As Time Goes By

Frieda – Zwischen den Zeilen

Kapitel 1 – Kaffee, kalt, wie immer

Der Wecker ist tot. Hab ihn schon vor Wochen vom Nachttisch gefegt. Liegt jetzt unterm Bett wie ein nutzloser Käfer. Ich wach trotzdem jeden Morgen auf. Ist wie so ein körperliches Trauma – der Körper erinnert sich, auch wenn man’s nicht will.

Die Wand über meinem Bett blättert ab. Feine Risse, fast filigran. Manchmal bilde ich mir ein, dass sie wachsen, je länger ich liege. Vielleicht wird das hier irgendwann eine Ruine, mit mir als Fossil mittendrin.

Ich hör den Typen im Hof. Derselbe wie immer. Raucht Camel und redet, als wär die Welt sein Wohnzimmer. Seit Wochen dieselbe Stimme, dieselbe Wut. Heute schreit er „Du hörst mir nie zu!“ Ich weiß nicht, zu wem er spricht. Vielleicht zu sich selbst. Vielleicht sind wir alle bloß Echo.

Ich geh in die Küche, die keine Küche ist. Zwei Quadratmeter Verzweiflung, ein Wasserkocher, ein zerkratzter Tisch, auf dem noch eine halb aufgegessene Mandarine liegt, vertrocknet wie ein Herz in Formaldehyd. Ich werf sie nicht weg. Ich werf fast nichts weg.

Kaffee. Pulver. Wasser. Warten. Ich starr durch das angelaufene Fenster, das aussieht wie die Gedanken, die ich morgens hab – trüb, ungeordnet, ein bisschen zu laut in den Rändern. Draußen zieht eine Frau ein Kind hinter sich her. Das Kind bleibt stehen, guckt mir direkt ins Gesicht. Ohne Regung. Ich seh aus wie jemand, dem man nicht trauen sollte.

Ich nehm meine Jacke. Echtleder, wahrscheinlich 80er, Flohmarkt, 30 Euro, riecht nach Keller und etwas, das mal gelebt hat. Ich fühl mich manchmal wie diese Jacke. Nicht mehr neu, nicht ganz kaputt, aber die Patina sagt: Vorsicht.

Im Treppenhaus flackert das Licht. Es macht immer das, wenn man’s braucht. Unten riecht’s nach Pisse und Mottenkugeln. Der Briefkasten hängt schief, mein Name mit Edding draufgeschmiert. Daneben ein Aufkleber: „Niemand wird dich retten.“ Wahrscheinlich von Julius aus dem dritten Stock. Der macht Performance-Kunst mit Müllsäcken.

Bao steht wie immer hinterm Tresen. Redet nicht. Hat noch nie. Vielleicht kann er’s nicht. Vielleicht will er nicht. Beides völlig in Ordnung. Ich zeig auf meine Zigaretten. Er legt sie wortlos hin, scannt nicht, rechnet nicht. Ich nick. Er nickt. Das reicht.

Ich steh draußen, rauch, seh, wie der Dreck auf dem Gehweg sich mit der letzten Nacht mischt. Der Himmel hängt tief. Als wär er müde von uns allen. Ein Lieferwagen fährt zu schnell durch eine Pfütze, ich krieg den Schwall ab. Kein Wort. Kein Fluch. Nur Nässe, kalt bis auf die Haut.

Ich geh los. Jeder Schritt ein Fragezeichen. Richtung Werkstatt. Richtung Nichts. Und irgendwo in mir schreit was, ganz leise. So leise, dass man es für Gewöhnung halten könnte.

Kapitel 2 – Druckerschwärze

Die Tür zur Werkstatt klemmt wie immer. Man muss sie treten, nicht ziehen, obwohl „Ziehen“ draufsteht. Ist vielleicht Absicht, als kleine Prüfung, ob man dazugehört. Ich tret sie auf, der Rahmen knarzt beleidigt. Der Geruch schlägt mir sofort entgegen – Metall, Öl, Papierstaub und eine schwitzige Süße, die von dem alten Kühlschrank hinten kommt.

„Morgen, Frieda“, murmelt Karim, ohne aufzublicken. Hat schon wieder Öl an der Stirn. Wahrscheinlich schläft er hier. Oder er duscht nie. Beides denkbar.

Ich nicke, häng meine Jacke an den rostigen Haken, der nur hält, wenn man ihn genau im richtigen Winkel belastet. Alles hier ist ein bisschen kaputt – aber kaputt auf eine Weise, die funktioniert. Wie wir alle.

Die Maschinen rattern schon. Druckwalzen drehen sich wie betrunkene Tänzer, das Papier fliegt durch die Rollen, warm, laut, lebendig. Ich liebe das Geräusch. Es ist ehrlich. Kein Smalltalk. Keine Lügen. Nur Bewegung und Zweck.

Ich fütter die große Heidelberg mit Papier. Die Hebel quietschen, die Farbwalze atmet schwer. Ich drück den Startknopf. Nichts. Ich fluch leise.

Ein anderes Geräusch. Weich. Damals. Sommer auf dem alten Spielplatz. Der Klang von quietschendem Gummi unter nackten Füßen. Mama auf der Bank, Zigarette, starrer Blick. „Geh doch zu den anderen.“ Ich wollte nicht. Ich war genug für mich. Immer gewesen.

