Marla – Nachbrennerin

IQ Nocturne
Der Regen hat längst aufgehört, aber die Straßen glänzen noch. Als hätten sie was zu verbergen. Ich geh an einem Automaten vorbei, der blinkt, als wäre er betrunken. Zigaretten. Kaugummi. Patronen. Alles in derselben Schublade.
IQ Nocturne liegt ein bisschen abseits. Keine Schlangen, keine Türsteher, nur ein rot flimmerndes Schild und dieser Geruch – alt, elektrisch, wie vergessene Schaltkreise. Ich trete ein, und die Nacht nimmt mich auf wie eine, die sie kennt.
Drinnen ist alles weich und flüssig. Licht flackert in Farben, die keinen Namen haben. Musik pulsiert wie ein zweites Herz. Ein paar Leute an der Bar, ein paar in den Nischen, der Rest unsichtbar. Ich bestell nichts. Ich warte.
„Schon lange nicht mehr gesehen“, sagt die Stimme hinterm Tresen. Der Barkeeper trägt Handschuhe aus schwarzem Stoff, obwohl es hier drin warm ist. Seine Augen scannen mich wie ’ne alte Akte.
Ich nicke nur. Reicht meistens.
„Immer noch Gin mit Zitrone?“, fragt er.
„Immer noch kein Durst“, sag ich.
Er grinst schief. „Du suchst jemanden.“
Ich sag nichts. Er hat recht, aber ich mag’s nicht, wenn Leute das so sagen. Als würden sie mehr wissen als ich.
Ich lehn mich an die Theke. Spür das kalte Metall an meinem Arm. Mein Blick wandert. Eine Frau mit spiegelnden Kontaktlinsen raucht eine Zigarette, die nach Vanille riecht. Ein Typ im Anzug ohne Hemd lacht mit offenem Mund, aber ohne Ton. Die Nacht hat ihre eigene Sprache. Ich versteh sie meistens.
Dann kommt er rein.
Schwarzer Mantel, kaputtes Lächeln, blaue Lichtreflexe in den Haaren. Als wär er aus ’nem Hologramm gefallen. Und für einen Moment – nur einen verdammten Moment – glaub ich, dass es er ist. Der Eine. Der, der verschwunden ist. Der nie zurückkam. Der mit meinem Namen auf der Zunge starb. Vielleicht.
Aber der Typ sieht mich nicht mal an. Geht einfach vorbei, bestellt irgendwas Leuchtendes, verschwindet in der Dunkelheit zwischen zwei Lautsprechern.
Ich bleib stehen wie angelehnt.
„Vielleicht ist es besser so“, murmelt der Barkeeper. Keine Ahnung, ob er mich meint. Oder sich selbst. Oder alle.
Ich geh nicht sofort. Ich warte noch. Auf was, weiß ich nicht genau. Vielleicht auf den Moment, in dem sich was bewegt. In dem jemand „Marla“ sagt, als würde es was bedeuten.
Aber niemand sagt was.
Und draußen beginnt es wieder zu regnen.
Der Mann mit dem blauen Licht
Ich folge ihm nicht. Nicht direkt. Aber meine Füße wissen es schon, bevor ich’s mir eingesteh. Dieser Mann – er ist zu glatt für diese Gegend. Zu sauber. Zu… falsch.
Ich war mal gut im Erkennen. Noch bevor mir die Erinnerung durcheinandergeraten ist. Damals, als ich noch wusste, was ich eigentlich wollte. Jetzt bin ich nur noch gut im Spüren. Und irgendwas an ihm brennt in meiner Wirbelsäule wie eine alte Narbe.
Er bleibt stehen bei einer alten Litfaßsäule, wo keiner stehen bleibt. Dort ist nichts – außer einem leeren Screen, der mal Werbung gezeigt hat. Jetzt zeigt er nur noch Rauschen.
Der Typ hebt die Hand. Ganz ruhig. Die Finger zittern nicht mal. Und plötzlich: Das Rauschen verändert sich. Wird langsamer. Blauer. Wie ein Auge, das sich öffnet. Ich sehe Muster, die kein Zufall sein können. Ich will sie nicht verstehen. Ich versteh sie trotzdem.
Er flüstert.
Nicht laut. Mehr so – in die Luft hinein. Worte wie Rauch. Und der Screen antwortet. Kein Ton. Kein Bild. Aber ich weiß, dass da was zurückkommt.
Ich tret einen Schritt näher. Reflex. Keine Ahnung, ob ich sehen oder hören oder verschwinden will. Aber er dreht sich um. Direkt zu mir.
Der Blick trifft mich wie ein Stromstoß.
Hellblaue Augen. Keine Wimpern. Keine Wärme. Nur Licht.
„Du solltest nicht hier sein, Marla“, sagt er.
Ich frier ein. Alles friert ein. Ich hab ihm nie meinen Namen gesagt. Keiner hat ihn hier gesagt. Nicht heute Nacht.
„Woher…“, fang ich an, aber meine Stimme macht nicht mit.
Er lächelt schmal. „Du suchst Antworten. Ich auch. Vielleicht kreuzen sich unsere Fragen.“
Ich will was sagen. Irgendwas. Aber er geht schon. Dreht sich um, verschwindet in einer Nebelgasse, als würde der Nebel auf ihn warten.
