Draußen ist ein weiter Begriff

Der Mann an der Treppe
Die Stufen sind kalt und feucht. Beton, der sich durch die Hose frisst, als wär’s ein stilles Urteil. Ich sitz hier nicht zum ersten Mal. Wahrscheinlich auch nicht zum letzten.
Hinter mir rauscht die Stadt. U-Bahn-Geratter, Sirenen, das übliche Gekeife. Keiner sieht hin. Gut so. Ich will kein Mitleid, nur meine Ruhe. Vielleicht noch ‘ne Zigarette. Oder zwei.
Ich heiße Lorenz. Früher hatte ich mal drei Namen. Jetzt reicht einer.
Ich trag ‘ne olivgrüne Jacke mit kaputtem Reißverschluss. Die hab ich mir nicht gekauft. War einfach da. Wie so vieles, was man irgendwann einfach mit sich rumschleppt. Die Stiefel? Ein Wunder, dass sie noch zusammenhalten. Ich hab ihnen Namen gegeben. Links ist „Zweifel“, rechts „Trotz“. Die beiden bringen mich noch irgendwohin. Oder lassen mich einfach da.
Heute ist einer dieser Tage. Der Himmel hängt bleiern über den Häusern. Alles grau. Selbst der Dreck auf der Straße wirkt farblos. Ich schau den Passanten zu. Diese mechanischen Bewegungen. Kaffeebecher, Telefon, Stirnfalten. Kein einziger Blick nach unten. Als wären wir Unsichtbare.
Ich bin nicht immer hier gewesen. Ich war mal jemand. Hab Kram gemacht, für Geld, für Applaus, für den Apfel und das Ei. Dann kam der Knick. Wie so oft. Zuerst leise, dann mit Karacho.
Ein Unfall. Oder ein Moment der Klarheit. Schwer zu sagen. Danach war alles anders. Oder ich war’s. Jedenfalls bin ich irgendwann einfach nicht mehr zurückgegangen.
Jetzt sitz ich hier. Und warte.
Auf was?
Gute Frage.
Vielleicht auf das Geräusch der Stiefel, die stehenbleiben. Oder auf den Wind, der mir erzählt, dass irgendwo noch Platz ist. Vielleicht auch nur auf die nächste Tasse Brühe bei Dana, hinten an der Ecke.
Ich bin Lorenz. Und ich bin nicht fertig.
Lorenz und der Rhythmus
Morgens bin ich meistens wach, bevor der erste Bus kommt. Nicht weil ich’s will – das Dröhnen der Hydraulikbremse reißt einem die Träume aus dem Kopf wie ein schmutziger Lappen.
Lorenz. So nennen sie mich hier. Oder manchmal auch gar nicht. Ich hab aufgehört zu erklären, dass das mal mein zweiter Vorname war. Der erste war irgendwann zu laut, zu leer oder zu nah an dem Kerl, der ich nicht mehr bin.
Ich hab meinen Rhythmus. Nicht viel, aber genug, um durchzukommen. Ich kenne den Hausmeister vom Hochhaus gegenüber – dem geb ich manchmal eine Hand beim Müll oder wenn er wieder allein mit seinem Einkaufswagen voller Putzmittel den Hof schrubbt. Dafür lässt er mich in der Waschküche duschen. Diskret, wortlos. Männer unter sich.
Einmal die Woche hock ich mich in die Bibliothek. Wärme, Stille, Papiergeruch – fast wie eine Kirche, aber ohne das Getue. Ich les nichts Bestimmtes. Meist nur Anfang und Ende. Alles dazwischen kenn ich irgendwie schon.
Gestern war einer da – Typ in Anzug, Haarschnitt wie aus dem Werbeprospekt. Setzt sich zwei Stufen unter mich, zündet sich ‘ne Zigarette an. Dann sagt er, ohne mich anzusehen:
„Schlechter Tag, was?“
Ich sag nix.
Er zieht zweimal, steht auf, drückt mir den Rest in die Hand.
„Ich hatte mal ‘ne Schwester. Die war wie du. Hat irgendwann aufgehört zu erklären.“
Und dann war er weg. Einfach so. Kein Name, kein Nachsatz.