„Frieda? Alles okay?“ Lucie steht neben mir, zerzaust, mit schwarzem Lippenstift, der halb verwischt ist. Sie sieht aus, als hätte sie in einem Gedicht geschlafen.

„Maschine spinnt“, sag ich. Meine Stimme klingt weiter weg, als sie ist.

Lucie zuckt mit den Schultern. „Dann mach ihr Angst. Die braucht das manchmal.“ Sie geht weiter, summt irgendwas, das wie eine Erinnerung klingt. Ich kenn das Lied. Vielleicht aus einer Bar. Vielleicht aus einem Traum.

Ich krieg die Maschine zum Laufen, irgendwann. Dann geht alles wie automatisch. Griff, Zug, Druck, Stapel. Die Hände bewegen sich, der Kopf ist woanders. Ich denk an das Fenster in meiner Küche. Und daran, wie ich gestern Nacht nicht schlafen konnte, weil das Licht vom Haus gegenüber flackerte wie ein Herz, das nicht loslassen will.

Ein Geruch: billiger Männerduft. Warmes Bier auf nackter Haut. Sein Zimmer, Sommer 2019. „Du bist so still manchmal“, hatte er gesagt. Und ich hab nichts geantwortet. Weil das Schweigen schon alles gesagt hatte.

Mittagspause. Eigentlich. Aber niemand geht. Karim holt eine halbe Tüte Chips raus, bietet wortlos an. Ich nehm zwei. Sie schmecken nach Altöl und Paprika.

„Kennst du die, die da neulich den Flyer gemacht hat?“ fragt er plötzlich.

„Welche?“

„Diese mit dem Gedicht. So ganz roh. Kein Name drauf.“ Er zieht ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche. Ich les die ersten Zeilen:

„Ich hab mich so oft verloren, dass ich gar nicht mehr weiß, wer mich sucht.“

Etwas zuckt in meinem Brustkorb. Ich klapp das Papier zu.

„Keine Ahnung“, lüge ich. Aber die Worte brennen sich ein, als hätte ich sie schon mal gehört. Oder gedacht. Oder fast gesagt.

Als ich später wieder an der Maschine stehe, zittert mein linker Zeigefinger. Einfach so. Ohne Grund. Oder mit zu vielen. Ich lass ihn gewähren. Wir sind alle ein bisschen defekt.

Und als ich abends die Werkstatt verlasse, riecht die Luft nach Regen. Ein einzelner Tropfen trifft meine Stirn, genau auf die alte Narbe. Ich bleib stehen.

Ein Blitz. Damals. Fahrradunfall. Ich, zwölf. Blut auf Jeans. „Na toll, Frieda“, hatte mein Vater gesagt. „Immer musst du übertreiben.“

Ich geh weiter. Nicht schnell. Aber ich geh.

Kapitel 3 – Fundstück

Die U8 ist überfüllt, wie immer. Riecht nach nassem Stoff, billigem Parfüm, Müdigkeit. Ich sitze auf einem der harten Plastikschalen, versuch nicht zu atmen. Mir gegenüber ein Typ mit AirPods, er tippt irgendwas ins Handy, Daumen wie Maschinen. Neben mir eine Frau mit Tränen auf den Wangen, regungslos, als wären sie einfach so passiert, beim Sitzen.

Ich steig am Kotti aus. Menschenströme, Stimmen, überall Musik aus kaputten Lautsprechern. Ich dreh mich um, will zum Ausgang – da seh ich’s.

Liegt auf der Bank. Zwischen Kaffeebecher und Kaugummi: ein schwarzes Notizbuch, abgegriffen, gummibandlos. Niemand beachtet es. Ich auch nicht – erst. Ich lauf zwei Schritte weiter. Dann bleib ich stehen.

Irgendwas zieht. Kein Gefühl. Eher wie ein Echo. Ich geh zurück, heb es auf. Kein Name, kein Zettel. Nur dieses Gewicht. Etwas schwerer als erwartet. Ich seh mich um. Keiner schreit „Hey!“ oder „Das ist meins!“ Nur Berlin. Gleichgültig wie ein müder Hund.

Ich stopf das Buch in meine Jackentasche, als wär’s ein Apfel. Geh weiter. Unten auf der Straße kreischt eine Möwe – falsch, zu weit weg vom Wasser. Vielleicht hat sie sich verlaufen. Oder verirrt. Wie so viele hier.

Zuhause. Ich leg das Notizbuch auf den Tisch, neben den Aschenbecher und die halbleere Kaffeetasse von heute Morgen. Ich zieh die Schuhe aus, dreh eine Zigarette, zünd sie an. Der erste Zug kratzt wie Schuld im Hals.

Ich öffne das Buch.

„Ich glaub, ich bin nur eine Sammlung von Dingen, die ich nie gesagt habe.“

Die Handschrift ist klein, eng, fast schüchtern. Keine Titel, keine Einordnung. Nur Worte. Roh. Zärtlich. Brutal ehrlich.

„Gestern wollte ich nicht mehr aufstehen. Ich dachte: Vielleicht passiert’s einfach. Vielleicht hört der Körper auf, wenn man aufhört, ihn zu überzeugen.“

Ich blätter weiter. Seiten voll Gedanken, Skizzen, Beobachtungen. Nichts erklärt. Alles offen.