Ich bleib zurück.
Neben dem flackernden Bildschirm. Neben dem Rauschen, das wieder zu Rauschen wird. Neben der Ahnung, dass ich gerade was gesehen hab, was besser verborgen geblieben wär.
Und irgendwo in mir – unter der Kette, unter der Haut – klopft was an. Erinnerungen. Oder Warnungen.
Ich dreh mich nicht um. Noch nicht.
Der Job
Am nächsten Abend find ich einen Zettel unter meiner Tür. Kein Umschlag. Keine Adresse. Nur ein Wort, handgeschrieben in schwarzer Tinte: Kantenraum.
Darunter eine Uhrzeit. 02:15. Kein Datum. Das heißt: heute.
Ich kenn den Laden. Halb Spielhölle, halb Verschwörungstheorie. Liegt im 17. Block, da wo die Kameras nie ganz funktionieren und die Tür nur aufgeht, wenn man das richtige Wort flüstert.
Ich nehm den alten Mantel. Der mit dem doppelten Innenfutter. Nicht wegen der Kälte. Wegen dem, was man nicht sehen soll. Im Aufzug spiegelt sich mein Gesicht nicht. Ist auch besser so.
Der Kantenraum ist tiefergelegt. Keine Fenster, nur Sensorlicht. Ich flüstere: „Flickerstaub“, und die Tür öffnet sich. Metallisch. Schwer.
Drinnen riecht’s nach Nikotin, Neon und noch was. Irgendwas Schmieriges. Als hätte jemand zu viele Kabel in zu wenig Zeit verlegt. Die Musik kommt aus alten Röhrenlautsprechern, Bass wie ein Herzinfarkt in Zeitlupe.
Er wartet schon.
Grauer Anzug, weißes Hemd, keine Krawatte. Haare nach hinten gegelt, Stirn glänzt. Kein Lächeln. Nur diese kalte Professionalität, die du in den Augen erkennst, nicht im Tonfall.
„Marla“, sagt er. Kein Fragezeichen.
Ich nicke.
Er schiebt mir ein kleines Gerät über den Tisch. Schwarz. Kantig. Ohne Markenlogo. Nur ein einzelner roter Knopf.
„Du gehst in den Schlot. Datenpaket sichern. Übergabe morgen früh bei Nullpunktdämmerung.“
„Warum ich?“
„Weil du unsichtbar bist. Weil dich keiner mehr sucht. Und weil du die Einzige bist, die rauskommt, ohne Spuren zu hinterlassen.“
Ich schnaube leise. „Und was ist der Haken?“
Er lehnt sich zurück. Das Neonlicht spiegelt sich in seiner Hornbrille. „Der Schlot ist nicht leer. Da unten… ist was aufgewacht. Frag nicht was. Frag nur, ob du’s riskierst.“
Ich betrachte das Gerät. Der Knopf leuchtet schwach. Pulsierend. Als würde er atmen.
„Was krieg ich?“, frag ich.
„Zugang“, sagt er. „Zu ihm.“
Der Satz trifft wie ein Tritt in die Brust. Er weiß es. Er weiß von ihm. Von dem, der nicht zurückkam.
Ich nicke langsam. Nehm das Gerät. Dreh mich um, bevor ich es mir anders überlege.
„Eine Sache noch“, ruft er mir nach.
Ich bleibe stehen.
„Wenn du Stimmen hörst da unten – hör nicht zu.“
Ich antworte nicht. Manche Warnungen sind schlimmer als Drohungen.
Halbschatten
Der Schlot liegt unterhalb der alten Metro-Linie. Drei Stockwerke tiefer als die Pläne der Stadt. Kein offizieller Zugang. Nur ein vergessener Versorgungsschacht hinter einer Werbewand mit abblätterndem Lippenstiftlächeln.
Ich kriech durch den Schacht. Ellenbogen, Knie, flacher Atem. Das Gerät mit dem roten Knopf klemmt in der Manteltasche. Es ist warm geworden. Oder bilde ich mir das nur ein?
Die Luft riecht nach Ozon und Eisen. Nach zu lang abgestandener Zeit. Als würde man in einen alten Traum steigen, den man verdrängt hat. Irgendwas zischt hinter mir. Ich drehe mich nicht um. Nie zurückschauen – Regel Nummer eins.
Unten im Schlot ist es still. Aber nicht leer. Ich spür’s sofort. Die Art von Stille, die sich bewegt. Schatten, die zu lange brauchen, um sich zu legen. Flackern am Rand des Blicks.
Ich zünde eine kleine Leuchtfackel. Grünlich-blau. Macht alles schlimmer. Die Wände sind aus nacktem Beton, durchzogen von Kabeln, die pulsieren. Nicht elektrisch. Organisch.
Ich geh weiter.
Am Ende des Gangs: eine Tür ohne Klinke. Nur ein schmaler Schlitz, in dem ein Fingerabdruckscanner glimmt. Ich leg die Hand drauf. Nicht meins. Aber es klickt trotzdem.