Manchmal frag ich mich, ob ich das Zeug nur träume.
Aber der Kippenstummel war echt.
Silben von Früher
Ich erkenne sie zuerst am Gang. Nicht an der Jacke, nicht am Haar – an diesem vorsichtigen, leicht schrägen Schritt, der immer so klang, als würde sie gleich fragen, ob’s okay ist, da zu sein.
Sie läuft nicht zufällig hier entlang. Das ist kein Durchgangsort. Wer sich auf diese Treppe verirrt, will entweder was, sucht was – oder hat was verloren.
Ich sitz wie immer. Lorenz auf Stufe fünf. Kapuze halb runter, Hände unter den Schenkeln, als würde ich mich damit noch an mich klammern.
Sie bleibt stehen. Zwei Stufen über mir.
„Lorenz?“
Der Name fällt weich. Zu weich für diese Betonwelt. Ich reagiere nicht. Noch nicht.
„Du bist es, oder?“
Ich heb den Blick.
„Hallo Frida.“
Sie lächelt. Nicht dieses Mitleidsding. Mehr wie jemand, der ein altes Lied hört, das er nie ganz vergessen hat.
„Ich hab dich gesucht. Nicht… also nicht direkt. Aber ich dachte oft – vielleicht sitzt du irgendwo und wartest, dass dich jemand sieht.“
Ich zucke mit den Schultern. „Bin hier. Gesehen genug.“
„Du siehst müde aus.“
„Bin wach genug.“
Pause.
Sie rückt ein Stück näher. Der Regen beginnt feiner zu fallen, als hätte er Respekt vor ihr.
„Ich hab ne Weile gedacht, du bist tot.“
Ich sag nix. Was soll man auch darauf sagen? Glückwunsch, Irrtum?
Sie setzt sich neben mich. Ohne Scheu. Früher hatten wir ein Bett zusammen. Jetzt reicht nicht mal mehr die Breite dieser Stufe.
„Weißt du noch, damals?“, fragt sie.
Ich nicke. Nicht weil ich wirklich weiß, was sie meint. Sondern weil irgendwas in mir ja sagt. Immer ja, wenn Frida fragt.
Sie holt was aus ihrer Tasche. Ein altes Foto. Verknittert. Vier Leute drauf. Ich bin einer davon. Schwarzes T-Shirt, halbvolles Glas, blödes Grinsen. Frida lehnt sich lachend an mich.
„Das war in Danzig. 2013.“
Ich schau das Bild an. Als wär’s ein fremdes Leben. Und irgendwie ist es das auch.
„Ich hab’s aufgehoben. Weil du da noch da warst.“
Der Regen hat inzwischen aufgegeben. Frida nicht.
„Willst du mal irgendwo anders sitzen? Nur für einen Tag? Ich mein, ich hab nicht viel, aber genug für zwei.“
Ich schau geradeaus. Die Straße. Die Stufen. Die grauen Häuser.
Dann schau ich sie an.
„Vielleicht. Nicht heute. Aber vielleicht.“
Alles, was man liegen lässt
Ich hab mal Klaviere gestimmt. Kein Witz. In einer anderen Stadt, einem anderen Ich. Es war kein Beruf, eher ein Trick. Ich hab mich reingelesen, reingehört, reingefühlt. Die meisten Tasten erzählen dir eh, was sie brauchen. Man muss nur lang genug zuhören.
Einmal – das vergesse ich nicht – war ich bei einer alten Frau. Wohnung im fünften Stock, kein Fahrstuhl. Schon beim Hochgehen wusste ich, dass ich da nicht oft wieder hochlaufen würde.
Sie hieß Madame Kessler. Hatte Haare wie Zuckerwatte und Augen wie Schnee. Blinde Augen. Aber sie hat mich erkannt. Am Atem, hat sie gesagt.
„Sie riechen nach Zinn und Regen“, meinte sie beim ersten Mal.
Ihr Klavier war ein Bechstein. Staubig, aber stolz. Ich hab fast zwei Stunden daran gearbeitet. Zwischendurch hat sie mir Tee gemacht. Schwarz, ohne Zucker. Ich glaube, sie wollte einfach nicht allein sein. Ich auch nicht.
