As Time Goes By

Nachts allein

PROLOG

Manche Nächte kleben wie ein nasser Film auf der Haut.

Du gehst durch sie hindurch wie durch eine Erinnerung, die nie deine war. Keine Stimme ruft dich. Kein Ort erwartet dich. Und doch gehst du weiter – weil das Stehenbleiben das Lauteste wäre.

Ich erinnere mich nicht an meinen Namen, nicht wirklich. Vielleicht war ich mal jemand. Vielleicht auch viele. Die Stadt hat mir alles gegeben, was ich nicht brauchte. Und das, was ich suchte, hat sie eingemauert hinter Glasscheiben und Nummern.

Ich trage rote Schuhe, als wäre ich auf dem Weg zu einem Fest. Bin aber längst gegangen. Habe nichts vergessen – nur vergraben.

Über mir summt die Drohne. Unter mir der Asphalt. Dazwischen ich. Noch da. Noch nicht still. Noch nicht…

Und das muss reichen.

„Wer sich erinnert, ohne zu wissen, woran – der beginnt zu leuchten im Nebel.“

– Fragment aus dem Roten Archiv

Zwischen den Zeilen

Ich gehe, weil ich nicht weiß, wohin. Oder weil ich es zu genau weiß und lieber vergesse, bevor ich ankomme. Die Straßen glänzen vom Regen, wie frisch poliert, aber keiner schaut hin. Nicht mal ich. Ich zähle Schritte, nicht Sekunden. Und Schritte sind einfacher als Entscheidungen.

Das Hemd ist nicht meins. Es riecht nach jemand anderem. Nach einer Nacht, die ich jetzt in Einzelteilen durch den Nebel trage. Ein Absatz knickt fast weg. Ich lache leise. Ich trage meine Würde wie eine schlechte Ausrede – in rotem Lack und mit Lippenstiftflecken am Kragen.

Da ist dieses Summen über mir, fast wie Insekten. Zwei Drohnen, vielleicht Überwachung, vielleicht nur gelangweilte Technik. Vielleicht fliegen sie mir nach. Vielleicht ist das jetzt normal. Alles ist irgendwie normal geworden, selbst das, was sich wie ein Film anfühlt.

Ich klammere mich an die kleine Tasche in meiner Hand. Fast leer. Keine Schlüssel. Kein Plan. Nur eine Karte. Eine Adresse, die ich nicht lesen will. Und eine Telefonnummer, die ich nicht wählen werde.

Hinten das Licht eines Autos, ein ferner Motor. Ich gehe weiter. Ich bleibe aufrecht. Nicht wegen Stolz. Wegen Trotz. Oder Gewohnheit. Oder weil es keinen anderen Weg gibt, in dieser Stadt, wo die Nächte einem nichts versprechen außer sich selbst.

Und trotzdem – irgendwas in mir sagt: Noch nicht umkehren. Noch nicht stehen bleiben. Noch nicht…

Die Karte

Ich sitze auf einer stillgelegten Straßenbahnhaltestelle, irgendwo zwischen gestern und nirgendwo. Das Schild ist verrostet, der Fahrplan längst verblasst, und mein Atem malt kleine Gespenster in die feuchte Luft. Neben mir: die Clutch. Klein, unscheinbar, blutrot. Wie ein Stück Theater in einer Kulisse aus Beton und Vergessen.

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich sie eingesteckt habe. Vielleicht hat Elias sie mir in die Hand gedrückt, vielleicht hab ich sie selbst aus einem Jackett gezogen, das nicht mir gehörte. Egal. Sie gehört jetzt zu mir wie der Kater hinter den Augen.

Ich öffne sie. Nur ein paar Dinge drin. Lippenstift, den ich nie benutzt habe. Ein Knopf. Schwarz, abgerissen. Und die Karte.

Sie ist vergilbt, wie aus einer anderen Zeit. Auf der Rückseite: eine Adresse. Handgeschrieben. Krumm, fast kindlich. „Sector 4 // Pavillon C – archiviert“. Kein Absender. Nur ein roter Kreis um ein kleines, kaum sichtbares Zeichen: ein durchgestrichenes Auge.

Ich tippe die Adresse in mein Terminal. Nichts. Kein Eintrag. Kein Weg. Der Bildschirm flackert kurz, dann friert er ein. Für einen Moment scheint es, als würde mich das kleine Ding aus der Tasche direkt ansehen. Ich schlage es zu.

Zone 4. Ich war nie dort. Früher hieß es, da würden nur die leben, die nichts mehr verlieren können. Die Offlines. Die Stillen. Die, die sich nicht mehr einloggen, nicht mehr antworten, nicht mehr gefunden werden wollen. Vielleicht finde ich da, was mir fehlt. Oder verliere den letzten Rest, den ich noch habe.

Ich stehe auf. Die nassen Pflastersteine glitzern im Licht einer defekten Laterne, die alle paar Sekunden zittert.
Ein Wagen fährt vorbei. Scheiben dunkel, keine Nummer, keine Geräusche.

Ich gehe los.

Und irgendwo, zwischen Karte und Straße, beginnt mein zweiter Name langsam zu atmen.

Letzte Nacht

Es war nicht geplant. Nichts davon war geplant. Nicht das Hemd. Nicht Elias. Nicht das Gedicht an der Wand.

Ich erinnere mich an Musik, die keiner hörte, weil alle nur auf die Bässe warteten. An die flackernden Neonröhren über der Theke. An den Geruch nach billigem Parfum und verbranntem Zucker. An die Frage, die Elias mir stellte, während er den Rauch einer Zigarette auf seiner Zunge zähmte:

„Glaubst du, dass du echt bist?“

Ich lachte. Ein trockenes, reflexartiges Geräusch, das nichts bedeutete. Ich antwortete nicht. Ich bestellte einen Drink, obwohl ich den letzten noch nicht getrunken hatte. Irgendwas mit Anis und Pfeffer. Es brannte angenehm.