Dahinter: ein Raum, fast leer. Ein Tisch. Ein Stuhl. Und mittendrin: das Datenmodul. Sieht aus wie ein Knochen. Länglich, weißlich, von Kabeln umwickelt, die sich langsam bewegen. Als würden sie atmen.
Ich pack das Modul vorsichtig ein. Kein Piepen. Kein Alarm. Zu einfach.
„Marla…“
Die Stimme ist nah. Zu nah.
Ich dreh mich um – und da ist niemand.
„Marla, bleib…“
Ich weiß, dass ich gehen sollte. Jetzt. Sofort. Aber meine Beine fühlen sich an wie verankert. Mein Kopf zieht Bilder hoch, die nicht hierhergehören. Ein Flur. Eine Stimme. Jemand lacht. Ein Lichtblitz. Ich fall.
Nur innerlich. Außen steh ich still.
Dann schlag ich mir mit voller Wucht gegen den Oberschenkel. Schmerz bricht den Bann. Ich renn. Keine Kontrolle, nur weg. Die Schatten folgen nicht. Oder sie warten.
Oben reiß ich den Schachtdeckel auf. Atem flach. Hände zittern.
Ich hab das Modul. Ich bin raus.
Aber etwas ist mit mir mitgekommen. Nicht außen. Innen.
Erinnerungscode
Ich leg das Modul auf den Tisch in meinem Zimmer. Klapptisch aus Metall, Platte zerkratzt. Darunter ein alter Teppich, der nach Staub und Erinnerungen riecht. Die Fenster sind zu. Die Vorhänge auch. Ich hab gelernt, dass zu viel Licht nichts Gutes bringt.
Das Modul liegt still. Kein Piepen. Kein Zucken. Nur dieses leise Surren, wie von einem Tier, das träumt.
Ich hol das Interface. Ein altes Modell, aber es reicht. Verbindung per Induktionsplatte, kleine Stromstöße. Die Daten blubbern auf den Screen wie Luftblasen in dickem Öl. Verzerrt, verschwommen.
Ich schieb den Tonregler hoch. Stimmen, Fragmente, zu viele auf einmal.
Dann: ein Bild.
Unscharf. Ein Korridor. Rotes Licht. Eine Gestalt, die durchgeht. Groß. Bewegungen wie durch Wasser. Dann der Blick in eine Kamera. Direkt. Ohne Zögern.
Es ist ich.
„Pause“, murmel ich. Und das Bild friert ein.
Ich seh aus wie ich. Aber nicht ganz. Die Haltung ist fremd. Selbstbewusst. Fast aggressiv. Das Gesicht: meins, aber kantiger. Kälter. Haare kürzer. Und da ist ein Zeichen am Hals – wie eingebrannt. Ich kann es nicht lesen. Noch nicht.
Ich spul zurück. Langsamer diesmal. Frame für Frame.
Und dann hör ich es. Leise. Fast zärtlich.
„Marla, Reset-Protokoll aktiv. Speicherabgleich beginnt.“
Mein Magen krampft. Die Stimme klingt vertraut. Zu vertraut. Nicht wie meine. Aber als würde sie mich kennen. Von innen.
Ich atme flach. Tippe einen Notbefehl ein – alle Metadaten anzeigen. Nichts. Alles verschlüsselt. Nur eine Kennung flackert kurz auf:
Projekt: Halcyon-Echo_17
Status: Abgebrochen. Subjekt unauffindbar.
Ich starre auf das Wort: Subjekt.
Ich. Subjekt.
Etwas in mir bricht auf. Eine alte Panik, die zu lange geschlafen hat. Ich steh auf. Geh drei Schritte im Kreis. Wieder zurück.
Dann klopft es. Einmal. Zweimal. Langsam.
Ich zieh meine Waffe aus der Schublade. Ein alter Revolver, mechanisch, ohne Digitalprofil. Sicher ist sicher.
„Wer?“, ruf ich.
Keine Antwort.
Ich geh zur Tür. Spähe durch den Riss.
Da steht er. Der Typ mit dem blauen Licht.
Und er lächelt. Diesmal nicht kalt.
Sondern traurig.
Der Schlaflose
Ich mach nicht sofort auf. Der Typ bleibt einfach stehen. Keine Bewegung, kein Klopfen mehr. Nur dieses wartende Lächeln, als hätte er alle Zeit der Welt. Irgendwann geb ich nach.
Die Tür quietscht. Er tritt ein, als gehöre ihm der Raum.
„Du hast es gesehen?“, fragt er.
Ich nicke. Mehr geht nicht.
Er setzt sich auf die Kante meines Betts. Die Matratze quietscht leise. Als würde sie uns verraten wollen. Ich bleib stehen. Abstand.
„Du willst wissen, wer du bist“, sagt er. Nicht als Frage. Als Fakt.
„Ich weiß, wer ich bin“, knurre ich.
„Nein, Marla. Du weißt nur, wer du sein sollst.“
Ich zieh die Waffe. Langsam. Nicht, um zu schießen. Nur um zu zeigen, dass ich wach bin.
Er lacht leise. „Wenn ich dir schaden wollte, wär ich nicht durch die Tür gekommen.“
Ich hasse Leute, die sowas sagen. Weil sie meistens recht haben.