Später hat sie mich gefragt, ob ich noch spiele. Ich hab gelogen und gesagt: manchmal.
„Dann spielen Sie was“, sagte sie. „Etwas mit Schmerz drin.“
Ich spielte nichts. Aber ich erinnere mich, wie ihre Hände in der Luft mitspielten. Als wär da Musik, die nur sie hören konnte. Vielleicht war da wirklich was.
Ein paar Wochen später war sie tot. Niemand hat’s gleich gemerkt. Irgendein Nachbar roch es. Ich war einer der Letzten, die sie gesehen hatten. Ich stand draußen, als sie sie raustrugen. Ihre Decke war rot.
Ich hab nie wieder ein Klavier gestimmt.
Danach hab ich Dinge gemacht, die nicht von Dauer waren. Lagerräume, Küchen, nachts in Hotelwäschereien. Viel Bleiche, wenig Luft. Irgendwann war ich einfach raus. Nicht gekündigt. Nur weg. Hab Sachen liegen lassen. Schlüssel, Ausweise, Stimmen.
Das letzte, was ich besessen habe, war ein Schlüsselbund. Zehn Stück. Für Türen, die es längst nicht mehr gibt.
Ich weiß nicht, warum ich das alles gerade denke. Vielleicht weil Frida da war. Vielleicht weil der Regen aufgehört hat.
Oder weil ich gemerkt hab, dass Erinnerungen lauter sind, wenn man still genug wird.
Routine mit Aussetzern
Es gibt Tage, die rauschen wie zu heißer Kaffee – schnell, bitter, und man vergisst sie, kaum dass man sich die Zunge dran verbrannt hat. Heute ist so einer. Einer mit wenig Licht und viel Lärm.
Lorenz sitzt wie immer auf Stufe fünf. Zwei drüber riecht’s nach Erbrochenem. Irgendwer hat sich letzte Nacht übergeben, wahrscheinlich ins Leere. Ich kenn den Geruch. Mischung aus Dosenbier und Scham. Ich schieb den Kragen höher.
Ein Typ mit Lieferrucksack hastet vorbei. Musik im Ohr, Welt im Rücken. Er verliert was – eine kleine Tüte, irgendwas Gebäckmäßiges. Ich heb sie auf. Noch warm.
Ich ess sie nicht. Ich leg sie neben mich. Vielleicht will sie jemand. Vielleicht auch nicht.
Gegen Mittag kommt Dana vorbei. Dana gehört zur Straße wie das Pfeifen der Straßenbahn – alt, leicht schräg und trotzdem zuverlässig.
„Moin Lorenz. Noch unter den Lebenden?“
Ich nicke.
„Was Warmes gefällig? Reste von gestern. Irgendwas mit Linsen.“
Ich nicke wieder. Reste sind mein Lieblingsgericht.
Sie reicht mir einen Thermobecher, gebraucht, zerkratzt, aber dicht.
„Ist nicht mehr viel drin, aber besser als die Luft hier.“
„Danke.“
„Du siehst scheiße aus.“
„Ich geb mir Mühe.“
Sie lacht. So ein kehliges, echtes Lachen, das nach Zigaretten riecht.
„Frida war da. Hab ich gesehen.“
Ich sag nichts.
„Manche Leute kommen nur zurück, wenn sie wissen, dass du bleibst, wo du bist. Macht das einfacher für sie.“
Ich schau sie an.
„Und für mich?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Wirst du rausfinden. Oder eben nicht.“
Dana geht. Ich bleib.
Nachmittags beobachte ich einen Spatz, der auf einer halbvollen Kaffeetasse balanciert. Ich beneide ihn. Um die Leichtigkeit. Und um den Koffein.
Ein Bus bremst. Irgendwo dröhnt Musik aus einem Fenster. Zwei Kinder lachen. Ein Hund bellt. Und ich? Ich sitz.
Stufe fünf. Wie ein Lied, das keiner mehr hört, aber das trotzdem weiterläuft. In Endlosschleife.
Die Linie im Staub
Ich sitz da, als wüsste ich nicht, dass es Nachmittag ist. Aber mein Schatten ist weggerutscht, und die Geräusche sind weicher geworden. Das ist das Einzige, woran ich die Zeit noch festmachen kann: an Dingen, die verschwinden.
