine Hand auf meine Schulter. „Du musst nur aufwachen.“
Als hätte ich auf ein Stichwort gewartet, öffne ich die Augen. Ich sitze im Zug, auf dem abgenutzten senfgelben Polster. Gegenüber von mir sitzt ein älterer Herr, der über seiner Zeitung eingenickt ist. Neben ihm eine Frau mittleren Alters, die in einem Buch liest. Durch das Fenster sehe ich eine vertraute Landschaft vorbeiziehen.
War alles nur ein Traum? Aber dann spüre ich etwas in meiner Hand – den Schlüssel, schwer und alt und aus dunklem Metall.
„Nächster Halt: München Hauptbahnhof,“ knarzt eine Stimme aus dem Lautsprecher. „Endstation. Bitte alle aussteigen.“
Die Frau schaut von ihrem Buch auf und lächelt mir zu. „Gut geschlafen?“
Ich nicke langsam. „Ich hatte einen seltsamen Traum.“
„Träume im Zug sind die besten,“ sagt sie und klappt ihr Buch zu. „Sie erzählen uns, wohin wir wirklich reisen.“
Ich schaue auf den Schlüssel in meiner Hand, dann zum Fenster hinaus, wo die Stadt langsam näher kommt. Und für einen Moment, einen kurzen, flüchtigen Moment, meine ich, mein eigenes Gesicht zu sehen, das mir aus der Spiegelung entgegenblickt – älter, weiser, als hätte es etwas verstanden, was ich noch nicht begreife.
Der Zug wird langsamer. Es ist Zeit auszusteigen.