„Was ist Halcyon-Echo_17?“, frag ich.
Er wird still. Dann: „Ein Experiment. Ein Fehler. Eine Serie von Menschen, die keine sein durften.“
Ich spür, wie mir die Kehle trocken wird.
„Du bist nicht die Erste“, sagt er. „Aber du bist die Letzte. Und die Einzige, die vergessen hat, dass sie dazugehört.“
Ich setz mich. Die Beine geben nach, bevor der Verstand es erlaubt.
„Warum ich?“, flüster ich.
Er seufzt. „Weil du dich erinnern sollst. Nicht alles. Nur das, was du brauchst. Und weil ich dir helfen kann.“
Ich schau ihn an. Länger als nötig. Da ist was in seinen Augen. Keine Lüge. Kein Kalkül. Nur Erschöpfung. Und vielleicht Schuld.
„Wer bist du?“, frage ich.
„Sie nennen mich den Schlaflosen. Weil ich der Einzige bin, der nie abschaltet. Ich seh die Muster. Ich hör die Stimmen im Code.“
Er streckt die Hand aus, zeigt mir ein kleines Gerät. Ähnlich wie meines, aber älter. Abgegriffen.
„Hier ist dein Backup.“
Ich nehm’s nicht. Noch nicht.
„Wenn du’s einspielst, wirst du Dinge sehen, die du nicht sehen willst“, sagt er. „Aber es wird dich retten. Oder zerstören. Oder beides.“
Er steht auf. Geht zur Tür. Bevor er sie öffnet, dreht er sich noch mal um.
„Und Marla? Wenn du wieder Stimmen hörst – diesmal vielleicht zuhören.“
Dann ist er weg. Und ich bin allein mit einem alten Gerät in meiner Hand. Und einem Namen, der sich plötzlich fremd anfühlt.
Blaue Stunde
Ich sitze auf dem Boden. Rücken an die Wand gelehnt. Das Gerät in der Hand. Es summt, aber nicht mechanisch – mehr wie ein Atemzug, der nicht meiner ist.
Die Fenster sind noch zu. Ich zieh die Vorhänge ein Stück auf. Die Stadt draußen ist in diese bläuliche Stunde getaucht, die zwischen Nacht und Morgen liegt. Alles ist weich. Als würde die Zeit sich dehnen, um nicht entscheiden zu müssen, wohin sie gehört.
Ich drück den Knopf.
Zuerst passiert nichts.
Dann flackert das Licht. Die Temperatur im Raum sinkt. Mein Herzschlag fühlt sich falsch getaktet an.
Ein Bild. Dann zwei.
Ein Raum. Weiß. Steril. Ich bin da. Jung. Jünger. Lache. Sage nichts. Ich trag einen Overall. Nummer 17 auf der Brust. Jemand redet mit mir – aber ich seh nur den Schatten hinter der Kamera.
„Marla, protokolliert Zustand Alpha-Delta. Reaktion auf emotionale Trigger: stabil.“
Ich antworte. Stimme klar. Höflich. Wie auswendig gelernt:
„Ich erinnere mich, weil ich soll. Nicht, weil ich will.“
Ich zucke zurück. Der Satz brennt.
Er gehört mir. Und doch nicht.
Das Bild springt. Jetzt bin ich allein. In einer Zelle. Wieder dieses weiß. Ich weine. Oder schreie. Kein Ton. Nur Bewegungen. Dann ein Mann kommt ins Bild. Der Schlaflose. Jünger. Glatter. Lächelt. Legt mir die Hand auf den Kopf.
„Es wird nicht lange weh tun.“
Der Bildschirm wird schwarz.
Ich reiße die Verbindung raus. Atme flach. Mein Gesicht ist nass. Ich hab’s nicht bemerkt.
Ich starre auf die Wand. Die Muster darin. Risse, die aussehen wie Karten. Ich frage mich, wie oft ich schon neu gestartet wurde. Wie viel von mir überhaupt mir gehört.
Dann, ganz leise, flüstert es in meinem Ohr:
„Du bist nicht verloren. Nur falsch gespeichert.“
Ich schließe die Augen. Nur kurz. Und als ich sie öffne, steht mein Zimmer schief. Als hätte jemand die Schwerkraft justiert. Oder die Realität.
Ich weiß, was das heißt.
Es hat begonnen.
Flackerlicht
Ich pack meine Sachen, ohne zu denken. Mantel, Waffe, Modul, das alte Backupgerät – alles in den Rucksack, der nach Staub und Kälte riecht. Ich muss raus, bevor die Wände anfangen, sich zu bewegen. Bevor ich nicht mehr weiß, was echt ist.
Draußen ist es dunkel. Dunkler als es sein sollte. Straßenlampen flackern. Manche ganz aus. Die Stadt sieht aus, als hätte jemand die Lichter gedimmt, aber vergessen warum.
Ich geh zügig. Kopf runter. Blick wachsam. Menschen sind heute Nacht keine. Nur Silhouetten. Schatten, die nicht mehr zurückschauen.
Dann hör ich es. Schritte. Gleichmäßig. Nicht hastig. Jemand folgt mir.