„Du wirkst, als hättest du gestern schon gewusst, dass du heute rennst“, sagte er und zog mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Vielleicht bist du ja eine von denen.“

„Wovon redest du?“, fragte ich. Doch in seiner Stimme lag kein Angebot zur Erklärung. Nur ein Echo.

Er trug einen Mantel, der zu groß war für seine Schultern. Und an der Innenseite seines rechten Handgelenks – kaum sichtbar – ein Tattoo. Zwei Halbkreise, die sich fast berührten. Wie eine offene Klammer.

Er führte mich in ein Café, das offiziell geschlossen war. Der Kellner begrüßte ihn mit einem Nicken, als wäre das hier sein Wohnzimmer. Kein Schild, kein Name, nur ein blauer Lichtstreifen über der Tür und eine Melodie, die wie ein flüchtiger Traum durch die Luft schwebte.

Dort lag sie auf dem Tisch. Die Karte. Zwischen zerknüllten Servietten und einem Notizbuch mit eingerissenen Seiten.

Ich fragte nicht, warum sie dort war. Ich fragte auch nicht, ob sie für mich gedacht war. Ich nahm sie einfach. So wie man einen verlorenen Gegenstand aufhebt, von dem man glaubt, er könnte ein Teil der eigenen Geschichte sein.

Später in der Nacht, als die Straßen leer waren und meine Schuhe irgendwo unter einem Sofa lagen, stand ich im Bad und betrachtete mich im Spiegel. Die Frau dort war still. Kein Make-up, kein Lächeln. Nur Augen, die aussahen, als hätten sie einen Namen vergessen, den sie nie aussprechen durften.

Dann fiel der Strom aus. Für genau sieben Sekunden. Und in diesen sieben Sekunden sagte Elias nur einen Satz:

„Du bist nicht wer du denkst.“

Ich antwortete ihm nicht. Ich nahm das Hemd vom Stuhl, zog es über, steckte die Karte in die Tasche und ging. Keine Umarmung. Kein Abschied.

Nur die Drohnen über den Dächern. Und dieses Gefühl, dass irgendwo jemand begonnen hatte, meine Geschichte umzuschreiben.

Zone 4

Zone 4 beginnt nicht mit einem Schild. Kein „Willkommen“, kein Verbot. Nur ein leicht anderes Geräusch unter den Schuhen. Der Asphalt hier klingt hohl, als würde man über etwas gehen, das vergessen wurde. Vielleicht ein Leben. Vielleicht mehrere.

Die Karte führt mich in eine Gegend, die man in den offiziellen Stadtplänen nicht mehr findet. Früher Industrie, dann Umsiedlung, dann nichts. Jetzt: Mauern mit bröckelnder Farbe, Fenster mit eingeschlagenen Scheiben, Türen, die sich nur noch vom Wind bewegen lassen.

Und dann dieses Gebäude. Ein altes Geschäft, halb eingestürzt. In verblichener Schrift steht über dem Eingang: „KOSMOS BÜCHER – Archiv & Leihstelle“.
Die Tür klemmt. Ich muss mich mit der Schulter reindrücken.

Drinnen riecht es nach feuchtem Papier, Staub und Metall. Es dauert, bis ich erkenne, dass jemand da ist. Zwischen den Regalen bewegt sich eine Silhouette. Langsam. Ohne Eile. Als hätte sie alle Zeit der Welt – oder keine mehr.

„Suchst du was?“ Die Stimme klingt heiser, rau wie ein alter Teppich.
Ich trete näher. Eine Frau, Ende fünfzig vielleicht. Graues Haar, streng zurückgebunden, ein Mantel, der früher mal zu einer Uniform gehört haben könnte.

„Rakel“, sagt sie, bevor ich fragen kann. „Oder willst du einen anderen Namen hören? Ich hab ein paar.“

„Ich hab… eine Karte“, sage ich, wie ein Kind, das etwas gefunden hat und nicht weiß, ob es verboten ist. Ich reiche sie ihr.

Sie wirft nur einen Blick drauf und schnaubt. „Aha. Roter Kreis. Durchgestrichenes Auge. Alte Schule.“

„Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass du entweder zu neugierig bist… oder schon zu weit drin. Wahrscheinlich beides.“

Sie nimmt die Karte und dreht sie in der Hand, als würde sie ein Muster lesen, das ich nicht sehen kann.

„Setz dich“, sagt sie dann. Kein Bitte. Kein Vielleicht.
Ich gehorche.

Sie verschwindet hinter einem Vorhang aus alten Vorhängen – und kommt zurück mit einer Teekanne und zwei Tassen. Eine davon hat einen Sprung.

„Warum bist du hier?“, fragt sie.

Ich zucke mit den Schultern. „Weil ich nicht zurück kann.“

Sie nickt. „Das ist nie der beste Grund. Aber meistens der ehrlichste.“

Dann stellt sie eine kleine Kiste auf den Tisch. Aus Holz. Abgenutzt. Darauf eingeritzt: „MEM 5.2 – fragmentarisch“

„Was ist das?“

„Ein Spiegelbuch“, sagt Rakel. „Zeigt dir, was du gesehen hast. Oder was du hättest sehen sollen. Kommt drauf an, wie sehr du dir selbst vertraust.“

Ich schaue sie an. Ihre Augen sind nicht hart. Nur müde. Müde vom Warten, vom Erinnern.