„Ich habe Angst vor Menschen, die wissen, was sie wollen. Weil sie mir zeigen, dass ich nichts will. Oder nichts kann. Oder zu feige bin.“

Ich lese, ohne zu merken, dass es dunkel wird. Kein Licht an. Kein Geräusch. Nur die Worte und ich. Und dieses Gefühl, das sich in meine Knochen setzt. Als würde jemand anderes genau da sitzen, wo ich bin.

Ich klapp das Buch zu. Rauch ist inzwischen grau, zieht langsam zur Decke. Ich hör draußen, wie jemand gegen eine Mülltonne tritt. Irgendwo klingelt ein Telefon. Nicht meins.

Ich leg das Notizbuch unter mein Kopfkissen. Weil es sich richtig anfühlt. Oder weil ich nicht will, dass es verschwindet. Vielleicht beides.

Später lieg ich im Bett, Augen offen, Herz zu laut. Und in meinem Kopf: kein Bild, keine Stimme. Nur dieser eine Satz:

„Ich glaub, ich bin nur eine Sammlung von Dingen, die ich nie gesagt habe.“

Kapitel 4 – Splitter im Kopf

Ich wache auf, noch bevor der Himmel hell wird. Das Zimmer atmet kalt, der Radiator klickt nur beleidigt. Ich lieg starr wie Marmor, Augen auf, Kopf voll. Unter meinem Kissen das Notizbuch, schwer wie ein Stein in der Brusttasche.

Ich zieh es hervor. Die Seiten fühlen sich anders an heute. Glatter. Oder ich bin dünnhäutiger geworden.

„Ich will manchmal verschwinden, aber nicht weg sein. Nur… aus der Sichtlinie.“

Ich les weiter. Wort für Wort, als würde ich jemandem beim Denken zusehen. Oder beim Sterben. Oder beidem.

„Manchmal denke ich, ich bin ein Raum ohne Tür. Alle können rein, aber niemand kann bleiben.“

Ich hör mich laut ausatmen. Die Heizung springt an. Ich zuck zusammen.

Draußen schreit jemand. Keine Ahnung warum. Ist hier normal. Ich steh auf, tappe barfuß in die Küche, nehm das Buch mit. Stell den Wasserkocher an, vergesse ihn wieder. Stattdessen setz ich mich auf den Boden, Rücken an die Wand, Buch auf den Knien. Ich les weiter.

„Ich hatte mal eine Freundin, die mir sagte, ich sei zu viel. Drei Wochen später war sie weg. Ich glaub, sie meinte es nicht böse.“

Etwas zieht in meinem Magen. Kein Hunger. Das andere. Das schwerere.

Ich denk an Lena. 2021. Wir saßen auf ihrem Balkon, rote Lichter, schiefe Musik. „Du bist wie ein Fenster, Frieda“, hatte sie gesagt. „Man sieht viel, aber man kann nicht rein.“
Zwei Wochen später hat sie mir nicht mehr geantwortet.
Ich hab’s verstanden. Irgendwie.

Ich klapp das Buch zu. Nur kurz. Ich muss los. Werkstatt ruft. Realität auch.

Auf dem Weg dorthin fahr ich U-Bahn. U8 wieder. Ich seh mich um, such Gesichter, Hände, Stimmen, die passen könnten. Zu der Schrift. Zu der Stimme im Notizbuch.

Ein Mann mit schmalem Kinn, eine Frau mit viel zu großen Kopfhörern. Niemand sieht aus, als würde er schreiben. Oder als hätte er diesen Satz gedacht:

„Ich glaube, die Welt hat eine Tür vergessen. Und wir stehen alle davor.“

In der Werkstatt riecht es wie immer. Karim winkt, ich nick. Lucie ist nicht da. Angeblich krank. Ich glaub eher, sie hat zu viel Gefühl und zu wenig Lust, es in dieser Welt zu tragen.

Ich stell mich an die Maschine, aber ich arbeite nicht. Nicht richtig. Ich drucke leer. Lege Papier ein, schau zu, wie es rauskommt – blank. Keine Tinte, kein Bild. Nur Bewegung.

Später, auf dem Klo, les ich weiter. Zwischen Fliesen und Graffitis, die sagen „Wir sterben eh“, halte ich dieses Buch, als wär’s eine Stimme, die mich kennt.
Die mich ertappt.
Die mich aushält.

„Ich weiß nicht, ob ich je ganz war. Vielleicht bin ich nur das, was andere zurückgelassen haben.“

Ich will schreien. Oder lachen. Stattdessen spür ich Tränen, trocken, noch bevor sie kommen.

Ich steck das Buch in meine Tasche. Geh zurück. Die Maschine rattert. Jemand ruft meinen Namen. Ich hör ihn nicht.
Oder will ihn nicht hören.

Kapitel 5 – Stimmen in fremder Handschrift

Es ist Mittwoch oder Donnerstag. Ich weiß es nicht genau. Die Tage schieben sich aneinander wie schmutzige Laken. Ich geh zur Werkstatt, arbeite mechanisch, zähle Sekunden zwischen Druckvorgängen, antworte kaum noch, ignoriere Fragen. Karim fragt, ob alles okay ist. Ich nicke. Was soll ich sonst sagen? „Ich suche eine fremde Seele, die sich in meinem Kopf eingenistet hat“?

