Schwelle aus Moos

1
Es regnet. Natürlich regnet es.
Ich sitze unter dieser beschissenen Buche und warte. Worauf, weiß ich nicht mehr. Vielleicht darauf, dass der Regen aufhört. Vielleicht darauf, dass ich endlich den Mut fasse.
Mein Name ist Kaé. Ich bin die Letzte aus Rann. Zumindest glaube ich das. Die Stadt ist abgebrannt, die Leute sind weg, und ich sitze hier im Dreck und denke an meinen Bruder.
Joren ist vor einem Jahr verschwunden. In die Zone, sagen sie. Niemand kommt von da zurück. Aber gestern habe ich seine Stimme gehört. Nicht laut. Mehr so ein Echo im Kopf.
Ich greife nach dem Messer in meinem Stiefel. Die Klinge ist stumpf, aber es beruhigt mich. Joren hat mir den Griff geschnitzt, damals, als noch alles normal war.
Hinter den Bäumen flackert etwas. Kein Licht. Eher wie Hitze, nur dass es scheißkalt ist.
Vielleicht ist heute der Tag.
2
Ich erinnere mich an den Tag, als sie kamen.
Ich war dreizehn. Mutter versteckte mich im Backofen zwischen altem Blech und Ruß. Joren stand vor dem Haus, den Blick geradeaus. Drei Typen in Uniform, einer mit einer Maske wie eine Fliegenlarve.
Sie zählten die Mädchen. Immer die Mädchen.
„Wo ist die Zweite?“, fragten sie Joren.
Er spuckte auf den Boden. „Tot. Ihr kommt zu spät.“
Der mit der Maske trat ihm ins Knie. Ich sah es durch den Spalt in der Wand. Tat nichts. Sagte nichts.
Sie nahmen drei Mädchen mit. Eine kam zurück. Ohne Augen.
Joren ging ein Jahr später. Ließ nur ein Messer und einen schwarzen Stein auf dem Tisch. Mit einem eingeritzten Symbol. Eine Null.
Ich trage den Stein jetzt um den Hals. Er wird warm, wenn ich an Joren denke.
3
Der Wald ist voller Schatten.
Nicht richtige Schatten. Eher Erinnerungen an Menschen. Sie bewegen sich zwischen den Bäumen, transparent, stumm. Manchmal erkenne ich Gesichter. Leute aus Rann. Alle tot.
Ich folge einem Pfad zum Bach. Das Wasser ist schwarz und zeigt keine Spiegelbilder. Am Ufer finde ich eine alte Mauer. Moosüberwachsen, fast unsichtbar. In den Stein ist dasselbe Symbol eingeritzt wie auf Jorens Stein.
Ich berühre es.
Die Luft wird schwer. Der Boden unter mir vibriert. Dann höre ich es wieder.
Seine Stimme.
„Kaé… nicht durch den Tunnel… sie sind dort…“
Das war’s. Nur Rauschen danach.
Aber es reicht. Er lebt. Irgendwo.
4
Der Eingang zur Zone ist ein Riss in der Erde.
Bläuliches Licht quillt heraus wie aus einer offenen Wunde. Kein Geräusch. Nur diese Kälte, die bis in die Knochen kriecht.
Ich stehe am Rand und schaue hinein. Mein ganzer Körper sagt nein. Aber mein Kopf sagt: Joren.
Also gehe ich.
Der Tunnel ist eng, die Wände feucht. Nach hundert Metern wird es weiter. Ein runder Raum mit Boden aus poliertem Holz. Darauf liegt eine Karte. Aus Rinde. Eingeritzte Linien, Berge, Flüsse.
Am Rand steht: „Trägerin 7 – gehe nicht den direkten Weg.“
Trägerin. So hat mich das Mädchen genannt. Mira. Vor zwei Tagen, glaube ich. Die Zeit funktioniert hier nicht richtig.
In der Ecke bewegt sich etwas. Kein Tier. Kein Mensch. Ein Schatten ohne Körper. Er starrt mich an, obwohl er keine Augen hat.
Ich gehe rückwärts raus. Langsam. Wer rennt, verliert.