Ich biege in eine Nebengasse. Spiegelndes Pflaster, Pfützen, die wie Löcher aussehen. Mein Puls ist flach, meine Hand an der Waffe.
Die Schritte kommen näher. Kein Zögern. Kein Flüstern. Kein Bellen. Einfach nur… da.
Ich dreh mich nicht um. Noch nicht.
Die Gasse macht einen Knick. Dahinter: ein altes Stromhäuschen mit zerbrochenem Glas. Ich schlüpfe rein, halte die Luft an. Warte.
Die Schritte verstummen.
Dann eine Bewegung. Keine Tür, kein Fenster – nur ein Schatten, der sich verschiebt, obwohl er keine Quelle hat.
Ich zieh die Waffe.
„Raus!“, fauche ich.
Nichts. Kein Laut.
Dann tritt jemand ins Licht. Maske. Schwarz. Glänzend. Kein Gesicht. Nur glatte Fläche, in der ich mich sehe – verzerrt, als würde ich mich selbst vergessen.
„Marla“, sagt die Maske. Die Stimme klingt mechanisch. Hohl. „Du bist instabil.“
„Du hast keine Ahnung“, zisch ich.
„Du trägst Fehler in deinem Code. Du bringst das System in Gefahr.“
Ich zögere keine Sekunde. Schieße. Zweimal. Direkt aufs Zentrum.
Der Körper zuckt, fällt nicht. Bewegt sich wie unter Wasser. Und dann löst er sich – flackernd, wie ein altes Hologramm. Als wäre nie jemand da gewesen.
Ich laufe. Einfach nur weg. Keine Richtung. Keine Strategie. Nur weg.
Das Flackern bleibt. In den Ecken der Häuser. In meinem Kopf.
Ich weiß jetzt: Ich werde beobachtet. Nicht von Menschen. Von einem System, das mich erschaffen hat – oder behalten will.
Ich muss zum Nullpunkt. Da war der Übergabetreffpunkt. Vielleicht gibt es da Antworten. Vielleicht einen Ausweg.
Oder wenigstens ein Ziel, das nicht verrutscht.
Oben. Unten. Nichts dazwischen.
Der Nullpunkt liegt auf dem Dach des CityCore-Towers. 94 Stockwerke Glas, Beton und vergessene Versprechen. Der Fahrstuhl funktioniert nicht mehr. Ich nehme die Treppen. Schritt für Schritt, mit pochendem Schädel und Beinen wie Blei.
Oben weht Wind. Kein angenehmer. Einer, der Dinge erzählt, die man nicht wissen will. Ich geh langsam auf die Kante zu. Die Stadt liegt unter mir wie ein Schaltkreis, der sich selbst vergessen hat. Lichter flackern. Einige Viertel sind tot. Andere glühen wie offene Wunden.
Da steht er.
Der Mann mit dem blauen Licht.
Kein Mantel diesmal. Nur ein dunkler Anzug, schlicht. Die Augen immer noch zu hell für diese Nacht. Er wirkt erschöpft. Fast menschlich.
„Du bist gekommen“, sagt er.
„Weil ich Antworten will.“
Er nickt. Zeigt nach unten. Auf ein gegenüberliegendes Dach, fünf Stockwerke tiefer. Eine Projektion flackert dort – Bilder, Fragmente, Gesichter.
„Dein Backup hat ein Echo ausgelöst“, erklärt er. „Nicht nur in dir. Auch im System. Du bist nicht allein damit. Die anderen… sie wachen auf.“
Ich schau ihn an. „Welche anderen?“
„Subjekte. Fragmente. Menschen, die sie zerlegt und neu zusammengesetzt haben. Erinnerungen wie Flickenteppiche. Und du warst der Prototyp.“
Mir wird kalt. Nicht vom Wind.
„Was wollen sie jetzt?“, frag ich.
„Dich zurück. Oder ganz löschen. Aber bevor das passiert, musst du dich entscheiden.“
Er geht einen Schritt näher. Seine Stimme wird weich. „Du kannst verschwinden. Es gibt Wege. Schlupflöcher im Code. Ich helf dir. Oder… du bleibst. Und bringst es zu Ende.“
„Was zu Ende?“, frage ich.
„Die Geschichte. Deine. Ihre. Unsere.“
Ich blicke in die Nacht. Der Abgrund unter mir sieht plötzlich nicht mehr wie Gefahr aus, sondern wie Möglichkeit. Als würde er mich rufen.
Ich dreh mich zurück zu ihm.
„Ich geh nicht unter. Ich geh rein.“
Er lächelt. Diesmal ehrlich. Vielleicht.
„Dann brauchst du dies.“
Er reicht mir einen kleinen Zylinder. Metall, glatt, warm. Er vibriert leise. Ich steck ihn ein, ohne zu fragen.
„Im Marla-Archiv findest du den Anfang. Und das Ende.“
Ich nicke. Und steige wieder runter. Nicht ins Nichts. Sondern ins Zentrum. In die Mitte der Erinnerung.
Das Marla-Archiv
Das Archiv liegt tief. Unterhalb der Verwaltungsschichten, hinter der alten Transitlinie, unter einer stillgelegten Station mit dem Namen Acheron – kein Schild, keine Karten, nur Reste. Der Eingang ist versteckt in einem wartungsfreien Schacht. Wenn du ihn kennst, findest du ihn. Wenn nicht – dann bist du besser dran.