Abends sitz ich auf dem Küchenboden, das Notizbuch vor mir, überall Zigarettenstummel in alten Gläsern. Ich fang an, die Handschrift zu analysieren. Schräge nach rechts. Eng. Fast zwanghaft. Vielleicht jemand, der Ordnung liebt. Oder jemanden verloren hat. Vielleicht beides.

Auf einer der hinteren Seiten steht eine Adresse. Halb durchgestrichen. „Hobrechtstraße 26“. Ich schlag es bei Google Maps nach. Ist fünf U-Bahnstationen entfernt. Ich zieh mir die Jacke über, obwohl es fast Mitternacht ist.

„Ich war noch nie gut darin, Dinge loszulassen. Deswegen heb ich alles auf. Auch Menschen.“

Ich geh die Hobrechtstraße rauf. Nummer 26 ist ein grauer Bau, vier Stockwerke, dunkles Treppenhaus, kein Licht, kein Schild. Die Klingel unter dem Namen „L. Rehm“ ist mit schwarzem Tape überklebt. Mein Herz schlägt schneller. Ich weiß nicht, warum. Ich will gar nicht klingeln. Aber ich tu’s trotzdem.

Nichts. Kein Ton. Kein Licht. Nur mein Atem, der zu laut klingt. Ich klingel noch mal. Wieder nichts.

Ein Fenster im dritten Stock flackert kurz. Dann wieder Dunkelheit.

Ich bleibe noch einen Moment stehen. Mein Blick wandert über die Tür, das Mauerwerk, die Briefkästen. Alle gleich. Anonym. Als hätten sich die Menschen hier abgewöhnt, gefunden zu werden.

Ich dreh mich um, geh zurück, zähle die Schritte wie Herzschläge.
Zehn. Zwanzig. Dreißig.
Ich denk an den Satz aus dem Buch:

„Vielleicht wollen wir gar nicht gesehen werden. Vielleicht wollen wir nur, dass jemand versucht.“

Zuhause schreib ich zum ersten Mal seit Monaten wieder etwas auf. Nicht viel. Nur einen Satz:

„Ich glaub, ich bin nicht auf der Suche nach jemandem – ich such nur einen Grund, mich selbst zu lesen.“

Ich leg den Stift weg. Das Buch wieder unters Kissen.
Und diesmal träum ich.

Ich steh im Flur einer fremden Wohnung. Überall Bücher, aber keine Fenster. Ich ruf, aber niemand antwortet. Dann dreht sich ein Schatten zu mir um und sagt mit meiner Stimme: „Du bist nicht hier, Frieda. Du warst nie hier.“

Kapitel 6 – Konfrontationen

Sie steht einfach da. Im Späti. Vor dem Kühlregal. Ich erkenne sie erst an der Haltung. Schultern leicht nach vorn, Blick wie ein Fragezeichen.

„Lena“, sag ich. Zu laut vielleicht.

Sie dreht sich um. Ihr Gesicht ist älter. Müder. Aber die Augen – dieselben wie damals. Und sie verzieht keine Miene.

„Frieda.“
Nur das. Kein Lächeln. Kein Vorwurf. Kein Nichts. Und das trifft mehr als alles.

Wir stehen einen Moment voreinander. Zwischen Dosenbier und abgepacktem Tofu.

„Ich wusste nicht, dass du noch hier wohnst“, sag ich, obwohl ich’s natürlich wusste. Man weiß das irgendwie. Man fühlt es im Beton.

„Du auch noch“, sagt sie. Und da ist ein winziger Zug im Mundwinkel. Kein Lächeln. Mehr so ein: Aha, du bist immer noch dieselbe.

Ich zahl meine Sachen. Sie auch. Draußen ist es feucht und windig. Der Himmel hängt wie Blei über der Stadt.

„Willst du ein Stück mitgehen?“ frag ich. Einfach so. Ohne nachzudenken.

Sie nickt.
Und dann gehen wir. Seite an Seite. Ohne Ziel. Ohne Erklärung.

Wir reden nicht. Die Schritte machen genug Geräusch.
Dann, plötzlich:

„Bist du immer noch so verschlossen?“
Ihre Stimme ist weich. Aber scharf.

Ich will was sagen. Sag aber nichts.

„Ich mein – damals war’s schwer, dich zu lesen. Heute wirkt’s… dichter.“

„Ich les grad was. Das ist ziemlich dicht.“

Sie hebt die Augenbraue. „Ein Buch?“

Ich zögere. Dann nick ich.

„Von wem?“

„Weiß ich nicht.“

„Klar.“ Sie sagt das so, als wüsste sie genau, was ich eigentlich meine.

Wir bleiben an einer Ampel stehen, obwohl kein Auto kommt. Altberliner Anstand.

„Weißt du noch – der Balkon bei mir? Die Lichterkette, die nie funktioniert hat?“
Ich nicke.
„Und du hast gesagt: Ich kann besser schweigen als sprechen.“
Ich nicke wieder.
„Damals hab ich’s romantisch gefunden. Jetzt find ich’s feige.“

Autsch.

Ich zieh an meiner Zigarette, obwohl sie längst aus ist.