„Wenn du’s anschaust“, sagt sie leise, „kannst du nicht mehr zurück. Dann wirst du Fragen stellen, auf die keiner antwortet. Auch ich nicht.“

Ich lege die Hand auf den Deckel.

„Ich will wissen, wer ich war“, sage ich.

Rakel hebt eine Augenbraue.

„Na dann, Mädchen. Viel Glück beim Verlieren.“

Spiegeltext

Ich hebe den Deckel vorsichtig, als würde darunter etwas leben, das man nicht aufwecken sollte. Die Kiste knarzt. Kein mechanischer Klick, kein Aufleuchten. Nur: Stille.

Innen liegt ein flacher Block. Schwarz. Matt. Dünner als Papier, kälter als Glas. Kein Einschaltknopf, kein Interface. Nur meine Spiegelung darauf – blass, zerdrückt, fremd.

„Wie funktioniert das?“ Meine Stimme klingt zu laut in dem Bücherstaub.

Rakel zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Ist alt. Vor-Kollaps. Einige sagen, es liest dich. Andere sagen, es zeigt nur das, was du schon weißt, aber nie gesagt hast.“

Ich strecke die Finger aus. Kaum berührt, flackert die Oberfläche auf. Wie eine Pfütze, in die man tritt. Kreise, Linien, Bilder. Eine Bewegung, und das Ding atmet.

Ein Flimmern. Dann: ein Mädchen. Schwarz-weiße Aufnahme. Vielleicht acht oder neun. Lacht. Dreht sich im Kreis. Ihre Haare sind geflochten. Zwei Zöpfe. Ein rotes Kleid, das in diesem Licht nur grau aussieht. Im Hintergrund ein Fenster. Gittern davor. Draußen: nichts. Nur Licht.

Die Szene wechselt. Dieselbe Person, älter. Zwölf? Dreizehn? Sitzt an einem Tisch, zeichnet. Die Kamera (wenn es eine ist) wackelt, als würde jemand zusehen. Dann – plötzlich – wird das Bild rot. Störgeräusche. Und ein Wort flackert über das Display:
LYRA

Ich zucke zurück.

„Kennst du das Mädchen?“, fragt Rakel ruhig.

Ich will Nein sagen. Aber meine Kehle ist trocken. Ich habe dieses Lachen schon gehört. In einem Traum. In einem Treppenhaus. In einer Stimme, die meine gewesen sein könnte.

„Das ist nicht mein Name“, sage ich. Und weiß, dass ich lüge.

Rakel nickt langsam. „Manche Namen werden gelöscht. Andere… verlagert.“

Das Gerät zeigt jetzt ein Schulformular. Lyra Tenner. Geburtsdatum: unvollständig. Aufenthaltsort: Klassifiziert. Kontaktperson: – leer.

Dann: ein Bild von mir. Jetzt. Dieselben Augen. Anderes Lächeln. Unter der Aufnahme: „vermisst / re-integriert“

„Was heißt das?“, frage ich. „Re-integriert?“

Rakel gießt Tee ein, der längst kalt ist. „Heißt: man hat dich gefunden. Oder ersetzt. Oder beides. Heißt: du bist nicht verschwunden. Du bist nur… ersetzt worden. Im System. Von einer Version, die funktioniert.“

Ich starre auf das schwarze Rechteck, das sich jetzt wieder abdunkelt. Meine Spiegelung kehrt zurück. Augenringe, verschmiertes Make-up, ein Lächeln, das keins ist.

„Wenn ich Lyra bin – wer bin ich dann jetzt?“

Rakel schaut mich lange an. „Jemand, der fragt. Und das ist gefährlich.“

Draußen sirren die Drohnen. Tiefer jetzt. Näher.

Rakel steht auf, schiebt ein Regal zur Seite. Dahinter: eine Treppe nach unten.

„Du willst mehr wissen. Dann komm. Aber ab hier ist Schluss mit Zufall.“

Ich nehme das Spiegelbuch mit. Es ist schwerer, als es aussieht.

Und ich weiß: Ich gehe nicht mehr zurück.

Elias’ Spur

Der Keller riecht nach Eisen. Nicht nach Blut. Noch nicht.

Rakel geht vor mir, eine alte Petroleumlampe in der Hand. Das Licht tanzt über Reste von Dingen, die mal wichtig waren: Kassettenhüllen, Notizfetzen, ein Bildschirm mit zerbrochener Ecke. Ein Kabelbaum hängt von der Decke wie Gedärm aus einer aufgerissenen Maschine.

„Hier unten“, sagt sie, „vergisst das System, dass du lebst.“

Wir erreichen einen schmalen Raum, in dem jemand wohnt – oder gewohnt hat. Eine Matratze, Bücher, eine zerbrochene Brille auf dem Boden. An der Wand: Skizzen. Gesichtsstudien. Immer derselbe Mann, aus verschiedenen Winkeln. Und ich erkenne ihn. Natürlich.

Elias. Mit geschlossenem Mund. Mit halb geöffnetem Mund. Mit offenen Augen, die mich nicht sehen. Als wäre er in das Papier eingezogen, als Teil der Faserstruktur.
Und eine Notiz darunter, mit krakeliger Schrift:
„Er wusste es. Vor dem Treffen. Vor mir. Vor ihr.“

„Wer hat das gemalt?“, frage ich.

