As Time Goes By

Jonna – Die stille Drift

1. Kaffee ohne Zucker

Morgens ist das Licht in diesem Café irgendwie geduldig. So wie ich.
Schräg durch die Fenster, Streifen auf dem Boden. Wie Gitter.
Vielleicht bleib ich deshalb immer am Rand sitzen. Ecke hinten links. Nähe Heizung, falls sie mal geht.

Der Typ am Tresen kennt meinen Namen nicht. Nennt mich „ohne Zucker“.
Ich hab ihm das nie gesagt. Aber er fragt auch nicht mehr.
Milch krieg ich trotzdem immer zu viel rein. Ist okay. Ich rühr sie nicht um.

Draußen: ein Lieferwagen, blinkt sinnlos. Die Frau mit dem kleinen Hund, der immer friert.
Drinnen: ein Ticken. Irgendwas in der Wand. Vielleicht bin ich’s auch.
Ticken im Schädel.

Heute war der Platz an der Wand schon besetzt. Junger Kerl, schwarze Haare, bückt sich über ein Notizbuch, als würde er da was aufbewahren, was weglaufen will.
Ich schätze Menschen nach der Art, wie sie Stühle bewegen.
Der hier? Rücksichtslos leise. Zu leise.

Ich starre in meine Tasse.
Der Kaffee ist lauwarm. Bitter wie alte Erinnerungen, aber nicht wichtig genug, um ihn zurückzugeben.
Ich mag ihn so.

Im Spiegel hinter dem Tresen mein Gesicht, verzogen vom Glas.
Sieht aus, als würde ich gleich etwas sagen. Aber da kommt nichts.

Dann der Moment.
Tür geht auf.
Ein Typ mit einem alten Schirm, grau-grün, wie aus einem anderen Jahrhundert.
Klamotten zu ordentlich für diesen Laden. Kein Blickkontakt.
Setzt sich, zwei Tische weiter. Trinkt nichts. Lässt den Schirm einfach stehen, als er zehn Minuten später wortlos geht.

Ich bleib sitzen. Starr auf das Ding.
Einer der alten, klobigen. Kein Plastik. Kein Werbung.
Nur der Griff: ein bisschen abgenutzt. Und ein Zettel, eingeklemmt unter dem Spanner.

Ich nehm ihn nicht gleich raus. Nur so.
Augen drauf, ohne Bewegung. Herz wie ein Stein im Magen.

Dann: Mach weiter. Du bist fast da.

Das ist alles. Schwarz auf weiß. Saubere Schrift.
Keine Unterschrift. Kein Hinweis, an wen das gerichtet ist. Aber es fühlt sich an, als wär’s für mich.

Ich heb den Schirm auf.
Er ist schwerer, als er aussieht.
Ich zahl nicht. Geh einfach raus. Der Kaffee bleibt stehen.

Ohne Zucker. Wie immer.

2. Der Mann mit dem Schirm

Ich hab den Schirm mit nach Hause genommen.
Nicht weil ich neugierig war.
Weil er mich angesehen hat. Obwohl er mich gar nicht angesehen hat.

Die Wohnung roch nach Staub und alten Heften.
Fenster beschlagen, Heizung macht ein Geräusch wie ein krankes Tier.
Ich leg den Schirm aufs Bett, zieh die Jacke nicht aus.

Der Zettel – der ist noch da.
Fühlt sich fremd an. Als hätte ihn jemand mit Handschuhen geschrieben.
Ich streich ihn glatt auf dem Tisch.

„Mach weiter. Du bist fast da.“

Was soll das heißen? Weiter mit was?
Ich hab nichts angefangen. Ich arbeite nicht an einem Plan. Ich hab keine Mission.
Ich atme, ich esse, ich schlaf. Mehr ist da nicht. Dachte ich.

Aber dann seh ich’s: Rückseite.

Ganz klein, fast wie versehentlich hingekritzelt.

N 48° 8′ 24.2“
E 11° 34′ 55.6“
07:03 Uhr

Koordinaten. Ich tipp sie ins Handy.
Ein Haus, mitten in der Stadt. Nicht weit. Fünf Stationen mit der U-Bahn.
Das ist morgen. Früh.

Ich leg mich nicht hin. Ich versuch’s, aber der Schirm liegt immer noch da.
Wie ein Tier.
Oder eine Falle.

