As Time Goes By

Nachtzohne

Mauerschatten

Ich sitze da, die Wand im Rücken. Kalt, feucht, rau wie die Blicke, die man nicht mehr austauscht. Der Regen hat nachgelassen, aber das Wasser klebt noch in meinen Haaren, in den Nähten meiner Jacke, in meinem Nacken. Die Mauer hinter mir ist alt, zerfressen, wie alles hier. Beton, Ruß, Moos. Und dazwischen: ich.

Man hat uns vergessen. Oder verdrängt. Wahrscheinlich beides. Seit der Dritte Rückzug ausgerufen wurde, ist es still geworden hier unten. Keine Durchsagen mehr. Keine Evakuierungen. Kein Licht.

Die anderen sind fort. Die meisten jedenfalls. Nur noch ein paar von uns kriechen durch die Reste der alten Transitkanäle, hocken in versunkenen Höfen, tauschen Geräusche gegen Nähe. Ich bleibe allein. Meistens. Nicht aus Stolz. Nicht aus Angst. Es ist einfacher so.

Heute früh hab ich was gehört. Schritte. Nicht die schlurfenden von jemandem, der zu lange ohne Hoffnung war. Nein, echte. Leise. Schnell. Zielsicher. Jemand, der wusste, wo er hinwollte.

Vielleicht bin ich ihm gefolgt. Vielleicht hab ich gehofft, dass da etwas ist. Eine Nachricht. Ein Zeichen. Ein Gesicht, das sich erinnert. Stattdessen sitze ich wieder hier. Knie angezogen. Schultern hochgezogen. Augen offen.

Der Wind weht durch die Lücken im Mauerwerk, trägt den Geruch von feuchtem Metall und brennendem Plastik mit sich. Und etwas anderes. Eine Ahnung. Wie ein Versprechen, das keiner mehr aussprechen will.

Ich schließe die Augen für einen Moment. Nur kurz. Nur um zu vergessen, dass ich mich erinnere.

Der Lärm unter dem Licht

Ich höre ihn, bevor ich ihn sehe.

Ein Kratzen. Kein Tier. Kein Wind. Auch kein Echo von mir selbst. Das hier ist anders. Der Ton ist unregelmäßig, aber zielgerichtet. Jemand tastet sich durch das alte Raster aus Gängen und Mauern, und ich kann nicht sagen, ob er weiß, dass ich ihn höre. Oder ob er will, dass ich es tue.

Ich rutsche tiefer in den Schatten, drücke mich an die Wand. Der Beton ist klamm, weich an der Oberfläche, fast wie Haut. Das Moos saugt den Schweiß aus meinem Rücken. Ich zähle innerlich: Drei Schritte, Pause. Zwei schnelle, dann wieder Stillstand. Er steht jetzt irgendwo hinter der Biegung.

Früher war hier ein Versorgungsschacht. Eine Belüftungseinheit, vielleicht. Heute: ein Riss in der Karte. Niemand weiß mehr, wie tief es runtergeht. Oder was unten wartet.

Ich war einmal weiter unten. Zu tief. Kein Licht. Kein Geräusch. Nur diese Stille, die sich in die Knochen schiebt. Danach hab ich nie wieder versucht, hinabzusteigen.

Der Kratzlaut setzt wieder ein. Leiser. Näher.

Ich schiebe mich vorsichtig am Rand der Mauer entlang. Langsam. Lautlos, wie man das eben lernt, wenn man lange genug hier ist. Jeder Laut kann dich verraten. Und manchmal bedeutet das nicht Tod – sondern Begegnung. Und die sind schlimmer. Begegnungen tragen Erinnerungen mit sich.

Die Schritte hören auf.

Ich halte den Atem an. Zähle diesmal schneller.

Plötzlich – ein Lichtkegel. Flach, matt, flirrend. Kein echtes Licht. Eine alte LED vielleicht, modifiziert. Er scannt die Umgebung. Ich ducke mich reflexhaft, spüre, wie mein Herz gegen die Wand schlägt, als wollte es raus aus diesem Körper.

Dann seh ich ihn.

Jung. Zu jung für diesen Ort. Zerlumpter Overall, notdürftig geflickt. Die Taschen vollgestopft mit Kleinkram: Kabel, Schaltteile, irgendwas Rundes, das klappert. Seine Augen wandern wie Suchscheinwerfer – nicht panisch, aber gezielt. Er weiß, dass er nicht allein ist. Und er hofft, dass er sich irrt.

Ich ziehe mich zurück in die Schatten, schleiche ein Stück weg, dann hinter ihm vorbei. Alte Gewohnheit. Besser du beobachtest zuerst. Fragen kannst du später.

Er ist vorsichtig, das muss ich ihm lassen. Setzt sich nicht einfach hin. Dreht sich immer wieder um. Als wäre er auf der Flucht. Oder auf der Suche.

In seinem Nacken: ein ausgefranster Streifen. Altrosa, verblasst. Ich erkenne das Muster. Das war einmal ein Transitband aus Sektor Dämmerung. Mein Herz schlägt schneller.

Ich war dort. Vor Jahren. Vielleicht vor Jahrzehnten. Schwer zu sagen. Zeit zählt hier unten anders. Nur das Licht lügt nicht.

Plötzlich knackt etwas unter seinem Schuh. Metall? Nein – Knochen. Wahrscheinlich alt. Wahrscheinlich.

Er zuckt zusammen. Dreht sich. Und jetzt sieht er mich.

Nur für einen Moment.

Unsere Blicke treffen sich, stürzen ineinander, reißen wieder ab. Ich verharre. Er auch. Wie zwei Tiere, die sich nicht einordnen können.

Dann – er rennt. Kein Laut. Nur Staub. Ich folge.