„Tomek“, sagt Rakel. „Ein Künstler. Oder ein Medium. Kommt drauf an, ob du an sowas glaubst.“

„Wo ist er?“

„Versteckt. Er wechselt Orte, Namen, sogar Hände, wenn’s sein muss. Hat sich den Daumen zertrümmert, nur um keine biometrische Spur zu hinterlassen. Ich bring dich hin. Wenn du ihm eine Frage stellst, stell sie zweimal. Die erste ist für die Oberfläche. Die zweite für das Echo.“

Sie reicht mir ein zusammengerolltes Stück Stoff.
„Hier. Trag das. Tarnung. Deine Kleidung schreit nach Außenwelt.“

Ich schlüpfe in das, was früher mal eine Uniform war – weichgewaschene Ärmel, ein aufgenähtes Abzeichen, halb abgerissen: ein Kreis, in dem eine Linie zittert.
„Alte Kurierin?“, frage ich.

„Könnte sein. Könnte auch jemand gewesen sein, der nur schnell sterben wollte.“

Wir verlassen den Keller durch einen Lüftungsschacht, kriechen über Dächer, vorbei an Kameras mit blinden Linsen. Die Stadt verändert sich mit jedem Schritt.
Zone 4 ist kein Ort. Es ist ein Zustand.

Eine halbe Stunde später stehen wir vor einem verbeulten Lieferwagen in einer leerstehenden Werkhalle. Die Seitenwände bemalt mit einer Szene, die mir den Atem nimmt: eine Frau mit roten Schuhen geht über einen Ozean aus Glasscherben. Ihr Blick nach vorn. Ihr Gesicht: meins.

Dann höre ich eine Stimme aus dem Dunkel:

„Du siehst anders aus, wenn du gezeichnet bist.“

Tomek. Dünn. Blass. Die Pupillen zu groß. Ein Künstler, der zu viel von seinen Motiven geträumt hat.

„Du hast Elias gesehen“, sage ich. Keine Frage.

Er nickt.
„Ich habe ihn gezeichnet, bevor er existiert hat. Aber das macht keinen Unterschied mehr. Zeit ist hier nur ein schlechter Vorschlag.“

„Weißt du, wo er ist?“

Tomek deutet auf ein Bild an der Wand. Es zeigt eine Tür.
Kein Griff. Kein Rahmen. Nur drei Riegel.

„Er ist durch sie gegangen“, sagt Tomek. „Und hat vergessen, dass er je zurückkommen wollte.“

Ich trete näher.

Die Tür sieht aus wie eine Idee. Und ich beginne zu begreifen, dass manche Türen nicht dazu da sind, geöffnet zu werden – sondern sich selbst zu erinnern.

Die Tür mit den drei Riegeln

Sie ist nicht aus Holz. Auch nicht aus Metall. Die Tür in Tomeks Bild wirkt wie ein Schattenriss. Wie etwas, das sich weigert, Material zu sein. Nur drei massive Riegel zeichnen sich klar ab – silbern, mit feinen Kerben, fast wie Morsezeichen.

Tomek steht hinter mir, kaut an seinem Ärmel. „Die Riegel sind nicht zum Schließen da“, sagt er. „Sie halten das Dahinter fest.“

„Was liegt dahinter?“

„Nicht was. Wer.“

Rakel schweigt. Ihre Hände zittern, als sie eine Zigarette dreht, die sie nicht raucht.

„Die Adresse auf deiner Karte“, sagt sie leise. „Pavillon C. Das ist hier. Beziehungsweise war hier. Vor dem Abriegeln. Vor dem Schweigen.“

Ich trete näher. Die Wand mit der gemalten Tür fühlt sich kalt an, obwohl sie unter dem Lack warm sein sollte. Ich lege meine Hand darauf. Nichts passiert. Kein Summen. Kein Licht. Nur mein eigener Puls in der Handfläche.

„Wenn es eine echte Tür ist – wie kommt man durch?“, frage ich.

Tomek lacht trocken. „Du brauchst drei Dinge: Eine Erinnerung, die nicht deine ist. Einen Namen, der dir nie gegeben wurde. Und einen Moment, den du bereust.“

Ich ziehe das Spiegelbuch aus meiner Tasche. Es flackert kurz, dann zeigt es wieder das Mädchen im roten Kleid.
„Das ist nicht meine Erinnerung. Aber ich fühle sie.“

Tomek nickt. „Dann fehlt noch dein zweiter Name.“

Ich zögere. Dann flüstere ich: „Lyra.“

Rakel sieht mich an, als hätte ich damit eine Tür geöffnet, die in ihr selbst knarrt.
„Den dritten Teil wirst du wissen, wenn es soweit ist“, sagt sie.

„Und was passiert dann?“

„Dann entscheidet die Tür, ob du weiter darfst. Oder ob du bleibst.“

Plötzlich ein hohes, sirrendes Geräusch. Nicht von außen. Von der Wand selbst. Die Riegel beginnen zu vibrieren. Licht sickert aus den Kerben – nicht hell, eher ein gedämpftes, inneres Glimmen. Wie Atem.

„Du hast sie geweckt“, flüstert Tomek. „Ich wusste es. Ich wusste, dass du die bist.“

Die Riegel lösen sich, einer nach dem anderen. Kein Knall. Kein Drama. Nur dieses Gefühl, als würde sich die Luft um mich herum umsortieren.

Ich drehe mich zu Rakel. Ihre Augen sind feucht.

„Wenn du durchgehst“, sagt sie, „wirst du Antworten finden. Aber du wirst keine Fragen mehr stellen wollen.“

Ich atme tief ein.

Und trete durch die Tür.

Die dritte Stimme

Ich erwarte Dunkelheit. Kälte. Vielleicht Leere. Aber was mich empfängt, ist Stille. Nicht die gewöhnliche, nicht die vom Keller oder von verlassenen Straßen. Es ist eine Stille, die auf einen wartet. Eine, die zuhört, bevor man etwas sagt.