Um halb sieben steh ich vor dem Haus.
Altbau. Graue Fassade, Risse wie Narben. Zwei Fensterläden schief.
Kein Schild, kein Name, keine Klingel. Nur eine Tür, schwarz lackiert, matt vom Regen.

Ich warte. Drei Minuten. Fünf.
Dann klopfe ich.
Nichts. Kein Geräusch. Kein Licht.

Ich versuch zu gehen, wirklich. Dreh mich schon weg.
Da klickt es.
Türspalt. Schatten. Kein Gesicht.

Ich schieb mich rein.
Die Tür fällt zu, von selbst. Kein Wind.

Drinnen ist es… still.
So still, dass meine eigenen Schritte sich fremd anhören.
Ein Flur.
Links: eine offene Tür. Dahinter nur Dunkel.

Ich steh da. Nicht mutig. Nicht dumm. Einfach… fest.

Dann flackert was. Nicht Licht – mehr wie eine Erinnerung, die sich durchs Zimmer zieht.
Und ich höre was. Eine Stimme. Ganz leise.
Wie ein Lied, das jemand nur noch halb kennt.

Ich sage nichts. Ich bewege mich nicht.

Der Schirm in meiner Hand tropft.
Obwohl es draußen nicht regnet.

3. Zwischenhaus

Ich hab gezögert, bevor ich die Tür wieder aufgemacht hab.
Nicht aus Angst.
Eher, weil ich mir nicht sicher war, ob sie noch da war.

Das Haus sieht bei Tag anders aus.
Kalk an den Wänden. Wie getrocknete Tränen.
Fenster schräg, als würde das ganze Gebäude nach innen atmen.

Ich klingle nicht. Die Klingel ist weg. Einfach… fehlt.
Tür klemmt, gibt dann plötzlich nach, als hätte sie auf mich gewartet.

Drinnen: der gleiche Flur wie neulich.
Aber leerer. Tiefer. Die Stille hat eine andere Farbe.

Ich geh durch. Langsam.
Meine Schritte klingen hohl. Nicht wie auf Holz.
Mehr wie… über Wasser. Dünnes Eis.

Die erste Tür links ist offen.
Ich trete ein. Der Raum ist weiß, aber nicht hell.
Fenster gibt’s keine. Nur eine Lampe an der Decke – sie flackert nicht, sie atmet.

In der Ecke: ein Stuhl. Umgedreht. Als hätte ihn jemand verlassen, der nicht mehr zurückkommt.

Ich setz mich nicht.

An der Wand: ein Spiegel. Groß. Rahmlos.
Ich geh näher. Erwartungslos.
Ich sehe mich.

Aber ich bewege mich nicht.

Ich blinzele. Sie blinzelt nicht.
Ich neige den Kopf. Sie bleibt gerade.

Dann zuckt ihr Mundwinkel. Ein bisschen.
Kein Lächeln. Eher ein Zucken, wie bei jemandem, der gleich was sagt, sich’s aber anders überlegt.

Ich drehe mich weg. Nicht panisch.
Einfach… genervt.

Zurück in den Flur.
Dort steht jetzt eine neue Tür.

Vorhin war da keine. Ich bin sicher.

Ich öffne sie. Nur ein schmaler Gang. Wand an Wand. Kein Licht. Kein Geräusch. Nur Enge.

Ich gehe nicht rein.
Aber ich weiß, dass ich muss.

Also zähle ich bis sieben.
Nicht fünf. Nicht zehn. Sieben. Immer sieben.
Dann trete ich ein.

Zwei Schritte.
Drei.

Ich stoße gegen etwas. Eine Wand.
Aber da war nichts.

Ich drehe mich um.
Die Tür ist weg. Der Gang auch.

Ich steh wieder in dem weißen Raum.
Der Stuhl ist jetzt besetzt.

Die Frau im Spiegel sitzt drauf.
Sie sieht mich nicht an. Aber sie hält den Schirm in der Hand.

Und er tropft.

4. Der Briefträger spricht nicht mehr

Ich hab den Typen schon immer gemocht.
Nicht weil er nett war – war er nicht.
Aber er hat mich nie gefragt, wie’s mir geht. Nie dieses genervte „Na, alles gut?“
Er hat einfach nur getan, was er tut: Briefe bringen, schweigend, früh.
Immer derselbe Gang, dieselbe Jacke, dieselben Schuhe mit dem Knarz rechts.

Heute steht er schon vor der Tür, als ich runterkomme.
Nicht wie sonst, zwischen halb acht und acht.
Nein – sieben Uhr null-null.