Nicht aus Neugier. Nicht aus Angst.

Nur weil ich endlich mal wieder einen Grund habe, irgendwohin zu gehen.

Fehler im Protokoll

Er liegt zusammengesackt hinter einem alten Wartungsgitter, halb in einem Kabelschacht, halb im Dreck. Der Lichtkegel aus seiner selbstgebauten Lampe flackert noch, schwach, flimmert über seine Finger, die um einen zerschrammten Metallzylinder gekrampft sind. Blut. Dunkel, dick. Kein frisches. Keins, das schreit – aber eines, das bleibt.

Ich bleibe stehen, einen Schritt entfernt. Nah genug, um ihn atmen zu hören. Weit genug, um zu verschwinden, falls es eine Falle ist.

Seine Lippen bewegen sich, aber kein Ton kommt raus.

Ich geh in die Hocke. Langsam. Ich will nicht sprechen. Sprache ist Verrat. Hier unten hört alles mit. Die Mauern. Die Rohre. Die Schatten.

„Du blutest.“

Es kommt rau aus meinem Mund. Staub hat sich auf meine Stimmbänder gesetzt, wie Sediment in einem verfallenen Hafen.

Er reagiert nicht. Nur sein Blick – hell, unstet – flackert kurz in meine Richtung. Dann wieder weg.

Ich nehme ihm den Metallzylinder aus der Hand. Nicht ohne Widerstand. Seine Finger wollen nicht loslassen. Reflex. Leben. Oder etwas davon.

Das Ding ist kein Zylinder. Es ist ein Speichermodul. Alt. Militärisch. Oberzonenstandard vor dem Dritten Rückzug. Ich erkenne die Prägung:

Reg. P-9: Zugriff nur mit Licht-ID

Ich hab lange keinen mehr gesehen. Die meisten wurden vernichtet. Offiziell wegen „Korruptionsgefahr“. Inoffiziell, weil sie Wahrheit gespeichert hatten.

Ich sehe ihn wieder an.

„Woher hast du das?“

Keine Antwort. Aber in seinem Blick liegt etwas. Kein Trotz. Keine Angst. Mehr so was wie… Wissen. Als hätte er es erwartet.

Ich lege das Modul beiseite, ziehe ein Stück Stoff aus meiner Tasche – ein alter Filterstreifen, sauber genug. Drücke es gegen seine Seite. Er verzieht das Gesicht. Kein Schrei. Kein Wort.

„Wie heißt du?“ Ich frage nicht aus Interesse. Ich brauche nur einen Namen. Etwas, das ich sagen kann, falls er stirbt.

Er presst ein Wort durch die Zähne. „Jori.“

Ich nicke, sage nichts. Der Name passt nicht zu ihm. Klingt zu weich.

„Jori, du wirst nicht verbluten. Nicht jetzt.“

Ich sage es, aber ich weiß es nicht. Ich hab kein Verbandszeug. Keine Spritzen. Nur zwei Hände, die nicht mehr an Rettung glauben.

Ich helfe ihm auf. Er ist leichter als ich dachte. Ich ziehe ihn mit letzter Kraft in einen ehemaligen Kontrollraum. Tür klemmt, aber sie schließt. Genug für jetzt.

Drinnen: flackernde Monitore, ein toter Schaltkasten, leere Felder auf einem Terminal. Ich schalte nichts ein. Ich warte. Beobachte.

Seine Augen sind halb offen. Ich nehme das Modul, schiebe es in einen alten Datenport. Vielleicht ein dummer Fehler. Vielleicht nicht.

Der Bildschirm bleibt schwarz. Dann: ein Summen. Ein Wort erscheint. Nur eines:

FEHLER IM PROTOKOLL

Ich starre auf das Wort. Es blinkt nicht. Es schreit.
Denn wenn das da steht, dann wurde es nicht gelöscht.
Dann ist da etwas geblieben.
Etwas, das sie vergessen wollten.
Oder ich.

Hinter mir atmet Jori flach. Er sieht mich an. Und ich sehe es in seinen Augen:
Er wusste es.
Er wusste, dass ich es lesen würde.

Und jetzt will er wissen, was ich damit tue.

Hafen 9

Ich träume nicht mehr oft. Aber in der Nacht, in der Jori blutend neben mir liegt und der Bildschirm im Kontrollraum dieses eine Wort wiederholt – Fehler –, da träume ich.

Ich sehe Licht.

Kein warmes, kein weiches. Das grelle Weiß der Oberzone, gefiltert durch Sicherheitsglas und metallbeschichtete Wände. Ich sehe meinen Vater, wie er mich an der Hand hält, sagt: „Nur kurz, Marit. Wir müssen runter, aber wir kommen zurück. Versprochen.“

Ich war sieben. Oder neun. Vielleicht elf.

Wir sind nicht zurückgekommen.

Als ich aufwache, ist Jori verschwunden. Nicht weit. Er sitzt an der Wand, sein Gesicht halb im Schatten, das Modul auf den Knien. In der Hand hält er etwas anderes – eine zerfledderte Papierkarte. Echtes Papier. Kaum zu glauben, dass sowas noch existiert.

Ich gehe zu ihm, setze mich nicht. Stehe nur da.

„Woher hast du das?“

Er antwortet nicht. Rollt die Karte langsam aus. Ich sehe alte Linien, verblasst, aber noch lesbar: Versorgungskanäle, Zugangsstationen, Energiehauptverteiler. Und da – ein eingekreister Punkt in roter Tinte.

Hafen 9

Ich atme flach. Der Name kriecht in mir wie ein alter Geruch. Ich habe ihn gehört. Flüsternd, bruchstückhaft. Von einem Ort, an dem es noch einen Aufstieg gibt. Nicht offiziell. Nicht erlaubt. Aber da.