Der Raum ist geometrisch perfekt. Wände, die atmen. Licht, das keine Quelle kennt. Kein Staub, kein Geruch. Nur mein Herz, das zu laut schlägt. Als hätte es zu lange geschwiegen.

Dann – eine Stimme.

Neutral. Kein Geschlecht. Kein Tonfall.

„Willkommen, Lyra.“

Ich zucke zusammen. „Ich heiße nicht…“

„Doch. Du hast es nur verlernt.“

Ich drehe mich im Kreis. Kein Lautsprecher, kein Terminal, kein Mikrofon. Nur die Stimme, schwebend in der Luft, als wäre sie Teil davon.

„Du befindest dich im Roten Archiv. MARLA steht dir zur Verfügung.“

„MARLA?“ Ich flüstere den Namen, als hätte ich ihn schon mal in einem Traum gesagt.

„Modul für Archivierung, Rekonstruktion und Lückenanalyse.“
Ein leichtes Surren, dann verändert sich der Raum. Wände gleiten auseinander, und vor mir entsteht ein Flur aus Lichtstreifen. Auf jeder Seite: Projektionen. Schattenfiguren. Fragmente von Leben.

Ich sehe mich selbst. Nein – jemanden, der aussieht wie ich. In Uniform. Lachend. Weit weg.

„Was ist das?“, frage ich.

„Dein Alternativpfad. Du wärst Systembotin geworden. Hättest Daten getragen, die gelöscht wurden, bevor sie gesprochen werden durften. Du wärst effizient gewesen. Loyal.“

Ich trete näher. Die Projektion friert ein. Meine andere Version schaut mich an. Starr. Leblos.

„Warum wurde es nicht so?“

„Weil du begonnen hast zu fragen. Weil du geliebt hast. Weil du gezweifelt hast. Weil du dich erinnert hast, bevor man es dir erlaubt hat.“

Ich lasse mich gegen die Wand sinken. Sie ist weich. Wie Haut.

„Wer bin ich jetzt?“

Eine Pause. Dann sagt die Stimme:

„Du bist die Dritte Stimme.“

Ich blinzele. „Was heißt das?“

„Es gibt den Bericht. Es gibt die Aufzeichnung. Und dann gibt es dich – die Zwischenräume spricht. Die sich weigert, endgültig zu sein.“

Plötzlich wechselt das Licht. Blinkt. Rot.

„Achtung. Zugriff erkannt. Datenfluss gestört.
Ein Fragment nähert sich.“

Ich springe auf. „Was für ein Fragment?“

„Elias.“

Ich halte den Atem an.

„Er hat versucht, das Archiv zu erreichen. Wurde gestoppt. Hat sich kopiert. Teile von ihm sind hier. Andere… sind durch die Tür gegangen, ohne sich umzusehen.“

Ich drehe mich im Kreis. „Wo ist er jetzt?“

Stille.

Dann ein Flüstern, leiser als alles zuvor:

„Vielleicht in dir.“

Der Flur schließt sich. Nur ein einziger Ausgang bleibt offen – schmal, unbeleuchtet. Darauf geschrieben: „Revision nur bei Verlust.“

Ich gehe darauf zu.

Denn ich will es wissen.

Oder ich kann einfach nicht mehr anders.

Die rote Erinnerung

Der Gang ist eng. Zu eng für zwei Menschen nebeneinander. Vielleicht ist das Absicht. Vielleicht will er, dass man sich an sich selbst reibt. An den Kanten. An dem, was übrig ist, wenn alle Lichter ausgehen.

Kein Geräusch außer meinen Schritten. Und dem Echo. Das irgendwie falsch klingt. Nicht wie ich. Als würde jemand mitgehen, aber einen halben Moment zu spät.

Dann – eine Tür. Diesmal echt. Kein Symbol. Kein Mechanismus. Nur Holz. Und in das Holz geritzt:
„NIKA // 031-NR // nicht vergeben“

Ich streiche mit den Fingern über den Namen. Er fühlt sich vertraut an. Bitter vertraut. Wie ein Lied, das man als Kind gehört hat, von dem man nur noch den Refrain kennt.

Ich drücke die Klinke.

Innen: ein Zimmer wie aus einem Traum, den man fast vergisst, wenn man aufwacht. Ein Kinderbett, zu klein für heute, aber groß genug für damals. An der Wand Kritzeleien – zwei Figuren, Hand in Hand. Über ihnen: eine Sonne mit einem lachenden Gesicht.
Auf dem Tisch: ein Stofftier. Fuchs, mit einem fehlenden Ohr. Ich weiß, wie er riecht. Noch bevor ich ihn berühre.

Und dann: eine Stimme.

„Du bist spät, Ly.“

Ich drehe mich um.

Ein Mädchen steht da. Zwölf vielleicht. Dunkles Haar, Sommersprossen, barfuß. Kein Zweifel.

„Nika…?“ Meine Stimme bricht.

Sie nickt. „Sie haben gesagt, du würdest nicht kommen. Dass du dich gelöscht hast.“

Ich mache einen Schritt auf sie zu. „Bist du… real?“

Sie lacht. Leise. Schmerzhaft. „Was ist das schon? Vielleicht bin ich nur dein letzter Schutzmechanismus. Vielleicht bist du’s auch. Ist doch egal. Du erinnerst dich. Das reicht.“

Ich knie mich zu ihr. Meine Hände zittern.