„Ich hab mich gefragt, warum du einfach weg warst. Keine Nachricht. Kein Wort.“

Ich schau sie an. Direkt. „Weil ich nichts gehabt hätte, was sich nach Wahrheit angefühlt hätte.“

Sie nickt. Ganz langsam.
„Na gut“, sagt sie dann. „Dann war das wohl auch eine Art Wahrheit.“

Stille.

Sie bleibt stehen. Ich auch.
„Pass auf dich auf, Frieda.“
Und dann geht sie.

Kein Blick zurück. Kein Drama. Nur Schritte, die sich entfernen.

Ich steh noch lange da, zwischen leeren Balkonen und tropfenden Regenrinnen.
Dann greif ich nach dem Notizbuch in meiner Jacke. Schlag es auf. Irgendwo in der Mitte:

„Manche Menschen verschwinden nicht, weil sie gehen. Sie verschwinden, weil man ihnen nichts mehr sagen kann.“

Ich les es drei Mal. Dann klapp ich es zu.

Der Regen wird stärker. Ich lass mich durchnässen. Ganz still.
Ich hab das Gefühl, es reinigt was. Oder es macht die Dinge nur kälter.

Kapitel 7 – Tage ohne Geräusch

Ich spreche heute kein einziges Wort. Nicht absichtlich. Es ergibt sich so.
Morgens keine Stimme. Kein „Morgen“ zu Bao, kein „Mach’s aufn Deckel“. Ich nick nur. Er auch.

Ich lauf durch die Straßen wie durch eine Erinnerung. Alles ist gedämpft. Die Geräusche kommen später an, als wär der Tag in Watte eingewickelt. Kinder schreien, aber ohne Dringlichkeit. Ein Hund bellt. Es klingt wie ein Echo aus einer anderen Stadt.

Ich setz mich in ein Café, irgendwo an der Ecke zur Friedelstraße. Draußen nieselt es, feiner Staubregen, der alles gleichmäßig grau macht. Ich bestell einen Filterkaffee mit Blicken und Gesten. Die Kellnerin versteht mich, sagt nichts.

Am Nachbartisch telefoniert jemand auf Spanisch. Ich versteh kein Wort. Es beruhigt mich. Sprache, die mich nicht erreicht.

Ich blättere nicht im Notizbuch. Ich trage es bei mir, aber ich öffne es nicht. Heute nicht. Heute hör ich nur zu. Den Dingen. Der Welt.

Ein Gedanke streift mich: Vielleicht bin ich nicht stumm. Vielleicht bin ich nur voll von Dingen, die keine Sprache haben.

Ich laufe später zum Kanal. Der Wasserstand ist niedrig, das Ufer vermatscht. Zwei Jugendliche werfen Steine, keiner trifft. Ich erinnere mich an eine Szene mit meiner Schwester. Wir warfen Kastanien gegen ein Blechschild. Immer wieder. Ohne Ziel. Einfach, weil es klang wie ein Nein, das jemand hören musste.

Ich setz mich auf die feuchte Holzbank. Es riecht nach nassem Moos und altem Brot. Neben mir liegt ein zerknülltes Brillenetui. Ich heb es nicht auf. Ich beobachte nur.

Ein Fahrrad fährt vorbei, der Reifen platscht in eine Pfütze. Ein Kind schreit „Mama!“, aber niemand antwortet. Vielleicht ist sie schon weg. Vielleicht war sie nie da.

Ich schließ die Augen.

In mir: ein Bild. Ich als Kind. Unter einem Tisch. Hände auf den Ohren. Draußen streiten zwei Stimmen, laut, dann flüstern sie. Ich versteh nur meinen Herzschlag.

Als ich später wieder gehe, wird es dunkler. Ich lauf ohne Ziel. Die Stadt zieht an mir vorbei. Ampeln, Lichter, gesichtslose Menschen. Ich frag mich, wie viele von ihnen auch schweigen heute. Wie viele sich selbst aus dem Weg gehen.

Zuhause leg ich mich ins Bett, ohne Licht. Ich höre die Rohre, wie sie atmen. Irgendwo im Haus fällt etwas um. Vielleicht ein Bild. Vielleicht jemand.

Ich greife unter mein Kissen. Halte das Notizbuch. Öffne es nicht. Streich nur mit dem Daumen über den Einband.
Und in mir ein Satz, den ich nicht aufschreibe:

„Ich existiere. Leise. Aber ich bin da.“

Kapitel 8 – Der Name hinter der Seite

Der Morgen kommt träge. Ich schiebe die Decke nur halb zurück, setz mich im Bett auf, Rücken zur Wand, Beine im Faltenwurf wie eine unentschlossene Skulptur.

Das Notizbuch liegt da. Wo es immer liegt.
Heute schlag ich es nicht irgendwo auf.
Ich blättere bis ganz nach hinten. Die letzten Seiten sind leer.
Ich zögere kurz. Dann greif ich nach dem Stift, der neben dem Aschenbecher liegt.

Die erste Linie fühlt sich falsch an. Kratzig.
Die zweite auch.
Aber dann passiert etwas. Etwas Kleines. Etwas Echtes.

Ich schreibe:

„Ich weiß nicht, wie man beginnt. Aber vielleicht reicht es, nicht mehr zu schweigen.“

Ich halte inne.
Der Stift in meiner Hand fühlt sich schwer an. Oder ist es meine Hand, die zögert?