Ich knie mich neben ihn.

„Das ist ein Mythos.“

Er sieht mich an. Sein Blick ruhig. Klar.

„Und wenn nicht?“

Ich schweige.

Er fährt mit dem Finger über eine Linie, die vom südlichen Lichtabfluss-Sektor bis zum Punkt Hafen 9 führt. Eine alte Wartungsader, längst gesperrt. Vielleicht eingestürzt. Vielleicht bewacht.

„Das hier“, sagt er, „ist der einzige Weg, den sie vergessen haben.“

„Niemand vergisst was in der Oberzone.“

„Doch“, sagt er. „Dich.“

Ich zucke. Nicht sichtbar, aber spürbar. In mir drin.

Er redet weiter.

„Ich hab eine Schwester dort oben. Oder hatte. Sie wurde durchgelassen. Nicht offiziell. Es war… arrangiert. Danach kam nichts mehr. Keine Nachricht. Kein Code. Nichts. Ich hab ihr Bild hochgeschickt – und nie Antwort bekommen.“

Er zieht ein altes Gerät aus der Jacke. Kein Transmitter. Eher ein Funkmodul. Modifiziert. Antennenschrott. Er schaltet es ein. Nur Rauschen.

„Ich versuch’s jeden Tag. Seit drei Jahren.“

„Warum jetzt?“, frage ich. „Warum Hafen 9?“

„Weil das Rauschen sich verändert hat.“

Ich starre ihn an.

„Du glaubst, die Antwort liegt da drin?“

„Nein“, sagt er. „Aber der Ausgang vielleicht.“

Ich will lachen. Aber ich kann nicht. Ich kann ihm nicht glauben. Aber ich kann auch nicht mehr nur hierbleiben.

„Wie viele Zonen?“ frage ich.

„Fünf“, sagt er. „Drei davon offen. Zwei fraglich. Und eine… da gibt’s Gerüchte.“

Ich zeige auf die Karte. „Was ist das hier?“

Er schweigt. Dann:

„Die Rattenlinie.“

Ich nicke. Ich kenne sie. Jeder kennt sie. Keiner geht da durch. Nicht mehr. Seit… dem, was dort passiert ist.

„Also gut“, sage ich. „Wir gehen. Aber nur, wenn du wieder gehen kannst.“

Er nickt. Und ich merke: Er hätte auch allein weitergemacht. Mit einem Loch in der Seite. Ohne mich.

Ich nehme die Karte. Fühle das brüchige Papier unter meinen Fingern. Die Linien, die jemand vor Jahren oder Jahrzehnten gezogen hat, zittern leicht in der Dunkelheit.

Hafen 9.

Vielleicht nur ein Name. Vielleicht ein Tor.

Oder einfach ein Ort, an dem man sterben kann, ohne allein zu sein.

Die Rattenlinie

Wir stehen an der Schwelle wie zwei Figuren auf einem vergessenen Spielfeld. Vor uns: ein Loch im Boden. Dunkel, stumm, atemlos. Rostige Gitterstreben halten sich kaum noch selbst. Der Luftzug riecht nach altem Öl, Metallstaub und irgendwas… Tierischem.

Ich kenne diesen Geruch. Ich hab ihn einmal in der Nähe der alten Biokammern wahrgenommen. Damals sagten sie, es seien Fehlproduktionen. Genetische Restmengen. Unbrauchbar, aber nicht gefährlich.

Lüge.

„Wir steigen nicht runter“, sage ich. „Wir rutschen.“

Jori nickt. Er spricht wenig seit dem Erwachen. Ich glaube, das Blut hat ihn ausgelaugt. Oder er denkt nach. Vielleicht beides.

Ich lasse mich zuerst gleiten. Die Finger umklammern das Gitter, die Sohlen gleiten über glitschige Rohre. Ich höre ihn hinter mir. Zwei Sekunden Abstand. Diszipliniert. Kein Gepolter. Kein Fluchen.

Dann schlucken uns die Wände.

Die Rattenlinie ist kein Tunnel. Sie ist ein Irrtum. Ein Raum, der nie hätte betreten werden sollen.

Die Luft steht. Die Dunkelheit hat Gewicht. Alles, was ich sehe, bewegt sich. Selbst wenn es nicht sollte.

Wir gehen langsam. Nur mit Taschenlampen. Keine Sprachkommunikation. Nur Zeichen. Zwei Finger: Stopp. Offene Hand: Hörst du das? Geschlossene Faust: Zurück.

Nach etwa zwanzig Minuten taucht die erste Bewegung auf.

Etwas huscht über den Boden. Klein. Kein Geräusch, außer dem Kratzen von Krallen auf Plastikbeton. Dann ein zweites. Dann drei.

Ich bleibe stehen. Zeige Jori zwei Finger.

Er nickt.

Wir warten.

Ein Schatten bleibt stehen. Nah. Zu nah.

Die Kreatur ist… menschlich. Fast.

Gekrümmter Rücken. Kahl. Haut grau wie getrockneter Lehm. Keine Augen. Keine Stimme. Nur ein Zucken im Gesicht, als würde der Mund an etwas kauen, das nicht da ist.

Sie sieht uns nicht. Oder ignoriert uns.

Ich flüstere. Zum ersten Mal seit Stunden:

„Vergessene.“

So nennen wir sie. Die, die zu lange hier unten waren. Deren Erinnerungen wie altes Fleisch zerfallen sind.

Sie rührt sich nicht. Dann dreht sie sich um – oder besser: sie rollt in eine andere Richtung. Ihre Bewegungen haben nichts Menschliches mehr.

Jori steht wie erstarrt. Ich berühre ihn kurz. Nur die Schulter.

Weiter.