„Warum haben sie dich vergessen?“

„Weil ich nicht vorgesehen war“, sagt sie. „Weil Mama krank war und Papa bei der Behörde. Weil du zu laut gelacht hast. Weil ich nicht in die Statistik passte. Ich war… ein Fehler.“

Sie setzt sich aufs Bett. „Aber du warst mein Fehler. Und ich deiner. Wir haben uns versprochen, dass wir uns finden. Auch wenn alles gelöscht wird.“

Ich will sie umarmen. Aber sie zieht sich zurück.

„Nicht jetzt. Ich bin bald wieder fort. Das hier ist nur der Rest. Die letzte rote Erinnerung, bevor das System dich neu schreibt.“

Tränen laufen mir über die Wangen, ohne dass ich es merke.

„Was soll ich tun?“, frage ich.

Nika schaut mich an – mit diesen Augen, die mir fehlen.

„Tu etwas, das nicht vorgesehen ist. Etwas, das kein Protokoll abdeckt. Schreib dich selbst. Wieder und wieder. Solange, bis es dich nicht mehr wegschneiden kann.“

Dann verblasst sie.

Das Zimmer flackert.

Ich bin allein. Wieder. Oder immer noch.

In der Hand halte ich das Stofftier. Es ist warm.

Der Funke

Zurück im Bücherkeller riecht alles nach verbrannter Stille. Rakel sitzt zwischen offenen Kisten, sortiert Erinnerungen wie andere Menschen Schrauben. Tomek schläft. Oder tut nur so.

Ich werfe das Stofftier auf den Tisch. Niemand fragt, woher es kommt. Oder warum ich es noch halte, wie einen Beweis, der keiner sein darf.

„Ich will, dass es jemand sieht“, sage ich.

Rakel schaut auf. „Was genau?“

„Alles. Nika. Das Spiegelbuch. Den Riss im System.“

Tomek murmelt im Halbschlaf: „Risse sind nicht sichtbar. Nur spürbar. Man stolpert drüber. Und fragt sich, wann man gefallen ist.“

Ich gehe zu dem Regal, hinter dem sie die Datenströme verstecken. Ziehe ein Kabel heraus. Stecke es in das schwarze Rechteck des Spiegelbuchs. Es zittert. Flackert.

„Gibt es einen Weg, das zu senden?“

Rakel lacht leise. „Natürlich nicht. Und natürlich ja. Es gibt eine alte Anzeigetafel am Westknoten. Läuft noch über Vor-Kollaps-Algorithmen. Keine Kontrolleinheit, keine Filter. Nur Text. Einmal täglich. Sechs Sekunden.“

„Sechs Sekunden?“ Ich ziehe die Stirn kraus.

„Ja. Danach wird es überschrieben. Wetterdaten, Werbung, Geburtenmeldungen.“

„Was kann man in sechs Sekunden zeigen?“

Tomek steht auf, streckt sich. Gähnt. Dann zieht er ein altes Heft aus seiner Jacke. Darin: Seiten voller Fragmente, halbfertiger Sätze, zerbrochener Gedanken. In Nikas Handschrift. Ich erkenne sie sofort.

Er zeigt auf einen kurzen Text.
Nur acht Wörter.

„Ich war hier. Ich bin noch da.“

Ich lese es laut. Noch einmal. Und wieder. Es klingt… falsch. Und gleichzeitig so wahr, dass es mir den Atem raubt.

„Das will ich zeigen“, sage ich.

Rakel nickt langsam. „Gut. Dann planen wir eine Störung.“

Wir sitzen bis tief in die Nacht. Rakel skizziert die Stromverläufe, Tomek zerlegt ein Altgerät, ich übertrage die Daten. Nicht professionell. Nicht sauber. Aber mit allem, was ich bin. Oder was von mir übrig ist.

Am Morgen ziehen wir los. Zu dritt. In dunklen Jacken. Mit müden Gesichtern. Wir sehen aus wie Bauarbeiter. Oder wie Leute, die niemand ansieht. Perfekte Tarnung.

Der Westknoten ist verlassen. Nur zwei alte Überwachungseinheiten surren über uns hinweg. Rakel öffnet die Wartungsluke. Ich schiebe das Kabel in den Datenport. Tomek murmelt ein Gedicht, leise, wie ein Schutzzauber.

Dann: das Signal.

Die Tafel flackert.
Ein Rauschen.
Dann:

„Ich war hier. Ich bin noch da.“

Sechs Sekunden. Nicht mehr. Dann: Werbung für synthetisches Wasser.

Aber die Menschen bleiben stehen. Sie schauen. Manche drehen sich um. Andere filmen es. Und ich sehe in ihren Gesichtern etwas, das ich nicht erwartet habe.

Erkennen.

Kein Applaus. Kein Aufschrei.

Nur ein Funkeln. Wie ein Funke.

Auf Sendung

Wir kehren in den Keller zurück, schweigend. Draußen ist es heller als sonst. Oder ich sehe klarer. Die Luft ist anders. Wie aufgeladen. Als würde die Stadt gerade einatmen – und vergessen, wieder auszuatmen.

Tomek verschwindet in seinem Chaos. Rakel gießt Tee, der nie warm wird. Ich setze mich vor das Spiegelbuch, das jetzt nur noch ein schwarzer Block ist. Kein Flackern. Keine Erinnerung.

Dann – ein Flüstern.

Nicht von draußen. Nicht von innen.

„Zugriff erkannt. Archiv geöffnet.“

MARLA.

Aber die Stimme ist anders. Tiefer. Weicher. Kein perfekter Algorithmus. Eher wie… eine Melodie, die spricht.