5
Mira steht mitten im Feld.
Barfuß, in einem schmutzigen weißen Kleid. Die Augen milchig weiß. Sie lächelt schief, als hätte sie vergessen, wie es geht.
„Du hast den falschen Weg genommen“, sagt sie.
„War der einzige.“
„Du trägst den Riss. Das, was sie nicht finden dürfen.“
„Wer?“
Sie berührt meine Stirn. Kalt wie Eis. Und plötzlich sehe ich Bilder. Joren in einer Kammer. Maschinen um ihn herum. Seine Haut grau, die Augen zu wach.
„Die Zone ist kein Ort“, höre ich seine Stimme. „Sie ist ein Echo. Von dem, was wir getan haben.“
Das Bild zerreißt.
„Wenn du ihn finden willst“, flüstert Mira, „musst du durch den See. Den ohne Spiegel.“
Dann ist sie weg. Einfach so.
6
Der See liegt schwarz zwischen den Hügeln.
Kein Wind. Keine Vögel. Nur diese Stille, die wehtut.
Am Ufer steht ein halb versunkenes Gebäude. „Unit 07 – Rückzugskorridor“ steht über dem Eingang. Die Tür ist offen.
Drinnen riecht es nach Angst und altem Metall. In einem der Räume finde ich ein Namensschild: MIRA. Zu klein für einen Erwachsenen.
In der Kommandozentrale blinkt ein roter Knopf. Ich drücke ihn.
Rauschen. Dann Jorens Stimme, brüchig und leise:
„Kaé… wenn du das hörst… nicht durch den Tunnel… sie sind dort… ich bin nicht mehr ganz…“
Ich drücke den Knopf wieder. Nichts.
Hinter mir ein Geräusch. Etwas huscht durch den Gang. Die Temperatur fällt.
Aus dem Lautsprecher: „Kaé, lauf.“
Ich renne.
7
Die schwarze Mauer steht mitten im Nichts.
Hoch wie ein Haus, glatt wie Glas. In der Mitte das Symbol. Die Null, aber diesmal mit einem Riss hindurch.
Ich berühre das Metall. Es ist warm.
Und ich sehe ihn.
Joren in einer Kammer voller Maschinen. Lebende Maschinen mit Wurzeln aus Draht. Er hält etwas in der Hand. Es glüht.
„Der Nullpunkt ist lebendig“, sagt er. „Und es will dich.“
Das Bild zerbricht.
Am Boden liegt ein Ring. Schwarz, mit der Gravur „7 – Trägerin“.
Ich stecke ihn ein.
Hinter der Mauer höre ich Schritte. Und ein Flüstern: „Du gehörst uns.“
Ich laufe, bis meine Lungen brennen.
8
Der Boden bricht unter mir weg.
Ich falle in eine Kammer aus altem Beton. Rissige Wände, Tropfen von der Decke. An der Wand: die Konturen einer Tür. Keine echte Tür. Nur Linien, und in der Mitte das Symbol.
Ich berühre es.
Strom schießt durch meinen Kopf. Die Welt flackert. Transparente Gestalten schweben im Raum. Eine Frau in Uniform. Ein Kind, das rückwärts läuft. Ein Mann ohne Gesicht.
Dann bin ich woanders.
Auf einer Wiese. Sonne, warmer Wind, Bienen. Viel zu normal.
„Kaé“, sagt Joren.
Er steht vor mir. Sauber, die Augen klar. Wie früher.
„Du musst zurückgehen.“
„Ich bin fast da.“
„Du trägst den Bruch. Es wird dich zwingen.“
Ich will ihn berühren. Er weicht zurück.
„Wenn du weitergehst, wird nichts mehr ganz sein.“
Das Bild reißt.
Ich bin wieder in der Kammer. Die Tür glüht.
Und sie ist offen.
9
Ich gehe durch Korridore ohne Ende.
Verlassene Räume, zerbrochene Geräte, Betten für Kinder. In einem Spind hängt ein Kleid. Zu klein. Das Namensschild sagt MIRA.