Zehn Minuten später erreichen wir eine breite Kammer. Darin: Müll. Reste. Knochen.

Und in der Mitte: ein Licht.

Nicht weiß. Nicht gelb. Ein zitterndes Grün, das aus einem zerborstenen Kontrollpult tropft wie Flüssigkeit.

Jori geht hin. Ich will ihn zurückziehen – zu gefährlich, zu sichtbar. Aber dann sehe ich: Er kennt das.

Er schiebt ein Kabel in das alte Interface. Dann flackert ein Hologramm auf. Nur schemenhaft.

Ein Fragment.

„Zugang Hafen 9 durch Segment G-23 nur mit Archivcode aktivierbar… Transitstatus: suspendiert… Sicherheitsprotokoll läuft seit 4.213 Zyklen…“

Dann – Stille.

„Das ist der Weg“, sagt Jori.

Ich nicke nicht. Ich sage nichts.

Denn neben dem Licht, am Boden, liegt ein Gegenstand.

Ein Schlüsselband. Dunkelblau. Mit der Prägung:
Marit K—, Technik Oberzone, Protokolleinheit

Ich hebe es nicht auf. Ich nehme es nicht mit. Ich drehe mich nur um und gehe weiter.

Jori folgt mir.

Hinter uns bewegt sich etwas.

Archiv

Der Raum ist leer. Leer auf eine Art, wie es nur alte Verwaltungsräume sein können – von allem gesäubert, was je Bedeutung hatte. Ein Schreibtisch, verschmolzen mit dem Boden. Zwei Stühle, einer umgestürzt. Ein Sichtschirm, blind. Und in der Mitte: ein Terminal.

Kein Staub. Keine Spuren. Nur Stille.

Jori bleibt an der Tür stehen, den Rücken zur Wand. Seine Augen tasten die Decke ab. Alte Gewohnheit, sagt er. Er scannt gern Fluchtwege, selbst wenn es keine mehr gibt.

Ich gehe zum Terminal. Zögere. Dann: eine Berührung. Das alte Glas summt. Eine feine, organische Vibration – wie eine Erinnerung, die fast gelöscht wurde.

„Zugangscode erforderlich“

Ich schiebe das Schlüsselband über den Sensor. Es blinkt. Ich erwarte Ablehnung. Aber dann – ein Piepen. Und das Wort:

Willkommen, Protokoll-Mitarbeiterin K—

Ich spüre, wie mir die Kehle trocken wird. Nicht vor Überraschung. Vor Wut.

Sie haben mich nicht gelöscht.

Sie haben mich archiviert.

Das Terminal erwacht wie ein schlafender Hund: misstrauisch, schwerfällig, bereit zu beißen.

Ein Menü öffnet sich. Drei Punkte.

  1. Rückzugsstatistik
  2. Protokollphase 3
  3. Individueller Zugriff

Ich zögere. Dann wähle ich 2.

Die Anzeige lädt. Langsam. Es ist, als würde sie sich wehren. Dann – Text.

„Protokollphase 3: Vereinzelung / Datenbereinigung / Realitätsabgleich. Ziel: dauerhafte Trennung nicht priorisierter Bevölkerungseinheiten von urbanen Lebenssystemen. Kommunikationsbrücken deaktiviert. Archivierung läuft weiter bis Systemstabilität erreicht ist.“

Ich lese es dreimal. Dann noch einmal.
Sie nennen es nicht Vertreibung. Sie nennen es Vereinzelung.
Kein Verlust. Kein Mord.
Nur Optimierung.

Jori tritt neben mich.
„Du warst Teil davon?“

Ich nicke nicht. Ich schüttle nicht den Kopf.
Ich starre einfach weiter auf das Wort: Archivierung.

Er deutet auf Menüpunkt 3.
„Individueller Zugriff.“

Ich klicke.
Das System fragt: „Name oder ID eingeben.“

Ich tippe: Marit
Dann: K-44 – die Nummer, die sie mir gaben.

Es lädt. Dann erscheint ein Protokolleintrag. Datum: vierzehn Jahre zurück.

Ein Video. Ich erkenne mein jüngeres Ich. Blaßer. Glatter. Uniformiert. Ich sitze an einem Tisch, spreche in eine Konsole.

„Ich beantrage Rückverlegung von Familie K— in die Oberzone. Begründung: technische Ausbildung, soziales Engagement, gesundheitliche Indikation. Ich bin bereit, gegen Lebenszeitverträge an der Transitzentrale zu arbeiten. Ich wiederhole: Ich akzeptiere die Bedingungen.“

Ich schließe die Augen. Ich erinnere mich.
Sie haben mich akzeptiert. Aber nicht uns.

Ich wurde „aufgeschoben“.
Meine Familie nicht.

Ich habe überlebt, weil ich unterschrieben habe. Und dann… kam niemand zurück.

Jori sagt nichts. Seine Hand liegt leicht auf dem Rand des Terminals. Ich weiß nicht, ob als Halt oder als Grenze.

„Du hast nicht versagt“, sagt er leise. „Sie haben dich benutzt.“

Ich will ihm glauben. Aber mein Gesicht brennt. Mein Magen zieht sich zusammen wie ein Knoten aus alten Drähten.

Ich lösche das Video nicht. Ich speichere es. Auf das Modul. Irgendwann werde ich es jemandem zeigen. Vielleicht mir selbst.

Dann tippe ich den letzten Befehl ein: Kartenabgleich Hafen 9

Die Anzeige flackert. Dann erscheint eine neue Karte. Beweglich, dynamisch.

Ein Pfad leuchtet auf. Drei Stationen. Danach: ein Bereich ohne Struktur. Nur das Wort:

Unkartiert

Ich drehe mich zu Jori.
„Dort liegt der Ausgang.“

Er nickt.
„Oder der Anfang.“

Ich sehe mich noch einmal um. Kein Papier. Kein Blut. Kein Beweis, dass wir je hier waren.