Er hält ein Buch in der Hand. Kein Umschlag, kein Paket. Nur das Buch.
Dünn, grau, wie aus einer anderen Zeit.

Er sieht mich an. Dann sieht er mich nicht mehr an.

Ich strecke die Hand aus. Er legt es hinein.
Nicht vorsichtig. Aber bestimmt.

„Danke“, murmel ich. Nur aus Reflex.
Er sagt nichts. Klar.
Aber diesmal bleibt er stehen.

Fünf Sekunden. Zehn.
Dann geht er. Ohne sich umzudrehen.

Ich geh wieder rauf. Treppe knarzt. Fenster offen. Wind kalt.
Ich schlage das Buch auf.

Kein Titel. Kein Autor. Keine ISBN.
Einfach:
„Jonna.“
Ganz oben auf der ersten Seite. Meine Handschrift. Ich glaub’s zumindest.

Ich blättere weiter.
Die Seiten sind leer.
Dann, plötzlich – eine Seite mit Text.

Dienstag, 07:12 Uhr
Café. Dieselbe Tasse. Dieselbe Musik. Mann mit Schirm tritt ein. Lächelt. Du hebst die Hand.
Dann flackert das Licht.

Ich starre drauf.
Seitenumbruch. Nächster Eintrag.

Dienstag, 07:12 Uhr
Café. Dieselbe Tasse. Dieselbe Musik. Mann mit Schirm tritt ein. Du hebst nicht die Hand.
Licht bleibt stabil. Er geht wieder.

Und noch einer.

Dienstag, 07:12 Uhr
Café. Dieselbe Tasse. Musik verzerrt. Schirmmann bleibt draußen. Du stehst auf.
Dein Spiegelbild bleibt sitzen.

Immer dieselbe Szene.
Varianten. Minimal. Wie Versionen von mir, die alle denselben Moment erleben – aber unterschiedlich reagieren.

Ich blättere weiter.
Nichts. Wieder leer.

Dann die letzte Seite.

„Nicht erinnern. Wiederholen.“

Ich klapp das Buch zu.
Auf dem Einband: ein Fleck. Rot.
Oder Wein. Oder was anderes. Ich fass nicht dran.

Ich leg es unters Kopfkissen.
Und schlaf trotzdem nicht.

5. Die Bilder verschwinden

Ich hab nie viel fotografiert.
Aber die paar Bilder, die ich hatte, hingen an der Wand über dem Küchentisch.
Magnetpins, schief. Staub in den Ecken.
Alte Reisen. Menschen, die ich kannte. Manche, von denen ich glaube, sie erfunden zu haben.

Am Mittwochmorgen fehlt das erste Gesicht.
Nicht gerissen. Nicht verwischt. Einfach… nicht mehr da.

Nur die Umrisse.
Wie bei diesen alten Figuren in Krimiserien – Kreide am Boden, wenn jemand weg ist.

Ich geh näher. Vielleicht nur Kondenswasser. Vielleicht das Licht.

Ist es nicht.

Am nächsten Tag: Zwei Bilder ohne Landschaft.
Nur leere Räume. Fenster ohne Ausblick. Himmel ohne Farbe.
Ich versuch, mich zu erinnern, wo das war.
Nichts.

Ich nehm eins ab, dreh’s um.
Hinten steht was.

„Dies war ein Ort.“
In Schreibschrift. Nicht meine.

Am Freitag: Das große Foto ist noch da.
Das am Fenster. Ich steh drauf, Blick nach draußen.
Draußen: ein Baum, den es nicht mehr gibt.
Ich erinnere mich an das Foto, aber nicht an den Moment.
Ich erinnere mich an die Kleidung – aber ich hab die Jacke nie besessen.
Meine Hand hält eine Tasse. Nur – ich trinke nie mit links.

Ich bleib lang davor stehen.
Wie vor einer Tür, die vielleicht doch aufgehen könnte.

Dann bewegt sich was.
Im Bild. Ganz leicht.

Ein Schatten hinter meinem Abbild.
Lang, dünn, langsam wachsend.
Ich dreh mich um. Nichts.

Wieder hin.
Da ist er.
Langsam, fast zärtlich, legt er sich über meine Schultern.
Aber nur im Bild.

Ich nehme das Foto ab.
Aber es ist kalt.
Nicht das Glas. Das Bild selbst.
Als wäre da… Frost, innen drin.

Ich leg es in eine Schublade.
Nicht aus Angst. Aus Müdigkeit.