Ich gehe allein. Der Zylinder in meiner Tasche pulsiert. Nicht schnell, nicht hektisch. Eher wie ein Herz, das träumt.
Die Tür ist glatt. Keine Klinke. Kein Schloss. Nur ein Scanner. Ich halte den Zylinder davor. Die Tür zischt auf. Kälte schlägt mir entgegen. Alte Kälte. Die Art, die nicht vom Wetter kommt, sondern von dem, was vergessen wurde.
Drinnen: Gänge aus Glas und Stahl. Kein Staub. Alles still. Wände mit eingelassenen Screens, die flackern, wenn ich vorbeigehe. Ich lese Namen. Codes. Fragmente.
SUB_17A_MARLA
Status: dekodiert. Zugriff: limitiert.
Warnung: Struktur instabil.
Ich gehe tiefer.
Ein Raum öffnet sich. Rund, mit einem Podest in der Mitte. Auf dem Podest: eine Liege. Und darüber: ein Interface, das aussieht wie ein Traumfänger aus Licht und Drähten.
Ich weiß, was zu tun ist.
Ich lege mich hin. Atme durch. Schließe die Augen. Der Zylinder klickt ein.
Verbindung wird hergestellt.
Licht. Geräusche. Nicht aus dieser Welt. Keine Erinnerungen – mehr wie Empfindungen.
Ein Lächeln. Ein Unfall. Jemand ruft meinen Namen. Nicht Marla – ein anderer Name. Kürzer. Weicher.
Dann: Dunkelheit.
Dann: jemand sagt „Sie ist bereit.“
Ich sehe Räume. Menschen in weißen Kitteln. Ich sehe mich. Zuerst als Kind. Dann als junge Frau. Ich werde beobachtet, aufgezeichnet, zurückgesetzt. Immer wieder.
Ich spüre den Moment, als man mich „Marla“ nennt. Als man entscheidet, wer ich sein soll. Nicht warum – nur dass.
Dann bricht das Bild. Ich fall raus. Auf den Boden. Kalt. Nass geschwitzt. Mein Herz hämmert.
Aber ich weiß jetzt, was sie getan haben.
Ich bin kein Unfall. Ich bin Absicht.
Ich war nie verschwunden. Ich wurde verpackt. Versiegelt. Wieder in Umlauf gebracht.
Und jetzt bin ich aufgewacht.
Der Korridor
Ich verlasse das Archiv mit einem neuen Gefühl in der Brust. Keine Klarheit. Keine Wut.
Mehr wie ein Knistern. Als hätte jemand meine Gedanken mit Draht umwickelt.
Draußen ist es dunkler geworden. Nicht Nacht – eher ein Zustand dazwischen. Die Straßen wirken leerer, obwohl mehr Menschen unterwegs sind. Sie schauen nicht auf. Nicht hin. Nicht zurück. Vielleicht war das schon immer so. Vielleicht bin ich nur schärfer geworden.
Ich gehe zu einem Ort, den ich lange vermieden habe.
Ein altes Krankenhaus. Stillgelegt. Keiner weiß, ob’s aus Geldgründen war oder wegen der Dinge, die dort passiert sind. Ich weiß nur: dort begann es.
Der Eingang ist offen. Als hätte mich jemand erwartet.
Drinnen riecht es nach Desinfektionsmittel und Staub. Die Gänge sind gedämpft. Kein Echo. Nur das leise Surren von Notstrom oder Erinnerungen. Ich gehe durch den Flur, der sich windet. Wände gelblich, gekachelt, teilweise aufgeplatzt.
Dann finde ich ihn – den Korridor ohne Nummer.
Er ist schmaler als die anderen. Und länger. Viel länger. Keine Türen. Keine Fenster. Nur Lichtleisten an der Decke, die pulsieren, als würden sie denken. Oder zögern.
Ich setze einen Fuß hinein. Und sofort ist es anders. Leiser. Tiefer. Als würde ich durch etwas gehen, das mich zurückspult.
Ich sehe Schatten an den Wänden. Meine eigenen. Aber sie bewegen sich falsch. Versetzt. Als wären sie Erinnerungen und nicht Echtzeit. Ich gehe weiter. Und dann höre ich Stimmen.
„Sie reagiert schneller als erwartet.“
„Löschung war unvollständig.“
„Sie wird zurückfinden.“
Ich drehe mich. Niemand da. Nur der Gang. Immer noch gerade. Immer noch endlos.
Ich gehe weiter. Keine andere Wahl. Ich zähle meine Schritte.
Achtunddreißig. Neununddreißig.
Dann ist er da.
Der Raum.
Ein einzelner Stuhl. Metallisch. Mit Riemen. Gegenüber ein Monitor, der flackert. Und ich sehe mich selbst.
Nicht wie jetzt.
Wie früher.
Vor Marla.
Ich setze mich nicht. Ich sehe nur zu. Wie mein anderes Ich lächelt, obwohl es nicht weiß, was kommt.
Dann blitzt etwas auf:
Letzter Zugriff: initiiert.