Als wir gehen, löscht sich der Bildschirm von selbst.

Kein Licht bleibt zurück.

Übertragung

Das Signal erwischt uns in einem Gang ohne Wände. Die Wände sind da – klar – aber sie wirken… aufgelöst. Zersetzt vom Licht, das durch Haarrisse in der Decke sickert. Ein zitterndes Flackern, als würde jemand über unseren Köpfen mit einer Taschenlampe Morsezeichen senden.

Wir laufen schon eine Stunde. Vielleicht zwei. Reden kaum. Jori hinkt nicht mehr, aber seine Schritte sind schwerer. Meiner auch. Die Karte zeigt nur noch zwei Stationen bis zum Unkartierten Raum. Und dahinter… nichts.

Oder alles.

Dann plötzlich:

Knacken.

Nicht laut. Kein Echo. Nur wie ein elektrisches Zucken durch den Raum.

Jori bleibt stehen. Greift in seine Jacke, zieht das Funkgerät raus.
Das alte, kaputte, das nie etwas brachte.

Es knackt wieder. Und diesmal – ein Geräusch.

Ein Atemzug.

Dann eine Stimme.

„…Testsequenz aktiv… Empfang nicht stabil… Wiederhole… Zugangspunkt blockiert…“

Wir starren uns an. Jori drückt das Gerät näher an sein Ohr. Dreht an einem kleinen Rädchen, vorsichtig, als könnte eine falsche Bewegung die Stimme zerreißen.

„…bitte… hören Sie mich? Hafen 9 liegt brach… niemand kam zurück…“

Ich schnappe nach Luft.
Die Stimme ist weiblich. Bruchstückhaft. Aber sie klingt jung.

„Deine Schwester?“, flüstere ich.

Jori zuckt mit den Schultern. Er weiß es nicht. Oder wagt es nicht zu glauben.

Das Funkgerät knackt wieder. Dann Stille.

Dann:

„…sie lassen niemanden mehr durch… selbst wenn du ankommst… es wird nicht reichen…“

Ich sehe ihn an.
„Das ist eine Falle.“

„Oder ein Warnruf.“

„Vielleicht beides.“

Er nimmt das Modul, versucht zurückzufunken. Aber das Gerät bleibt tot. Kein Ton. Nur ein Flackern im Display, das nichts bedeutet.

„Was meinte sie mit: es wird nicht reichen?“

Er schüttelt den Kopf. Dann zeigt er auf die Karte.
„Nächste Station. Von da aus könnten wir stärker senden.“

„Oder endgültig entdeckt werden.“

Sein Blick ist fest.
„Wir sind das Rauschen geworden. Jetzt hören sie zu.“

Der nächste Kontrollpunkt liegt halb eingestürzt im Boden. Eine Art Relaisstation – wir müssen klettern, durch Kabelschächte, vorbei an zerquetschten Drohnen und toten Anzeigen.

Drinnen finden wir eine Energiezelle, halb aktiv. Jori verbindet sein Modul, koppelt das Funkgerät an einen offenen Port. Es dauert Sekunden. Dann Sekunden, die wie Stunden kriechen.

Ein neues Signal erscheint.

Nur drei Worte.

Nachtzone ist gefallen.

Ich schließe die Augen.
„Was meinst du – gefallen?“

„Vielleicht…“ Er stockt.
„…dass wir nicht mehr alleine sind.“

Oder dass alles zusammenbricht. Auch oben.

Wir sehen uns nicht an. Aber wir wissen, was das heißt.

Hoffnung. Oder Untergang.

Und vielleicht ist dazwischen kein Unterschied mehr.

Stimmcode

Sie sitzt auf einem umgestürzten Schachtdeckel, den Rücken gegen eine Wand aus glattem Stein, der nicht hierhergehört.

Ihre Augen sind offen, wach, klar. Alles andere an ihr ist brüchig. Die Haut: wie Papier unter Regen. Die Hände: schmal, vernarbt. Die Lippen: versiegelt durch Stille.

Sie spricht nicht. Nicht, weil sie nicht will – sondern weil sie nicht mehr kann.

Ich sehe es sofort. Die Ränder um ihren Hals – feine Implantatnarben. Ein veraltetes Stimmcode-Modul, direkt unter dem Kehlkopf. Ich hab davon gehört. Programme, die Sprache durch Zugriffscodes ersetzen.

Ein Tausch: Stimme gegen Zugang.

Sie hebt die Hand, zeigt zwei Finger – dann auf uns. Ich nicke. Zwei Personen. Keine Gefahr. Noch nicht.

Sie nimmt ein altes, flaches Gerät aus ihrer Tasche. Es sieht aus wie ein Notizfeld, aber älter. Digitalpapier, sagt man. Noch seltener als echte Worte.

Sie schreibt mit dem Finger. Die Linien erscheinen langsam, als müsste sie sich an Buchstaben erinnern.

„Willkommen in Stufe Delta.“

Ich nicke. Deute auf das Stimmgerät in ihrer Kehle.
„Freiwillig?“

Sie schreibt:

„Zwang durch Angebot.“

Jori steht still. Seine Hand am Griff seines Werkzeuggürtels. Nicht drohend – eher beruhigend. Als müsse er sich selbst festhalten.

Ich frage weiter.
„Was kriegt man dafür?“

„Erinnerung. Zugang. Namen.“

Ich verstehe nicht. Oder nicht ganz.
„Wessen Namen?“

Sie sieht mich lange an. Dann tippt sie auf mein Schlüsselband.
Und schreibt:

„Deiner war gelöscht. Ich habe ihn gesehen.“

Ein Schauer läuft mir den Rücken runter.
„Du warst in einem Archiv?“

„Bin eine Archivarin gewesen. Bevor…“

Ich nicke. Kein Bedarf, den Satz zu beenden.