Als ich die Schublade schließe, hör ich ein Geräusch.
Ein leises, trockenes Knistern.
Wie Papier, das sich erinnert.

6. Hinter Glas

Ich hab nie viel in den Spiegel geschaut.
Nicht aus Eitelkeit. Eher, weil ich nie sicher war, ob da wirklich ich drin bin.

Der große Spiegel im Flur war immer leicht beschlagen, selbst wenn’s nicht feucht war.
Vielleicht war das einfach mein Atem. Vielleicht war da auch was anderes.

Heute früh, beim Vorbeigehen, bleib ich stehen.
Nicht geplant. Nicht gezwungen.
Einfach… stehengeblieben.

Ich sehe mich.
Aber irgendwas stimmt nicht.

Nicht das Gesicht. Nicht die Augen.
Die Bewegung.

Ich neige den Kopf – langsam.
Das Spiegelbild folgt. Aber verzögert.
Ein Wimpernschlag zu lang.

Ich teste es.
Rechte Hand heben. Winken.
Es winkt zurück. Linke Hand.

Falsch.
Es nimmt die andere.
Nicht spiegelverkehrt – falsch.

Ich friere. Nicht äußerlich.
Innen. So als würde was in mir halten, kurz bevor’s raus will.

Ich lehne mich näher ran.
Ganz nah. Stirn fast am Glas.

Und da –
die Andere, sie blinzelt nicht.
Sie schaut mich an, als wüsste sie alles.
Aber als würde sie’s nie sagen.

Dann lächelt sie.
Ganz leicht.
So wie man lächelt, wenn man jemandem zum letzten Mal begegnet.

Ich lehne mich zurück.
Will weggehen.
Drehe mich um.

Dann, aus dem Augenwinkel, ein Flackern.

Ich dreh mich nochmal um.

Der Spiegel ist leer.

Kein Glas. Kein Rahmen.
Nur eine glatte Wand.

Als wär da nie was gewesen.

Ich taste die Stelle ab.
Nichts.
Nur kalte Farbe.

Und dann höre ich es.
Ein Flüstern.
Nicht laut. Aber nah.
Zwischen Wand und Ohr.

„Du kommst zu spät. Oder zu früh.“

Ich sage nichts.

Denn irgendwas in mir weiß:
Das war meine Stimme.

7. Fremdes Licht

Die Stadt ist voll von Leuten, die nichts sehen wollen.
Ich zähl mich dazu.
Bis gestern.

Es fing an an der Ampel.
Grün. Dann wieder rot. Dann… irgendwas dazwischen.
Kein Gelb. Eher ein Leuchten.
Wie altes Neon. Zitternd.
Wie wenn man denkt, das Licht geht gleich aus – aber es brennt weiter.

Die Menschen um mich gehen einfach los.
Ich bleib stehen.
Weil es flackert. Und weil ich weiß: Das ist nicht nur die Ampel.

Ich seh mich um.
Alles bewegt sich in normaler Geschwindigkeit. Aber falsch.
Als würden sie tanzen nach Musik, die ich nicht höre.
Oder ich hör sie – aber rückwärts.

Dann, auf dem Hausdach gegenüber: ein Lichtkegel.
Kein Scheinwerfer. Kein Fahrzeug.
Ein Licht, das da nicht hingehört.
Es wandert.
Zitternd. Suchend.

Es bleibt auf mir stehen.

Kein Geräusch. Kein Hitzegefühl.
Nur dieses… Fixiertsein.
Als wär ich ein Punkt, den jemand markiert hat.
Und vergessen zu löschen.

Ich bewege mich nicht.
Das Licht auch nicht.

Dann: alles friert ein.
Ein Geräusch wie eingesperrte Elektrizität.
Metallisches Singen.

Die Frau neben mir hat den Mund offen. Aber ihr Ton hängt in der Luft.
Die Taube auf dem Bordstein flattert nicht weiter.
Ein Wassertropfen bleibt am Fallrohr kleben – in der Luft.

Ich hebe die Hand.
Langsam.
Widerstand, wie durch Sirup.
Oder Erinnerung.

Als meine Hand fast das Licht berührt, blinzle ich.

Und alles läuft wieder los.

Menschen reden. Die Ampel klickt.
Der Tropfen klatscht.
Die Taube ist weg.

Nur das Licht – ist fort.