Ich verstehe.
Dies ist der Punkt, an dem ich gelöscht wurde.
Und vielleicht –
der Punkt, an dem ich mich jetzt neu schreibe.
Nachtwandler
Der Gang endet nicht, er verblasst.
Ich trete durch eine graue Tür, die nie ganz geöffnet wurde. Dahinter liegt ein Raum, der nicht wie ein Raum wirkt. Zu groß. Zu leise. Und voll mit Menschen, die nicht sprechen.
Sie sitzen. Lehnen. Liegen. In Nischen, auf alten Liegen, an die Wand gelehnt. Allesamt bleich, als hätten sie das Licht vergessen. Manche tragen ihre Krankenhaushemden noch. Andere tragen Anzüge, die vor Jahren modern gewesen sein könnten. Ihre Augen: offen. Aber leer. Oder zu voll.
Ich erkenne es sofort.
Sie sind wie ich. Oder wie ich war.
Oder schlimmer: wie ich hätte werden können.
Ein junger Typ mit raspelkurzem Haar steht langsam auf, als ich näherkomme. Seine Bewegungen wirken mechanisch, dann bricht etwas auf. Eine Spur Leben in den Augen.
„Du bist Marla“, sagt er.
Ich nicke.
„Du bist… du bist echt.“
„Mehr oder weniger.“
Er lächelt. Fast. Dann zeigt er auf die anderen.
„Wir nennen uns die Nachtwandler. Weil wir nicht wissen, ob wir wach sind oder nur noch träumen.“
Ich sehe mich um. Eine Frau wiegt sich vor und zurück. Leise. Rhythmisch. Ein alter Mann starrt auf seine Hände, als wären sie ihm fremd. Einer tippt auf ein leeres Tablet. Immer wieder dasselbe Muster.
„Was hält euch hier?“, frage ich.
Der Junge zuckt mit den Schultern. „Keiner sucht uns. Und keiner will uns zurück. Aber wir spüren, wenn einer von uns sich bewegt. Wenn einer von uns beginnt… zu erinnern.“
Ich schlucke. Hart.
„Was ist mit dir?“, frage ich.
„Ich hab vergessen, was man verlieren kann.“
Ich setze mich neben ihn. Nur kurz. Der Raum pulsiert mit ihrer Stille. Es ist keine Hoffnung hier. Aber auch keine Aufgabe. Nur Dazwischen.
Dann stehe ich auf. Wieder. Langsam.
„Ich werde weitergehen“, sage ich.
Er nickt. „Vielleicht folge ich dir. Irgendwann.“
Ich gehe zur Tür. Die echte diesmal. Nicht die, durch die ich kam. Sie hat keine Klinke. Nur mein Name daneben.
MARLA_17 // AKTIV
Ich lege meine Hand auf das Feld. Es summt. Und die Tür geht auf.
Hinter ihr: nichts.
Und alles.
Wiederkehr
Der Gang hinter der Tür ist warm. Nicht angenehm – eher wie ein Serverraum, der zu atmen scheint. Licht flimmert, als wäre es durch Wasser gebrochen. Ich gehe langsam. Jeder Schritt knarzt nicht. Er hallt. Als wäre ich nicht allein.
Und dann sehe ich ihn.
Er steht am Ende des Ganges. Rücken zu mir. Dunkle Kleidung, Haare kürzer als früher. Kein Zittern. Kein Zögern. Nur dieser Stand, den ich nie vergessen habe – als würde er dem Boden misstrauen.
Ich sage seinen Namen.
Leise.
„Kian.“
Er dreht sich um.
Er sieht mich an. Direkt. Keine Überraschung. Kein Lächeln. Nur dieser Blick, der zu viel weiß.
„Marla“, sagt er. Die Stimme stimmt. Die Tiefe. Der Klang. Nur… irgendetwas fehlt.
Ich gehe ein paar Schritte näher.
„Ich dachte, du wärst… weg. Tot. Oder… gelöscht.“
„Bin ich vielleicht“, sagt er. „Kommt drauf an, wie man es sieht.“
Ich bleibe stehen. Drei Meter zwischen uns. Genau die Distanz, die Nähe gefährlich macht.
„Ich habe dich gesucht“, flüstere ich. „Ich…“
Er hebt die Hand. Keine Geste der Ablehnung. Mehr wie: Warte.
„Ich habe mich geopfert, Marla. Für dich. Für das Projekt. Damit du fliehen kannst.“
Ich will widersprechen. Aber ich erinnere mich. An die Nacht. An den Alarm. An seine Stimme in meinem Ohr: Lauf.
„Sie haben mich rekonstruiert“, sagt er ruhig. „Nicht vollständig. Nur das Nötige. Der Rest… ist Hülle.“
Ich sehe es jetzt. Seine Bewegungen sind zu flüssig. Zu korrekt. Der Blick zu gerade. Kian ist da – aber er ist nicht mehr ganz echt.
„Warum bist du hier?“, frage ich.
„Um dich zu warnen.“
Stille. Dann:
„Sie haben es aktiviert. Das Rückrufsignal. Du hast zu viel gesehen. Zu viel behalten.“
Mein Magen zieht sich zusammen.