Dann: ein runder Raum. In der Mitte ein Becken mit quecksilbriger Flüssigkeit. Darüber schwebt ein Auge. Ein Symbol.
Ich schaue in das Becken.
Und sehe mich. Aber anders. Die Haut grau, die Augen leer. Auf der Stirn das Zeichen. Die Null.
Ich schreie.
Dunkelheit.
10
Vor mir steht eine Tür aus Salz.
Kristallin, glitzernd, mit einer runden Mulde in der Mitte.
Mira erscheint. Barfuß, blutiges Kleid, weiße Augen.
„Du bist zu spät“, sagt sie.
„Für was?“
„Für Joren. Für dich. Für alles.“
Schwarzes Blut tropft von ihren Fingern.
„Was ist hinter der Tür?“
„Nicht wo. Wann.“
Sie zeigt auf meine Brust. „Den Stein.“
Ich reiße Jorens Stein von der Kette. Drücke ihn in die Mulde.
Die Tür zischt, leuchtet, löst sich auf.
Dahinter: Dunkelheit.
Und Jorens Stimme: „Kaé…“
Ich trete durch.
11
Ich stehe auf einem Hügel.
Vor mir liegt Rann. Unversehrt. Rauch steigt aus den Schornsteinen. Kinderlachen. Stimmen.
Aber es ist falsch. Zu sauber. Zu perfekt.
Ich sehe Mutter auf der Bank vor dem Backhaus. Jünger. Und neben ihr einen Jungen. Joren. Zehn Jahre alt, lachend.
Das ist nicht mein Rann. Das ist Vergangenheit.
Der Trupp kommt. Drei in Uniform. Sie zählen die Mädchen. Aber diesmal nehmen sie auch Mira mit. Sie ist älter hier, vielleicht fünfzehn. Sie geht, ohne zurückzublicken.
Der Himmel wird rot. Die Dächer brennen. Alles gleichzeitig. Kein Grund. Nur Hitze.
Dann: Stille.
Asche fällt.
An die Mauer hat jemand geschrieben: „Sie kamen von unten. Wir sind zu spät.“
12
Joren sitzt auf einem Stein.
Seine Haltung kenne ich. Aber das Gesicht… Die Haut hat Risse. Darunter flackert Licht. Etwas pulsiert unter seiner Stirn.
„Joren?“
Er dreht sich um. Seine Stimme ist wie früher, nur langsamer.
„Kaé.“
„Was ist mit dir passiert?“
„Ich bin geblieben. Als es riss.“
„Warum ich?“
„Weil du den Bruch trägst, ohne ihn zu benutzen.“
Er steht auf. Schwer. Alles an ihm ist schwer.
„Wenn ich gehe, geht es mit.“
„Dann lass es hier.“
„Das geht nicht.“ Er zeigt auf sich. „Es ist hier.“ Dann auf mich. „Und jetzt auch in dir.“
„Was soll ich tun?“
„Entscheiden. Willst du tragen oder löschen.“
„Was ist schlimmer?“
„Tragen.“
„Und was ist wahr?“
„Dass du mich nicht retten kannst.“
Er legt mir die Hand auf die Stirn. Glühend heiß.
Dann geht er. Einfach so.
Der Himmel reißt auf.
Darunter: die Null.
13
Es regnet wieder.
Ich stehe vor der letzten Schwelle. Ein Rechteck im Moos, verborgen unter Wurzeln. Ich streiche das Moos weg.
Stein. Schwarz. Mit einem runden Hohlraum in der Mitte.
Hier gehörte Jorens Stein hin.
Ich lege die Hand darauf.
Die Welt knickt.
Ich stehe in einer Lichtung. Ringsum Bäume, die sich nicht bewegen. Vor mir: eine Linie im Boden. Ein Riss. Schmal, tief, endlos.
Dahinter: etwas.
Ich weiß: Wer den Schritt macht, kehrt nicht zurück.
Jorens Stimme in meinem Kopf: „Wenn du gehst, wirst du es sein.“
Ich schaue zurück. Niemand da. Kein Weg. Nur ich.
Mit allem.
Ich atme ein.
Und gehe.
ENDE