Aber auf meinem Handrücken:
ein Abdruck.
Leicht gerötet.
Rund, wie ein Kreisstempel.
Wie ein Auge. Offen.

Ich zieh den Ärmel drüber.
Und geh weiter.
Zwei Straßen später bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich den Weg kenn.

8. Bernsteinrauschen

Es beginnt in der Nacht.
Irgendwas zwischen Schlaf und diesem Dämmerzustand, in dem man seine Gedanken hört wie Schritte von jemand anderem.

Ein Geräusch.
Knisternd, warm.
Wie Holz, das zu alt ist, um zu brennen, aber zu lebendig, um ruhig zu bleiben.

Ich wache nicht erschrocken auf.
Ich gleite. Einfach.
Augen offen, aber ohne Fokus.
Der Klang bleibt. Nicht laut. Aber fordernd.

Ich zieh mich an. Ohne Plan.
Einfach: raus.

Draußen ist die Stadt wie immer.
Nur… leerer.
Weniger Autos, weniger Stimmen.
Als wär alles einen Hauch zu weit weg.

Ich folge dem Geräusch.

Es führt mich durch Straßen, die ich kenne, aber in denen die Häuser plötzlich dichter stehen.
Keine Lücken. Keine Zufälle.
Alles ist… gesetzt.

Dann steh ich vor dem alten Kaufhaus.
Seit Jahren leer.
Fenster blind, Tür verriegelt.
Aber jetzt: offen.

Das Geräusch ist lauter hier.
Nicht dröhnend – eher wie ein Geheimnis, das sich dauernd wiederholt, bis man’s nicht mehr ignorieren kann.

Ich gehe rein.

Innen: Dunkel. Aber kein Schwarz.
Eher Bernsteinfarben.
Nicht Licht, nicht Schatten.
Etwas dazwischen.

Und da steht er.
Der Mann mit dem Schirm.
Oder jemand, der aussieht wie er.
Nur älter. Grauer. Die Bewegungen langsamer, als würde er seine Gelenke zählen.

Er sieht mich an.
Lange.
Dann sagt er:
„Du hast mich noch nicht vergessen. Deshalb bist du hier.“

Ich sage nichts. Weil ich nicht weiß, ob ich ihn vergessen hab.
Oder ob ich ihn nie kannte.

„Manchmal kommen sie zurück“, sagt er.
„Die Varianten. Die, die sich weigern.“

Ich will fragen – was für Varianten? Wovon reden wir hier?

Aber ich bleib still.
Weil sein Blick nicht zu mir gehört.
Sondern zu der, die ich mal war. Oder hätte sein sollen.

Er geht. Langsam. Als würde er nicht mehr ganz zu dieser Schwerkraft gehören.

Ich bleibe im Licht.
Es knistert noch immer.
Wie Bernstein, das sich selbst erzählt.

Dann leuchtet meine Hand wieder.
Dieselbe Stelle wie damals.
Der Kreis. Offen.
Und warm.

9. Flucht nach unten

Ich bin lange geblieben.
In dem Kaufhaus.
Vielleicht Stunden. Vielleicht nur Minuten, die sich gestreckt haben wie Gummi in der Sonne.
Kein Empfang. Kein Netz. Kein Geräusch – außer diesem Rauschen, das sich langsam auflöst.
Wie ein Radio, das sich selbst vergisst.

Ich finde die Tür erst, als ich nicht mehr suche.
Hinter einem halb heruntergelassenen Vorhang.
Kein Schild. Kein Griff. Nur ein Spalt.

Ich schiebe mich durch.
Treppen. Beton. Kalt, feucht.
Es riecht nach Rost und etwas anderem.
Etwas… Altem. Wie Erinnerung im Keller.

Ich geh runter.
Langsam, die Hand am Geländer.
Jede Stufe klingt wie ein Gedanke, der zu laut gesagt wurde.

Dann: eine Halle.
Leer.
Bis auf ein paar Schienen, die ins Nichts führen.
Wände mit Schrift, die jemand übermalt hat – mit Lichtgrau auf Dunkelgrau.
Unlesbar. Und trotzdem bleibt mein Blick daran hängen.

Die Luft ist schwer.
Nicht stickig – schwer.
Wie gesättigt mit dem, was hier mal war.

Ich lauf ein Stück den Gleisen entlang.
Die Schritte hallen zu lang.
Als würde jemand mitgehen, halb versetzt.

Dann sehe ich sie: die Tür.
Kein Rahmen. Kein Schloss.
Ein Rechteck aus Licht.
Einfach da. Stehend in der Leere.