„Sie tauschten unsere Stimmen gegen unsere Gesichter. Die, die keine Stimme mehr hatten, wurden nicht mehr erkannt. Also konnten sie uns nicht mehr vertreiben.“

Ich brauche einen Moment, um das zu begreifen.
Nicht sprechen – um zu bleiben.

Jori tritt vor.
„Kennst du Hafen 9?“

Sie blinzelt. Dann wieder der Finger. Schreiben:

„Alle kennen es. Aber niemand kommt zurück.“

„Warum?“

Sie schreibt langsamer. Der Finger zittert.

„Weil das, was du oben findest, dich unten nicht mehr kennt.“

Ich atme flach. In meinem Kopf flackert das Bild meines jüngeren Ichs. Die Uniform. Der Antrag. Das Versprechen.

„Wie lange warst du dort?“ frage ich.

Sie sieht mich an.
Dann:

„Länger als meine Stimme hält.“

Als wir gehen, drückt sie mir ein kleines Fragment in die Hand – ein Speicherplättchen, kaum größer als ein Fingernagel.

„Zeigt dir, wer du warst. Oder wer du nicht mehr bist.“

Ich nehme es. Schweigend.

Keine Stimme mehr – aber ihre Worte hallen lange nach.

Der schiefe Turm

Ich erkenne den Turm nicht sofort.

Er steht da wie ein Zahn, halb herausgebrochen aus dem Fleisch der Erde, schief, zerschnitten vom Licht, das durch gesprungene Deckenplatten fällt.

Früher war er ein Signalknoten. Kommunikationszentrum zwischen den unteren Ebenen und der alten Dämmerzone. Ein halber Turm nur – der Rest stürzt senkrecht in ein dunkles Loch.

Ich war hier. Vor Jahren. Mit meinem Vater. Er trug mich auf den Schultern, sagte, von oben könne man das Licht sehen, wenn man Glück habe.

Wir hatten keins.

Jori bleibt unten. Seine Beine sind schwach, der Atem flach. Ich steige. Stufe für Stufe. Kein Geländer mehr. Kein Halt. Nur ein Ziehen in den Knien und das Zittern in der Brust.

Die Luft wird dünner. Nicht physisch – emotional. Als würde jeder Meter nach oben die Erinnerung freilegen.

Oben angekommen finde ich das, was früher ein Steuerpult war. Jetzt: verrostet, von Kabeln umwuchert wie von Pflanzen.

Ich lege das Speicherplättchen ein, das mir die Frau mit dem stummen Hals gegeben hat.

Der Bildschirm flackert. Kein Bild. Nur Ton.

„Name: Marit K—. Zugangsebene: Delta-Null. Archivstatus: Verschoben. Letzter Transferantrag: Abgelehnt.“

Dann ein Klick. Und eine Stimme.
Meine Mutter.

„Bitte – mein Mann ist tot. Meine Tochter ist unten. Sie hat gearbeitet. Sie hat gedient. Ihr habt gesagt, ihr prüft es. Aber wir haben nichts mehr gehört. Ich… ich bitte euch. Lasst sie zurück.“

Ich presse meine Hände gegen den Bildschirm.
Die Stimme bricht ab.

Dann:

„Antwort: Antrag gelöscht. Kommunikation beendet.“

Ich falle zurück. Die Knie geben nach. Ich rutsche die Wand entlang, bis mein Rücken auf den Boden trifft.

Ich habe sie vergessen. Nicht absichtlich. Aber funktional.
Wie man Dinge vergisst, um zu überleben.

Der Turm wankt nicht. Aber in mir wird es schief.
Der Raum. Die Luft. Mein Gleichgewicht.

Ich bleibe lange oben. Bis das Licht sich ändert. Bis es von künstlichem Gelb in ein schmerzhaftes Blau kippt.

Unten wartet Jori.
Ich sehe ihn nicht, aber ich weiß es.

Er wird fragen, ob ich was gefunden habe.
Ich werde nicken. Aber nicht erzählen. Noch nicht. Vielleicht nie.

Denn was ich da oben gefunden habe, war kein Weg. Keine Lösung. Keine Karte.

Es war Schuld.

Und sie wiegt schwerer als alles, was wir noch tragen müssen.

Der Preis

Die Tür zu Segment G-23 ist nicht verschlossen. Das macht es schlimmer.
Verschlossene Türen kann man hassen. Diese hier – die wartet. Still. Offen.

Der Scanner daneben blinkt. Ein rotes Auge. Ruhig. Erwartungsvoll.
Darunter das Wort:

Lichtidentifikation erforderlich

Jori tritt näher. Zieht das Modul aus der Tasche. Hält es vor den Sensor.
Nichts. Kein Signal. Kein Zugriff.

„Nicht kompatibel“, sagt er. „Alte Serie.“

Ich spüre, wie sich etwas in mir verschiebt. Ein Gedanke, der schon länger da war – aber jetzt spricht er.

„Nur einer kann durch.“

Er sieht mich an. Sagt nichts. Aber seine Augen… sie sagen genug.

Ich gehe zum Scanner. Zögere. Dann ziehe ich das Schlüsselband aus meiner Tasche – das mit dem Namen, der nicht mehr mir gehört. Oder nie ganz.

Ich halte es hin.
Das Licht springt um. Grün.

Identifikation bestätigt. Transfer möglich. Eine Person. Sicherheitsprotokoll aktiv.

Jori schluckt. Leise. Wie jemand, der weiß, dass es keine Wahl mehr gibt.