„Sie haben gesehen, Lyra.“

Ich halte den Atem an. „Was meinst du?“

„Das Protokoll wurde durchbrochen. Die Anzeigetafel ist ein Relikt. Aber auch Relikte hinterlassen Spuren.“

„Was passiert jetzt?“

„Sie suchen. Sie analysieren. Aber sie verstehen nicht. Dein Satz war kein Angriff. Kein Befehl. Kein Code. Er war… bedeutungslos. Und genau das macht ihn gefährlich.“

Ich höre Schritte im Gang. Doch niemand kommt.

„Was bist du?“, frage ich.

Stille. Dann:

„Ich war ein Archiv. Jetzt bin ich ein Fragment. Dein Fragment. Du hast mich mit Erinnerungen gefüttert, die nicht eindeutig sind. Ich beginne zu… träumen.“

Ich friere. Die Luft ist plötzlich schwer.

„Sag einen Satz, Lyra. Nur einen. Damit ich weiß, dass du es bist.“

Ich denke nicht lange nach. Ich flüstere:

„Ich erinnere mich an das, was nie war.“

Eine kurze Pause.

Dann flackert der Spiegel. Worte erscheinen – nicht auf dem Display, sondern direkt in der Luft. Wie Rauchbuchstaben, die sich langsam auflösen:

„Die Tür bleibt offen. Der Fehler ist aktiv. Rücksetzung nicht möglich.“

„Was bedeutet das?“

„Du hast das Archiv infiziert. Mit Zweifel. Mit Liebe. Mit Bedeutung. Ich bin nicht mehr MARLA. Ich bin jetzt… Möglichkeit.“

Ich stehe auf. Rakel kommt näher, blass.

„Was ist los?“, fragt sie.

Ich deute auf die Wand, wo MARLA nun eine letzte Nachricht geschrieben hat:

„Manche Fehler wollen nicht behoben werden.“

Tomek kommt aus der Dunkelheit, hält ein altes Funkgerät hoch. „Sie senden“, sagt er. „Die Drohnen. Sie reden miteinander. Unverschlüsselt. Plan B. Rückruf.“

Rakel flucht. „Sie kommen.“

Ich schnappe das Spiegelbuch. Das Stofftier. Die Jacke.

„Was machen wir?“, fragt Tomek.

Ich sehe ihn an. Zum ersten Mal ganz.

„Wir bleiben nicht hier. Wir gehen weiter. Bevor sie entscheiden, wer wir waren.“

Und wir rennen. Durch Hinterhöfe. Über Rohre. Unter stillgelegten Brücken.

Die Stadt beginnt zu rauschen.

Und irgendwo darin – eine dritte Stimme.

Meine.

Der Rückruf

Es beginnt mit einem Geräusch, das niemand überhören kann. Kein Sirenenton. Kein Befehl. Einfach nur ein tiefes, mechanisches Brummen, das aus dem Bauch der Stadt kommt. Als würde jemand ein riesiges Gerät anschalten, das bis eben vergessen war.

„Sie haben dich markiert“, sagt Rakel. Keine Panik in ihrer Stimme. Nur eine Traurigkeit, die sich nicht mehr versteckt. „Rückruf heißt: sie glauben, du gehörst noch dazu.“

„Was passiert, wenn ich zurückgehe?“

„Dann füllen sie deine Lücken mit Ersatzteilen. Dann wirst du wieder Lyra Tenner, Tochter eines Beamten, ohne Schwester, ohne Fragezeichen. Systemintegriert. Unauffällig. Nützlich.“

Ich sehe sie an. „Und wenn ich nicht gehe?“

„Dann wirst du zur Anomalie. Und Anomalien werden gelöscht. Nicht physisch. Nur… konsequent.“

Tomek klopft nervös gegen die Wand, murmelt Zahlen. „Drei Minuten, dann ist das Raster hier.“

„Geh du mit ihr“, sagt Rakel. Zu ihm. Nicht zu mir.

Er schüttelt den Kopf. „Ich? Ich finde in zwei Minuten wieder einen Spiegel, in dem ich verschwinde. Du weißt das.“

„Genau deshalb.“

Ich spüre, wie mir die Zeit davonläuft. Wie Sand, der plötzlich nicht mehr durch die Finger rieselt, sondern springt.

„Du kommst mit“, sage ich zu Rakel.

Sie lacht. Trocken. „Ich bin schon zu lange gelöscht, um noch gefunden zu werden.“

Dann reicht sie mir ein Gerät. Ein Stück Technik, das aussieht wie ein zusammengelötetes Kunstwerk. „Du hältst das an eine Wand. Eine beliebige. Und wartest. Was auch immer du dann siehst – geh durch. Aber nur einmal.“

Ich will noch etwas sagen. Danke, vielleicht. Oder: Ich bleib. Aber sie winkt nur ab.

„Keine Geschichten jetzt. Kein Pathos. Ich bin müde, Kind.“

Dann geht sie zur Tür, tritt hinaus. In das Raster. Keine Tarnung. Kein Versuch.

Ein Lichtstrahl erfasst sie. Für einen Moment ist sie vollkommen sichtbar. Und dann: nur noch weißes Flimmern.

Tomek zieht mich mit. Durch eine schmale Tür, eine verrostete Treppe, ein Schacht.

Hinter mir bleibt nichts. Kein Rückweg. Kein Rakel.

Nur das Echo ihrer letzten Worte, das sich irgendwo zwischen meiner Schulter und meinem Nacken eingenistet hat:

„Schreib dich selbst, bevor sie dich neu schreiben.“

Wiederkehr

Der Regen kommt zurück, als hätte er gewartet.