Ich geh drauf zu.
Nicht schnell.
Ich hab nicht das Gefühl, dass sie fliehen würde.

Ich streck die Hand aus.
Die Luft davor vibriert leicht, wie über Asphalt im Sommer.
Ich berühre sie.

Kein Schmerz. Kein Kältegefühl.
Nur… nichts.

Die Hand geht nicht durch.
Aber sie verschwindet.
Ich sehe sie nicht mehr. Spüre sie aber noch.
Als wär sie jetzt… woanders.

Ich ziehe sie zurück.
Langsam.
Nichts fehlt. Aber sie fühlt sich fremder an als vorher.

Dann hinter mir: ein Schritt.
Nur einer.

Ich dreh mich um.

Da ist niemand.

Nur ein Schatten an der Wand.
Nicht meiner.

Und dann das Geräusch:
Der Zug kommt.
Aber auf Gleisen, die nirgendwo hinführen.

10. Der Löffel, der keiner war

Ich bin irgendwann wieder raus aus dem Untergrund.
Nicht weil ich wollte.
Weil das Licht ausgegangen ist.
Einfach klack, und alles war schwarz.
Der Weg zurück war plötzlich da.
Oder ich bin ihn schon mal gegangen. Nur andersrum.

Oben ist alles still.
Kein Verkehr. Keine Stimmen.
Die Welt klingt gedämpft.
Wie unter einer dicken Decke, die keiner bestellt hat.

Ich gehe nach Hause.
Tür auf, Jacke weg, Wasserkocher an.
Routine. Oder das, was davon übrig ist.

Dann sitze ich in der Küche.
Tasse. Teebeutel.
Löffel.

Ich will rühren.
Aber der Löffel… biegt sich.

Langsam. Wie eine Blume, die nicht mehr will.
Ich halt inne.

Nicht, weil das sonderlich spektakulär ist.
Sondern, weil ich weiß: Das ist nicht der erste Löffel.

Ich hab das schon mal gesehen.
Oder geträumt.
Oder jemand hat es mir gezeigt.

Ich klopfe mit dem Löffel auf den Tisch.
Dreimal. Dumpf.
Dann lege ich ihn ab.
Er rollt. In einem Halbkreis.
Bleibt genau da liegen, wo mein Arm ihn nicht mehr erreichen kann.

Ich schaue mich um.
Fenster zu. Uhr bleibt stehen.

Der Kühlschrank brummt – aber rückwärts.
Ich hör das.
Er zieht die Zeit zurück. Ganz leise.

Ich gehe ins Bad.
Spieglein, Spieglein.
Diesmal seh ich mich. Fast normal.

Aber mein Gesicht ist einen Bruchteil zu langsam.
Meine Augen folgen mir nicht ganz.

Dann lächelt es.
Nur das Spiegelbild.
Ich nicht.

Und das Lächeln bleibt.
Auch als ich mich wegdrehe.

Ich geh zurück in die Küche.
Der Löffel ist verschwunden.

Auf dem Tisch: ein Kreis aus Kondenswasser.
Und ein Wort.
Mit dem Finger reingeschrieben.

„Jetzt“

11. Das Protokoll der Schatten

Ich hab nicht gesucht.
Ich bin einfach weitergegangen.
Immer weiter.
Nicht, weil ich wusste, wohin – sondern weil Stehen schlimmer war.

Es war dieser Nebel, der mich gelockt hat.
Einer, der nach innen zieht.
Nicht kalt, sondern… ruhig.
So ruhig, dass man sich fragt, ob man selber noch da ist.

Hinter dem Park, wo früher der Spielplatz war, steht ein Baucontainer.
Tarnfarbe, eingewachsen, als hätte die Stadt ihn vergessen.

Die Tür ist offen.
Innen: Regale.
Papier. Schachteln. Ordner.

Und Stille.
Die Art von Stille, die nicht leer ist, sondern voll.
Wie eine Lunge kurz vorm Ausatmen.

Ich ziehe einen Ordner raus.
„Schatten / Protokolle / J-K / Iteration III-VI“

Der Name springt mir nicht ins Auge.
Er legt sich an die Haut.
Jonna.

Ich blättere.

Seiten mit Diagrammen.
Herzfrequenzkurven, Augenbewegungen, Dialogfragmente.

Dann: Berichte.
Klar. Nüchtern.
Fast freundlich.