„Du gehst“, sage ich.

„Nein.“

„Doch.“

„Du hast den Code. Du bist Teil des Systems.“

„Genau deshalb.“

Ich nehme seine Hand. Lege das Band in seine Finger. Er zögert, will es mir zurückgeben.

Ich halte ihn fest.

„Du bist jung. Du hast noch Namen. Ich bin nur eine Lücke im Protokoll.“

Er schüttelt den Kopf.
„Du bist der Beweis.“

Ich lache. Trocken.
„Beweise verschwinden. Jeden Tag.“

Wir schweigen. Die Tür blinkt. Geduldig.

Ich tippe den Notfallcode ein. Transfertimer beginnt: 120 Sekunden.

Jori steht still. Seine Schultern zu schwer. Seine Augen zu offen.

„Wenn ich gehe“, sagt er, „was bleibt dann von dir?“

Ich antworte nicht.

Ich lege die Hand auf die Wand. Spüre, wie das System mich erkennt. Noch einmal. Zum letzten Mal.

Dann drehe ich mich um. Gehe zurück. Weg von der Tür.

Transfer startet.

Ein Rauschen. Dann Licht.

Ich sehe ihn nicht mehr. Nur das Nachbild seines Gesichts.

Und das leere Geräusch einer Tür, die sich schließt.

Kreel

Ich weiß sofort, dass ich nicht allein bin.
Nicht an der Art, wie sich die Luft verändert. Sondern am Geruch.

Etwas zwischen altem Öl, Feuer und Haut.

Der Raum ist groß – ehemals Lagerhalle, heute ein Bienenstock aus Matratzen, notdürftigen Wänden und gespannten Stoffplanen.

Sie beobachten mich, bevor ich sie sehe.

Die ersten treten aus den Schatten wie Nebel, der plötzlich Form bekommt.
Schlanke Körper. Gesichter voller Linien. Keine Kinder. Keine Alten. Nur Überlebende in mittlerem Zerfall.

Und dann: Kreel.

Er kommt nicht näher. Sitzt in einer Art Sessel – zusammengeschweißt aus Plastikstühlen und alten Gitterrosten.
Ein improvisierter Thron.

Er trägt keine Uniform, kein Zeichen, keinen Schmuck. Nur eine Stimme, die nicht fragt.

„Du kommst von oben.“

Ich sage nichts.

„Du riechst nach Hoffnung.“

Ich spucke auf den Boden. Nicht aus Trotz. Aus Müdigkeit.

„Erzähl mir, was du suchst.“

„Nichts mehr.“

Er lacht. Tief. Heiser.

„Lüg nicht, das ist was für die, die noch was zu verlieren haben.“

Ich bleibe stehen. Atme ruhig. Die anderen rücken nicht näher. Noch nicht.

„Ich suche nur Stille“, sage ich.

„Dann bist du zu spät. Wir haben hier nur Lärm.“

Er deutet auf die Wände.

„Gedanken, die nicht rausdürfen. Stimmen, die nicht mehr gehört werden. Und Geister, die wiederkommen.“

Ich sehe ihn an.

„Was willst du?“

„Dass du gehst.“

„Nach oben?“

Er schüttelt den Kopf.

„Es gibt kein Oben. Es gibt nur das Hier.“

Ich gehe zwei Schritte näher.
„Was ist mit Hafen 9?“

Ein Murmeln geht durch die Menge. Wie Wind, der durch einen Drahtzaun streicht.

„Hafen 9 ist ein Witz. Eine Narbe. Eine Geschichte für die, die noch träumen.“

„Und wenn es kein Traum mehr ist?“

Er erhebt sich. Langsam. Schwer. Seine Beine wirken fest wie Säulen, seine Schultern wie ein Betonblock.

„Dann wird dich das Erwachen zerbrechen.“

Ich könnte jetzt sagen, dass ich weiter muss. Dass ich keine Zeit habe.
Aber die Wahrheit ist: Ich will wissen, was hier geblieben ist. Warum sie nie gegangen sind.

„Warum seid ihr hier?“ frage ich.

Er sieht mich lange an. Dann:

„Weil wir irgendwann aufgehört haben, nach oben zu schauen.“

Ich bleibe eine Nacht. Höre ihnen zu. Ihre Geschichten. Ihre Verluste. Ihre Wut.
Sie nennen sich selbst die Gleichgewichse. Keine Identität. Kein Ursprung. Nur Dasein.

Am Morgen bin ich wieder allein.
Keine Verabschiedung. Kein Blick. Nur Stille.

Und doch weiß ich: Kreel hat mich nicht aufgehalten.

Er hat mich gewarnt.

Die Schwelle

Der Gang endet nicht. Er löst sich auf.

Wände, Decke, Boden – alles verschwimmt. Keine sichtbaren Grenzen mehr, nur noch Licht. Nicht das grelle Weiß der Oberzone. Auch kein Dunkel. Sondern ein flaches, waberndes Grau. Wie Asche im Schwebezustand.

Ich bin allein. Vollständig. Ohne Geräusche. Ohne Richtungen.

Ein letzter Schritt, und ich stehe vor der Tür.

Keine Technik mehr. Kein Scanner. Kein Code. Nur eine ovale Öffnung im Mauerwerk, von etwas umgeben, das wie Haut aussieht. Lebendig, pulsierend. Es riecht nach Metall und Erinnerung.

Ich berühre den Rand. Er vibriert. Zieht sich nicht zurück. Er wartet.

Du bist angekommen.

Der Gedanke ist nicht meiner. Oder nicht ganz. Er formt sich in mir, aber ich habe ihn nicht erzeugt.

Ich betrete den Raum.

Innen: nichts. Kein Monitor. Kein Archiv. Kein Licht.