„Und du?“, frage ich. „Was wirst du tun?“
Er senkt den Blick. Zum ersten Mal.
„Ich weiß es nicht. Ich bin beides. Befehl und Bruchstück.“
Ich trete einen Schritt näher. Nur einen.
„Dann brich. Mit mir.“
Ein Zittern geht durch ihn. Kein Licht. Nur Innen.
„Wenn du bleibst“, sagt er, „musst du kämpfen.“
„Ich bin nicht gut im Vergessen“, antworte ich.
„Dann bist du bereit.“
Er reicht mir ein Objekt. Klein, kantig, warm.
Eine Schlüsselkarte.
Darauf mein Name – und seiner. Nebeneinander. Wie früher. Wie nie.
Brennpunkt
IQ Nocturne. Wieder. Der Club, der sich nicht verändert, auch wenn du es tust.
Das rote Neon flackert. Das „Q“ ist halb erloschen. Es sieht aus wie ein offenes Auge.
Drinnen riecht es wie immer: nach altem Rauch, billigem Alkohol und der Möglichkeit, dass irgendwas heute Nacht kippt.
Ich trete ein. Kian ist hinter mir. Nicht nah. Aber da. Wie ein zweiter Schatten.
Die Musik ist anders. Weniger Beat, mehr Frequenz. Ein Grundton, den man eher im Brustkorb spürt als im Ohr. Ich sehe Gesichter. Unbekannte. Oder zu bekannte.
Der Barkeeper nickt mir zu. Kein Wort. Nur ein Blick. Er weiß, dass es heute nicht um Drinks geht.
In der Mitte des Raumes: eine Projektion.
Schwebend.
Drehend.
Eine Karte. Kein Stadtplan. Kein Code. Eine Erinnerungskarte. Mein Kopf. Mein Innerstes. Offen gelegt.
Dann beginnt es zu sprechen.
Nicht mit Worten. Mit Bildern.
Ich sehe mich. Fragmentiert.
Schlafend.
Lachend.
Sterbend.
Wieder lebend.
Die Stimme der Projektion ist meine eigene – aber langsamer. Tiefer. Als käme sie aus einem anderen Ich.
„Du wurdest geschrieben, um zu vergessen. Und gebaut, um zu erinnern. Beides ist wahr. Und beides falsch.“
Die Menge starrt. Oder tanzt. Oder ist gar nicht mehr da. Ich kann es nicht sagen.
Dann bricht etwas.
Licht. Ton. Realität. Alles flackert.
Ich sehe sie:
Die Nachtwandler.
Kian.
Mich.
Wir stehen im Zentrum eines Systems, das sich selbst überschreibt.
Ich greife in die Tasche. Ziehe die Schlüsselkarte. Sie pulsiert. Zwei Namen. Eins.
Ich halte sie in das Interface der Projektion.
Ein kurzes Zögern.
Dann: Stille.
Echte Stille.
Die Projektion erlischt.
Das Licht normalisiert sich.
Die Musik endet.
Ich stehe allein auf der Tanzfläche.
Kian ist weg.
Die Menge auch.
Nur der Barkeeper wischt ein Glas.
„Und?“, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich bin noch da.“
Er grinst. „Reicht manchmal.“
Ich gehe zur Tür. Draußen ist es noch Nacht. Aber eine andere.
Ich weiß nicht, wer ich war.
Aber ich weiß jetzt, wer ich nicht mehr bin.
Kein Morgen
Die Straßen sind still. Keine Sirenen. Kein Regen. Nur der matte Schein der Laternen, die so tun, als könnten sie irgendwas erhellen. Ich gehe langsam. Jeder Schritt klingt nach gestern.
Die Karte in meiner Jackentasche ist tot. Kein Puls mehr. Kein Licht. Als hätte sie sich aufgelöst, als ich den Raum verlassen hab. Vielleicht hat sie nur funktioniert, weil ich bereit war, sie loszulassen.
Ich bleibe an einer Kreuzung stehen. Dieselbe wie damals, glaube ich. Da, wo ich zum ersten Mal nicht mehr wusste, wohin ich gehöre. Jetzt weiß ich es noch immer nicht – aber das ist kein Mangel mehr. Nur eine Tatsache.
In einem Schaufenster sehe ich mein Spiegelbild.
Nicht glatt.
Nicht fehlerfrei.
Aber meins.
Ich sehe mich. Ohne Etikett. Ohne Protokoll.
Ein Taxi fährt vorbei, langsam. Der Fahrer schaut nicht her. Vielleicht bin ich gar nicht sichtbar. Vielleicht bin ich nur ein Restbild in einer alten Linse.
Ich setze mich auf die Bordsteinkante. Die Stadt rauscht leise. So, als würde sie schlafen, aber schlecht träumen. Ich lehne mich zurück. Atme ein.
Und dann flüstert etwas in mir. Keine Stimme. Kein Befehl.
Nur ein Gedanke:
Vielleicht gibt es kein Morgen.
Aber es gibt diese Nacht.
Ich strecke die Beine aus. Lass die Kälte rein. Spür, dass ich lebe.
Kein Morgen. Kein Plan.
Nur ich.
Und das genügt.
Für jetzt.