Jonna 1: Verlustreaktion instabil. Schleifenbruch nach Phase IV. Erinnerungsverschiebung stark. Eingriff abgebrochen.

Jonna 3: hohe Resilienz. Spiegelresonanz bemerkbar. Kontakt mit „Schirmträger“ führt zu struktureller Destabilisierung.

Jonna 5: Abweichung 14,3 %. Beobachtet eigene Schatten. Phase V unterbrochen.

Ich lese weiter.
Jede Jonna bricht woanders.
Oder bricht gar nicht.
Manche bleiben. Manche laufen.

Aber immer: der Mann mit dem Schirm.
Manchmal „Begleiter“, manchmal „Fehlerquelle“.

Dann finde ich ein Protokoll ohne Nummer.
Kein Datum.
Kein Status.

Nur:

Sie sieht uns. Sie stellt keine Fragen. Sie bleibt länger als die anderen.

Und ganz unten, handschriftlich:

„Vielleicht ist sie nicht eine von vielen. Vielleicht sind die anderen viele von ihr.“

Ich schlage das Heft zu.
Langsam.
Die Hände zittern nicht. Noch nicht.

Als ich den Container verlasse, ist es heller.
Aber ich weiß nicht, ob das der Himmel ist.
Oder nur eine neue Phase.

12. Treppentanz

Die Treppe ist da, wo sie nicht sein sollte.
Mitten im alten Kaufhaus, zweite Etage, wo früher Parfüm war.
Jetzt: nichts.
Nur diese Stufen.
Dunkelgrau, kein Geländer, spiralförmig ins Nichts.

Ich setze einen Fuß drauf.
Nur um zu testen.
Aber der Schritt macht ein Geräusch, das klingt wie ein Ja.

Ich geh los.
Stufe um Stufe.
Linksrum, dann rechtsrum.
Kein System.

Die Luft verändert sich.
Wird weicher. Schwerer.
Wie kurz vorm Schlaf.

Dann: Schritte.
Nicht meine.
Aber synchron.

Ich bleib stehen.
Die anderen auch.
Ich atme flach.
Nichts bewegt sich – außer dem Licht.

Und dann seh ich sie.

Sie kommt mir entgegen.
Auf derselben Treppe. Aber aus einer Richtung, die es nicht gibt.
Sie sieht aus wie ich.
Nur… aufrechter. Wacher.
Augen, die wissen, was ich noch nicht mal ahne.

Wir gehen aneinander vorbei.
Nicht schnell.
Nicht zaghaft.
Wie zwei, die wissen, dass Berührung was zerreißen könnte.

Sie sagt nichts.
Aber ich spür’s.
Ein Satz, der zwischen uns hängt.

„Ich war du. Und du wirst ich.“

Ich geh weiter.
Sie auch.
Richtung Gegenwart. Oder was davon übrig ist.

Als ich wieder unten bin – oder oben? – bin ich allein.

Aber mein Schatten bleibt stehen.

Ich ruf ihn nicht zurück.

13. Zerspiegelung

Die Halle steht leer.
Eine alte Turnhalle, vermauert, mit Holzsplittern im Boden und Licht, das nur durch gebrochene Scheiben kommt.
Aber mitten drin: ein Spiegel. Riesig. Freistehend. Kein Rahmen.
Einfach da.

Ich seh mich.
Wirklich.
Kein Flackern, keine Verzögerung.
Nur: Ich.

Aber dann blinzelt sie – bevor ich es tue.
Und ich weiß: Das bin nicht ich.

Sie sieht mich an. Direkt.
Und dann bewegt sie die Lippen.
Langsam. Wortlos.

Ich trete näher.
„Sprich“, sag ich.
Meine Stimme klingt fremd in diesem Raum.
Aber sie tut’s. Leise.
Nicht in Geräuschen – in meinem Kopf.
Oder dazwischen.

„Du hast vergessen, dass du gefragt hast.“

Ich antworte nicht.
Weil sie recht hat.
Ich hab alles gefragt. Schon hundertmal. Und wieder vergessen.

„Der Schirm war dein Zeichen. Nicht seins.“

Ich versuch zu erinnern.
Nichts Greifbares. Nur das Gefühl, dass es stimmt.
Wie wenn jemand einen Namen sagt, den man nur aus dem Traum kennt.

„Du bist die Wiederholung. Nicht das Original.“

Ich gehe noch näher ran.
Unsere Nasen trennen vielleicht zehn Zentimeter.
Aber ich rieche nichts. Keine Haut, kein Atem. Nur Glas.