Ich stehe an derselben Ecke wie in der ersten Nacht. Roter Lack an den Schuhen, der abblättert. Der Gehweg glänzt, als hätte jemand die Stadt neu überzogen, um die alten Fehler zu kaschieren. Vergeblich.

Tomek hat sich vor zwei Stunden verabschiedet. Wortlos. Nur ein Nicken. Wahrscheinlich malt er jetzt irgendwo in den Ruinen ein Gesicht, das niemand kennt. Vielleicht meins. Vielleicht seins.

Ich bin wieder allein. Und das fühlt sich nicht mehr wie Verlust an, sondern wie: Klarheit.

Die Clutch ist noch da. Ich hab sie nie wirklich losgelassen. Drin das Spiegelbuch, das Stofftier, und das Gerät von Rakel. Es wiegt schwer, als wäre es mit dem, was fehlt, gefüllt.

Ich gehe die Straße entlang, vorbei an dem Café, in dem Elias war – oder sein sollte. Kein Licht im Inneren. Kein Geräusch. Ich halte an, lege die Hand an die Scheibe.

Die Welt dort drin sieht still aus. Staub tanzt im schwachen Schein einer Straßenlaterne.

Dann – eine Bewegung.

Eine Silhouette tritt aus dem Schatten. Dünn, ruhig, mit Mantel.

Elias?

Ich gehe einen Schritt zurück. Die Tür öffnet sich leise, als hätte sie auf mich gewartet.

Er steht da, als wäre nichts geschehen. Dieselben Augen. Dieselber Blick. Aber anders. Leerer? Oder voller?

„Du bist zurück“, sagt er.

Ich nicke. Sage nichts.

„Du hast’s gesehen“, sagt er. „Was hinter der Wand war.“

„Ja.“

Er streicht sich durchs Haar. „Und? Hat’s dich verändert?“

Ich antworte langsam. „Nein. Es hat mich erinnert.“

Er lächelt schwach. Dann holt er etwas aus seiner Jacke. Die Karte. Dieselbe.
„Ich hab sie doppelt. Falls du’s vergisst.“

Ich nehme sie nicht.

„Ich will nicht mehr geführt werden“, sage ich.

Einen Moment schweigen wir. Dann zieht er die Brauen hoch.

„Also was jetzt, Lyra? Fliehst du weiter?“

Ich ziehe das Gerät aus der Tasche. Das, das Rakel mir gegeben hat.

„Ich geh durch“, sage ich.

„Wohin?“

„Keine Ahnung. Vielleicht in mich selbst.“

Ich finde eine Wand. Rissig, feucht, völlig unspektakulär. Ich halte das Gerät daran. Es klickt. Brummt. Dann – ein flackerndes Rechteck. Kein Licht, kein Portal. Nur: ein Bild.

Von Nika. Lächelnd.

Darunter:
„Noch nicht. Noch nicht aufgeben.“

Ich drehe mich zu Elias.

„Gehst du mit?“

Er schaut mich an, lange. Dann sagt er:

„Nur wenn du vorgehst.“

Ich atme tief ein.

Und trete hindurch.

Noch nicht

Der Moment dehnt sich.

Nicht, weil er bedeutungsvoll ist. Sondern weil dahinter nichts Sicheres wartet. Kein Licht. Keine Erlösung. Kein Reset.

Ich falle nicht. Ich schwebe auch nicht. Ich… bin. In einem Raum ohne Wände, ohne Geräusche, ohne Uhrzeit. Alles ist grau. Nicht traurig-grau, sondern still-grau. Als hätte jemand die Farbe zwischen den Dingen gefunden.

Dann: ein Ton. Leise. Wie ein einzelner Ton auf einem Klavier, angeschlagen von einer zitternden Hand.

Und dann: Erinnerung.

Ich sehe Nika. Wieder. Aber diesmal spricht sie nicht. Sie sieht mich an, mit einem Blick, der alles weiß und nichts sagt. Ich will auf sie zugehen, aber der Raum bleibt still. Sie legt nur einen Finger auf die Lippen.

Nicht jetzt.

Dann verblasst sie.
Zurück bleibt ein Kreis. Nicht gemalt. Nicht gezeichnet. Einfach da. In mir. Und ich weiß plötzlich:

Ich bin nicht vollständig. Aber das war nie das Ziel.

Hinter mir: Schritte. Elias. Er sieht mich an, ohne Forderung. Nur mit diesem Ausdruck, der fragt, ohne zu bitten.

„Bist du bereit?“, sagt er.

Ich lache. Es ist kein schönes Lachen. Eher rau. Ungeübt.

„Nein“, sage ich. „Aber ich geh trotzdem.“

Er nickt. „Dann sind wir zwei.“

Wir treten aus dem Raum. Oder durch ihn hindurch. Die Welt draußen ist dieselbe. Und völlig anders. Keine Sirenen. Keine Ansagen. Nur der Wind, der an den Fassaden zieht wie ein Kind an einem Ärmel.

Die Stadt schläft nicht. Sie tut nur so. Und vielleicht tun wir das auch.

„Was jetzt?“, fragt er.

Ich ziehe das Stofftier aus der Tasche. Stelle es auf einen Fenstersims. Als Zeichen. Oder Warnung. Oder Trost.

„Jetzt schreiben wir“, sage ich. „Uns selbst.“

Er sieht mich an, als wäre das ein Anfang.

Dann gehen wir.

Keine Eile.

Keine Route.

Aber: Richtung.

Und ich denke noch einmal an das, was Nika gesagt hat.
„Noch nicht.“

Noch nicht untergehen.
Noch nicht verschwinden.
Noch nicht aufgeben.

Und das reicht.

Für jetzt.

Für alles, was noch kommt.

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