„Ich habe nie gelernt, was man sagen darf. Nur, was man lieber lässt.“

Ich schreibe weiter. Kleine Sätze. Bruchstücke.
Keine Geschichte. Keine Ordnung.

„Gestern war ich ganz.“
„Ich hab das Geräusch vermisst, das niemand macht, wenn er geht.“
„Ich glaub, ich bin voller Stimmen, die nie gesprochen haben.“

Es fühlt sich nicht gut an. Nicht schlimm. Es fühlt sich… echt an.
Wie ein Platzen unter der Haut.

Ein Bild taucht auf: Ich, vierzehn, auf dem Dach von Maries Garage. Wir rauchen getrocknete Minze aus Papieren. Sie fragt: ‚Was willst du mal werden?‘ Ich sag: ‚Weg.‘
Sie lacht. Ich nicht.*

Ich schreibe:

„Ich bin nicht auf der Suche nach dem Absender. Ich bin auf der Suche nach dem Echo.“

Stille im Raum. Kein Auto. Kein Nachbar. Kein Hof-Telefonierer.
Nur ich. Und das Geräusch, wenn man Tinte aufs Papier drückt.

Ich schreibe noch zwei Seiten.
Langsam.
Dann klapp ich das Buch zu.
Halte es fest, als könnte es mir wegrutschen.

Später sitze ich am Fenster. Sehe den Himmel an.
Kein besonderes Licht. Keine Metapher. Nur grauer Himmel.
Aber ich sehe ihn – nicht nur mit den Augen. Sondern mit etwas, das lange still war.

Und ich flüstere – ohne Stimme, nur für mich:

„Frieda. Das ist mein Name. Und ich bin noch da.“

Kapitel 9 – Montagslicht

Es war ein Montag.
Das weiß ich, weil der Kaffee besonders bitter war.
Montage schmecken anders.

Ich war damals in der Wohnung von Daniel. Zwei Zimmer, hohe Decken, überall Pflanzen, die er nie goss. Ich mochte seine Art zu leben – lässig, lückenhaft, wie eine vergessene Melodie. Ich glaub, ich mochte ihn auch. Aber nur in Ausschnitten. Im Ganzen war er zu viel Luft, zu wenig Halt.

Er hatte mir Eier gemacht. Bio, sagt er, mit so einem Stolz, als hätte er sie selbst gelegt. Ich saß da, rauchte am Fenster, hörte ihm beim Reden zu, ohne zuzuhören.

„Du bist so weit weg heute“, hatte er gesagt. Ich hab die Asche in den Blumentopf geschnipst. „Ich bin immer weit weg.“

Er hat dann nichts mehr gesagt. Ich auch nicht.
Wir haben gefrühstückt wie zwei Komparsen in einem schlechten Film.

Dann der Moment. Der Riss.

Er hat das Radio angemacht. Eine Nachricht. Jemand war tot. Jemand aus der Szene, die wir kannten. Kein enger Freund. Aber bekannt. Und Daniel hat nur gesagt:
„War abzusehen. Manche Menschen tragen das Ende schon mit sich rum.“

Ich hab geschluckt.
Etwas in mir hat sich aufgerichtet, gewehrt.
Nicht gegen die Worte. Gegen das Gefühl, gemeint zu sein.

Ich hab den Kaffee weggestellt, bin aufgestanden, hab meine Jacke genommen.

„Wohin?“ hat er gefragt.

Ich weiß nicht, was ich geantwortet hab. Vielleicht gar nichts.
Vielleicht hat er’s gewusst.

Ich bin gegangen. Einfach so.
Hab nicht zurückgeschaut. Nicht gefragt, nicht erklärt.
Es war ein sauberer Schnitt. Kein Blut. Nur Leere.

Und seitdem: nichts. Kein Daniel. Kein Frühstück. Keine Eier.
Ich hab gelernt, dass man sich lautlos entfernen kann.
Und dass es manchmal schlimmer ist, wenn niemand einen aufhält.


Ich schreibe später einen Satz ins Notizbuch:
„Manche Menschen gehen nicht aus deinem Leben – sie hören einfach auf, darin stattzufinden.“

Ich lese ihn drei Mal.
Dann schließ ich das Buch.
Lehne mich zurück.
Draußen schält sich Licht durch die Fenster.
Montagslicht.
Noch immer.
Immer wieder.

Kapitel 10 – Ein letzter Eintrag

Der Abend fällt schnell. Ich sitze wieder auf dem Boden, Rücken an der kalten Wand, das Licht aus, nur der Flur schimmert durch die angelehnte Tür wie eine Erinnerung, die man nicht ganz abschütteln kann.

Ich schlag das Notizbuch auf. Diesmal nicht irgendwo – sondern bewusst hinten.
Die vorletzte Seite.
Ein Datum:
„15. November“

„Ich glaube, das war mein letzter Versuch, jemanden zu erreichen.“

„Ich habe lange gehofft, dass jemand liest, was ich nicht laut sagen kann. Jetzt weiß ich: Vielleicht war es nie für jemand anderen bestimmt.“

„Ich wollte verschwinden. Aber mit Nachhall.“

Dann – nichts.
Weiße Seite.
Keine Spur, kein Abschied. Kein Name, kein Ort. Nur Stille, gebunden in Papier.