„Warum ich?“, flüstere ich.
Sie lächelt.
Nicht spöttisch.
Traurig.

„Weil du bleibst. Alle anderen sind gegangen.“

Ich hebe die Hand.
Presse sie gegen das Glas.
Sie auch.
Aber da ist kein Widerstand.

Meine Finger sinken ein.
Langsam, kalt.
Dann: nichts.

Sie ist weg.
Ich seh nur mich.

Und für einen Moment – nur einen – sieht mein Gesicht… erleichtert aus.
Wie jemand, der endlich gefunden wurde.

Ich drehe mich um.
Will gehen.

Aber hinter mir klirrt etwas.
Ich dreh mich zurück.

Der Spiegel hat einen Sprung.
Ganz fein.
Mitten durch mein Gesicht.

14. Die Drift

Die Welt fängt nicht laut an zu wanken.
Sie rutscht.
Ein bisschen nach links. Dann wieder zurück.
Wie ein Tischbein, das nicht richtig steht.

Ich gehe durch die Stadt.
Oder das, was von ihr übrig ist.
Straßen da, aber falsch beschriftet.
„Schwarzstraße“ heißt plötzlich „Wortlosgasse“.
Eine Ampel blinkt Lila.

Menschen gehen an mir vorbei.
Stumm.
Die Gesichter bekannt – aber aus alten Träumen.
Ein Junge trägt ein Plakat auf dem Rücken:
„Du bist schon angekommen.“

Ich bleib stehen.
Will fragen.
Aber da ist nichts zu fragen.

Die Luft ist dick.
Nicht heiß – eher geladen.
Wie vor einem Gewitter, das sich nicht entscheiden kann.

An der Ecke steht ein Briefkasten, der atmet.
Ich werf nichts ein.

Dann seh ich sie.

Mich.
Wieder.

Auf der anderen Straßenseite.
Schwarzer Mantel, der Rücken leicht krumm, als würd sie schwerer atmen.

Ich winke nicht.
Sie auch nicht.

Wir bleiben stehen.
Lang genug, dass es bedeutungslos wird.

Dann geht sie weiter.
Und ich auch.

Häuser verziehen sich.
Fenster wandern.
Schatten lösen sich ab und bleiben hinter den Laternen stehen.

Ich gehe durch.
Einfach weiter.
Als würde der Weg mich kennen.
Als würde ich nur eine alte Spur laufen, die vergessen wurde.

Über mir: ein Licht.
Nicht hell.
Nur wach.

Ich bleibe kurz stehen, mitten auf der Straße.
Kein Auto. Kein Mensch. Nur das Zittern der Welt unter meinen Schuhen.

Dann geh ich weiter.
Weil ich’s schon mal getan hab.
Oder weil ich’s nie getan hab.

15. Anfang. Oder: Jetzt.

Das Café ist noch da.
Oder wieder da.
Ich weiß es nicht.
Die Scheiben beschlagen. Dieselbe Ecke frei. Der Tisch, an dem alles begonnen hat – wenn es denn begonnen hat.

Ich setz mich.
Ohne Bestellung. Ohne Blickkontakt.

Der Kellner bringt den Kaffee.
Ohne Zucker.
Ich nicke.
Er auch.

Draußen regnet es nicht.
Aber trotzdem tropft es irgendwo.

Ich nehm die Tasse in die Hand.
Sie ist warm.
Nicht heiß. Nur warm.
Wie etwas, das schon eine Weile auf mich wartet.

Die Tür klingelt.
Ein Mann tritt ein.
Mantel. Schirm. Kein Blick in meine Richtung.

Er setzt sich zwei Tische weiter.
Der Schirm lehnt an seinem Bein, schwer, vertraut.

Dann sieht er mich.
Nur kurz.
Ein Moment, der nicht zu lang ist.

Ich hebe die Hand.
Keine große Geste. Nur ein Hauch.
So als würde man einem alten Gedanken zuwinken.

Er lächelt.
Und in diesem Lächeln liegt nichts Drohendes.
Nichts Rätselhaftes.

Nur: Wiedererkennen.

Das Licht flackert.
Nur ein Mal.

Dann bleibt es ruhig.

Und draußen –
da beginnt es zu schneien.
Leise.
Langsam.
Als wäre das genau der Moment, in dem etwas Neues beginnt.

Oder etwas Altes einfach bleibt.

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