Nur eine Präsenz.

Ich weiß nicht, ob ich gesehen werde – oder gespürt.

Dann: eine Stimme.

„Du hast dich entschieden.“

Ich sehe niemanden.

„Du bist nicht gestorben. Du bist geblieben.“

„Was ist das hier?“ frage ich. Meine Stimme klingt fremd.

„Das, was zwischen unten und oben liegt. Zwischen dir und dem, was du geglaubt hast zu sein.“

Ich atme. Flach. Schwer.

„Ist dies der Ausgang?“

„Nein.“

Ich will schreien. Aber ich bin zu müde.

„Es ist ein Spiegel. Und der Ausgang ist das, was du darin nicht erkennst.“

Ich drehe mich im Kreis. Da ist keine Spiegelung. Kein Bild.

„Bist du bereit, nicht zu wissen, was du wirst?“

Ich zögere. Dann:
„Ja.“

„Dann tritt durch.“

Die Wand öffnet sich. Kein Licht dahinter. Kein Geräusch.

Nur ein Raum aus Nichts.

Ich gehe. Schritt für Schritt. Ohne Blick zurück. Ohne Sicherung.

Der letzte Gedanke, der mir bleibt, ist kein Gedanke.

Es ist der Satz:

Vielleicht bin ich nicht gekommen, um zu fliehen. Sondern um zu bleiben.

Nachtruhe

Ich erwache.

Nicht wie sonst. Kein Zucken, kein Schweiß, keine Ahnung von Zeit.
Nur Öffnen. Von Augen. Von Bewusstsein.

Ich liege nicht. Ich stehe nicht. Ich bin dazwischen.

Licht? Vielleicht. Geräusche? Nein. Nur ein inneres Summen. Wie ein Ton, der immer da war, aber bisher unter der Haut geschlafen hat.

Ich spreche:
„Hallo.“

Es ist meine Stimme. Aber klarer. Jünger. Ohne Sand.

Ich wiederhole:
„Hallo.“

Der Raum antwortet nicht. Die Welt auch nicht.

Ich gehe.

Die Wände sind nicht aus Stein. Sie sind… Licht. Bewegtes Licht. Keine Farbe, kein Glanz – nur Konsistenz. Ich kann hindurchsehen und gleichzeitig nicht.

Und dann: ein Gesicht.

Meins.

Oder: wie ich früher war. Glatt. Hoffend. Mit Augen, die nach oben sahen, obwohl sie es nicht durften.

Ich trete näher. Die Spiegelung bleibt stehen.
Ich hebe die Hand. Sie auch.

Dann spricht sie.

„Du bist zu spät.“

Ich antworte nicht.

„Du bist zu früh.“

Ich nicke. Irgendwie stimmt beides.

„Du bist geblieben, weil niemand dich zurückgerufen hat.“

Ich schließe die Augen.

„Und nun bist du das, was bleibt.“

Der Raum verändert sich. Oder ich.

Ich sehe Fragmente:
– Jori, der durch Licht tritt, das ihn nicht erkennt.
– Die Frau ohne Stimme, die lächelt, obwohl niemand es hört.
– Kreel, der in einer Flamme sitzt und nicht verbrennt.
– Mein Vater, der sagt: „Nur kurz, Marit. Wir kommen zurück.“

Ich weine nicht. Ich lache nicht. Ich existiere.

Und das reicht.

Nachtruhe aktiviert.

Ich spüre, wie alles sich schließt.

Nicht als Ende.

Sondern als Beginn von etwas, das keine Worte mehr braucht.

Kein Licht für uns

[JORI]

Oben ist alles heller, ja.
Aber das Licht tut weh.

Es blendet nicht nur die Augen – es löscht. Es wäscht Farben aus Gesichtern, Details aus Erinnerungen, Schmutz aus der Geschichte.

Ich wurde registriert.
An der Schleuse haben sie mir einen neuen Namen gegeben.
Keine Fragen. Nur Scans, Protokolle, ein Flimmern in den Augen der Techniker.

Sie haben das Band behalten.
Sie haben gesagt, es sei beschädigt.
Sie haben gesagt, es sei nicht mehr relevant.

Ich fragte nach Marit.
Niemand kannte den Namen.

Ich fragte nach Hafen 9.
„Eingestellte Route.“

Ich fragte nach Archivstatus K-44.
„Fehler im Protokoll.“

Also nickte ich.
Unauffällig. Integrierbar.
Ein weiterer Rückkehrer, der nie fort war.

Ich habe ihre Stimme mitgenommen.
Nicht in Geräten. Nicht in Aufzeichnungen.
In mir.

Manchmal schreibe ich Worte an Fensterscheiben.
Mit Fingerkuppen, die zu zittern beginnen, wenn niemand hinschaut.

Nachtruhe, schreibe ich.
Und lösche es, bevor es jemand lesen kann.


[MARIT]

Ich weiß nicht, wie lange ich hier bin.
Oder ob „hier“ noch ein Ort ist.

Manchmal höre ich Schritte.
Nicht echt. Aber vertraut.
Als würde jemand an meiner Wand vorbeigehen, die kein Material mehr hat.

Ich spreche selten.
Aber ich schreibe.

Worte, die niemand sieht.
Sätze, die sich selbst lesen.

Ich bin nicht tot.
Ich bin nicht zurückgekehrt.
Ich bin… geblieben.

Und das ist vielleicht genug.

Denn nicht jede Geschichte endet mit Licht.
Manche enden mit der Weigerung, es zu brauchen.

Kein Licht für uns.
Kein Vergessen.
Kein Ende.

Nur Ruhe.


[Ende]

made by Xbyte jade heilstein einfach schnell gesund kochen einfach schnell gesund vegan Tierkommunikation