Ich halte das Buch in den Händen wie etwas, das stirbt. Nicht laut. Nur einfach aufhört, zu sein.
Ein Sog in mir. Kein Trauergefühl. Kein Verlust.
Etwas anderes.
Etwas, das sich fast wie Verantwortung anfühlt.

Ich blättere zurück. Wieder diese Worte.
Ich kenne sie inzwischen fast auswendig.
Und doch klingen sie anders heute.
Weil sie nicht mehr von jemandem sind.
Sondern in mir.

Ich greife nach meinem Stift.
Blätter auf eine neue Seite.
Und ich schreibe:

„Wenn du das liest, bist du ich.“
„Ich hab dich nicht gefunden. Aber ich hab mich gesucht. Und vielleicht – vielleicht war das der Punkt.“

Dann schreibe ich weiter.
Nicht viel.
Nur ein paar Zeilen.

„Ich war heute still, aber nicht leer. Ich war allein, aber nicht verloren.
Vielleicht ist das ein Anfang.“

Ich klapp das Buch zu.
Lehne den Kopf gegen die Wand.
Ein Tropfen fällt vom Fensterbrett.
Draußen weint jemand.
Aber ich bin ruhig.

Morgen druck ich was.
Vielleicht zum ersten Mal etwas Echtes.

Kapitel 11 – Versuch eines Ausdrucks

Die Werkstatt riecht wie immer: Druckerschwärze, altes Holz, der halbvergessene Geruch von billigem Deo und Kaffee ohne Hoffnung.
Ich komme früh. Zu früh.
Karim ist noch nicht da. Nur das Surren der Neonröhren und das Knacken der Heizung. Ich mag das. Die halbe Stunde, in der niemand was von mir will.

Ich hab das Notizbuch dabei. Und fünf Zeilen, die ich auf Transparentpapier getippt habe, spät in der Nacht, mit zitternden Fingern und einer Zigarette, die mir zweimal abgebrannt ist.

„Ich war nicht still. Ich war nur auf einer Frequenz, die niemand hören wollte.“

Ich lege das Papier unter die Walze. Justiere, was zu justieren ist. Druck ein paar Probeabzüge, schwarzer Text auf grauem Grund.
Sie sehen aus wie etwas, das schreien will, aber sich nicht traut.
Genau richtig.

Ich häng einen Ausdruck ans schwarze Brett – zwischen anarchistische Aufrufe, Konzertflyer, Kritzeleien. Ohne Namen. Ohne Kontext. Nur so, wie ich’s gefunden habe.

Dann arbeite ich weiter.
Routinen, Abläufe, Hände, die sich bewegen, während der Kopf woanders ist. Ich schau kaum noch hin.
Irgendwann kommt Lucie rein. Verkatert, wie immer. Oder bloß auf halber Batterie.

Sie bleibt vor dem Brett stehen.
„Wer hat das geschrieben?“ fragt sie.
Ich zucke mit den Schultern.
Sie sieht mich an, ein Moment zu lang. Dann nickt sie.

„Fühlt sich an wie was, das ich vergessen hab.“

Und dann kommt das Unerwartete.

Zwei Stunden später steht ein Typ in der Werkstatt, den ich nur vom Sehen kenne – Leo, heißt er, oder Leon, oder irgendwas dazwischen. Student oder Künstler oder beides. Trägt Wollmantel über Jogginghose.
Er hält den Ausdruck in der Hand.
„Wer hat das da gemacht?“ fragt er.
Niemand antwortet.
Ich schau ihn an, sag nichts.
Er sieht mich, als würde er glauben, ich wüsste mehr.

„Ist okay“, murmelt er dann. „Ich dachte nur… es hat sich angefühlt wie… als würde jemand mich hören.“
Dann steckt er das Blatt ein und geht.

Ich bleibe stehen.
Mit klebrigen Händen, Farbresten unter den Nägeln und einem Herz, das zu laut schlägt.
Nicht wegen ihm.
Wegen dem Moment.
Dem Wiederhall.

Später schreibe ich:
„Vielleicht sind wir alle nur Fragmente. Und manchmal legen sich unsere Bruchstücke kurz übereinander.“

Ich häng eine zweite Version ans Brett.
Diesmal mit einer neuen Zeile.

„Wenn du das liest, ist es nicht zu spät.“

Kapitel 12 – Was bleibt, wenn nichts bleibt

Ich stehe wieder vor der Tür in der Hobrechtstraße.
Die Fassade ist immer noch schmutzig-grau, das Klingelschild immer noch überklebt, als hätte sich nichts verändert.
Aber ich bin nicht dieselbe.
Oder vielleicht bin ich es – aber nicht mehr allein.

Ich habe das Notizbuch dabei. Nicht das Original. Das bleibt bei mir.
Aber ich habe Kopien gemacht. Fünf Seiten.
Die, die am meisten in mir hallten.
Ich hab sie in eine alte Mappe gesteckt. Schwarzes Papier. Weiße Tinte. Kein Name.

Ich gehe nicht rein.
Ich lege die Mappe einfach in den Briefkasten, unter „L. Rehm“.
Der Schlitz klemmt. Ich zwinge ihn runter.
Es ist kein Abschied.
Es ist ein Ende.
Und ein Angebot.
An wen auch immer.

Ich lehne kurz den Kopf gegen die Tür.
Kalt.
Rissig.
Wie die Worte damals.
Dann dreh ich mich um.

Ein Gefühl schleicht sich in meine Brust – nicht Schmerz, nicht Verlust.
Etwas Leeres. Aber nicht bedrohlich.
Eher wie ein Zimmer, das endlich aufgeräumt ist.

Ich geh langsam zurück.
Die Straße ist still.
Ein Hund läuft ohne Leine vor mir her.
Ein Mädchen ruft nach ihm. „Oskar! Komm!“
Der Hund bleibt kurz stehen. Schaut mich an. Dann läuft er weiter.
Ich nicke ihm zu.
Weil ich das verstehe.

Zuhause lass ich den Mantel an.
Setz mich ans Fenster.
Draußen der gleiche Regen wie immer.
Aber er fühlt sich nicht mehr wie Dunst an.
Eher wie: Jetzt.

Ich schreib keine neue Zeile ins Buch.
Ich leg es einfach hin.
Weil es da sein darf.
Wie ich.

Kapitel 13 – Gedruckte Wahrheiten

Ich drucke früh.
Noch bevor jemand die Werkstatt aufschließt.
Karim hat mir den Zweitschlüssel gegeben, irgendwann mal, wortlos, in einer rauen Bewegung, die sich wie Vertrauen anfühlte.

Die Heidelberg läuft. Alt, laut, ehrlich.
Ich lege das neue Layout ein – acht Zeilen, schlicht gesetzt. Keine Schnörkel, keine Typospielerei.

„Ich habe nicht gelernt, wie man laut lebt.
Aber ich habe überlebt.
Und das ist auch eine Art von Mut.“

Ich mache zwanzig Abzüge.
Auf dickem Papier. Grau auf weiß.
Ich falte sie, pack sie in Umschläge.
Kein Absender. Nur eine kleine Prägung: F.

Ich verteile sie über den Tag.
Lass einen auf einer Parkbank.
Einen im Supermarktregal neben den Äpfeln.
Einen auf der Toilette vom „Südstern Café“.
Ein anderer wandert unter ein Scheibenwischerblatt.
Ich tue das nicht für andere. Ich tue es, weil es raus muss.
Wie etwas, das zu lange in mir gewohnt hat.

Später im Bus beobachte ich, wie jemand den Zettel findet.
Er liest.
Zieht die Stirn kraus.
Dann lächelt er. Nur ganz kurz.
Und steckt ihn ein.

Ich sage nichts.
Ich beobachte nur.
Und etwas in mir wird ruhig.

Am Abend sitze ich in der Küche, Licht aus, Tee kalt.
Ich schreibe nicht ins Notizbuch.
Ich schreibe auf A4-Papier, ungebunden, frei.

„Vielleicht wirst du das nie lesen. Vielleicht bist du gar nicht real.
Aber ich schreibe dir trotzdem.
Weil du die Stimme warst, die ich gebraucht habe, als ich meine verloren hatte.
Und weil ich jetzt spreche.
Nicht laut. Aber deutlich.“

Ich lege den Zettel auf die Fensterbank.
Der Wind bewegt ihn nicht.
Ich nehme das als Zeichen.

Kapitel 14 – Zwischen den Zeilen

Ich wache auf, bevor der Tag beginnt.
Kein Wecker, kein Geräusch. Nur dieses Wissen:
Es ist Zeit.

Ich ziehe mich an wie jemand, der losgehen will, ohne zu wissen wohin.
In den Taschen: ein paar Zettel, ein Stift, das alte Feuerzeug, das nie auf Anhieb funktioniert.

Ich lasse das Notizbuch zu Hause.
Zum ersten Mal.
Nicht aus Trotz. Aus Vertrauen.

Draußen riecht es nach Frühling, obwohl der Kalender etwas anderes behauptet.
Eine dieser Nächte, in denen man ahnt, dass etwas sich verändert hat, ohne sagen zu können, was.

Ich laufe los.
Die Stadt schläft noch halb. Oder tut nur so.
Ein Lieferwagen hupt. Ein Radfahrer flucht. Ein Kind lacht – irgendwo hinter einem Fenster.
Ich gehe weiter.

Ich erinnere mich an einen Satz, den ich nie aufgeschrieben habe:
„Vielleicht ist alles, was wir brauchen, ein leiser Anfang.“

Ich halte an einer Mauer.
Jemand hat draufgeschrieben:
„Wir sind hier. Auch wenn niemand fragt.“
Darunter in anderer Schrift:
„Ich hab gefragt. Ich hab nur nicht laut genug geschrien.“

Ich lächle. Nicht überheblich. Einfach… mit.

Ich laufe weiter, Straße um Straße, Kreuzung um Kreuzung.
Kein Ziel. Nur Schritte.
Meine Schuhe knarzen leicht, als wollten sie sagen: Ja, wir waren auch da.

Irgendwo setzt Musik ein. Von einem offenen Fenster, ein alter Song. Ich kenn ihn nicht. Aber er passt.
Ich bleibe stehen.
Nur einen Moment.
Dann gehe ich weiter.


Frieda ist nicht angekommen.
Aber sie ist unterwegs.

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