Heute liegt ein Briefumschlag vor mir. Kein Absender. Nur mein Name. „Lorenz“ – geschrieben in einer Schrift, die nervös wirkt, als hätte jemand gezittert beim Schreiben oder gezögert beim Fühlen.
Ich rühre ihn nicht an.
Er liegt einfach da. Weiß auf Grau.
Früher hätt ich ihn sofort aufgerissen. Hätt wissen wollen, was drin ist. Wer noch an mich denkt. Wer mich noch kennt. Wer was will. Heute? Heute ist das Öffnen schlimmer als das Nichtwissen.
Weil das Öffnen die Tür ist. Und ich hab zu viele Türen gesehen, die besser zugeblieben wären.
Ich starr auf den Umschlag. Stunden vielleicht. Menschen kommen, gehen. Keiner sieht ihn. Oder mich. Oder uns.
Ich male mit dem Schuh eine Linie im Staub. Gerade, dann krumm. Dann wieder gerade. Wie ein Puls, der versucht, sich zu erinnern, wie Regelmäßigkeit geht.
Ich überlege. Ich rechne mir durch, was passieren könnte. Alte Reflexe. Risikoabschätzung. Wahrscheinlich ist es harmlos. Vielleicht von Frida. Vielleicht von irgendwem aus dem Davor. Vielleicht nur ein Zettel mit einem Satz drauf. Oder Geld. Oder ein Schlüssel.
Und dann?
Dann bin ich jemand, der wieder was besitzt. Und Besitz macht nervös.
Ich stoße den Umschlag mit dem Fuß zur Seite. Nicht weit. Nur so, dass er nicht mehr direkt in meiner Blicklinie liegt.
Das ist alles. Keine Entscheidung. Kein Öffnen. Kein Wegwerfen. Kein Davongehen.
Nur ein winziger Schubs.
Manchmal reicht das schon, um nicht mehr derselbe zu sein.
Der Junge mit dem roten Rucksack
Er kommt meist gegen Abend. Noch Kind, vielleicht zwölf. Immer mit diesem viel zu großen roten Rucksack, der ihm den Rücken krumm zieht, als würde er mehr tragen als nur Bücher.
Ich hab ihn nie angesprochen. Er mich auch nicht. Aber er nickt manchmal. So ein vorsichtiges, prüfendes Nicken. Als wollte er sagen: „Ich weiß, dass du da bist, auch wenn sonst keiner schaut.“
Heute bleibt er stehen. Genau dort, wo ich den Umschlag weggeschoben hab. Seine Turnschuhe quietschen kurz auf dem nassen Pflaster. Dann bückt er sich, hebt das Ding auf.
Ich beobachte ihn.
Er dreht den Umschlag in den Händen. Sieht den Namen. Runzelt die Stirn.
„Lorenz?“
Seine Stimme ist hell, noch ohne Risse. Ich nicke langsam.
Er zögert. Dann setzt er sich neben mich. Nicht direkt, ein bisschen schräg. Sicherheitsabstand. Stadtregel Nummer eins.
„Der ist für dich“, sagt er und reicht mir den Umschlag.
Ich schüttel den Kopf.
„Willst du nicht wissen, was drinsteht?“
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht später.“
Er legt den Umschlag auf meine Knie. Bleibt still.
Nach einer Weile fragt er: „Wirst du hier immer sitzen?“
„Kommt drauf an.“
„Auf was?“
„Auf alles.“
Er zieht den Rucksack vor, wühlt kurz darin. Holt ein belegtes Brot raus. Wickelt es aus. Dann schneidet er es in zwei Hälften, mit einem rostigen Taschenmesser, wie aus einem anderen Jahrzehnt.
Er reicht mir ein Stück. Ich nehme es.
„Meine Mama sagt, man soll teilen.“
Ich nicke. „Deine Mama hat recht.“
Wir essen. Schweigend.
Der Umschlag liegt immer noch auf meinem Bein. Warm geworden von meinem Körper.
Als der Junge geht, dreht er sich noch einmal um.
„Wenn du willst, les ich ihn dir vor. Beim nächsten Mal.“
Ich sage nichts. Aber ich hoffe, er kommt wieder.
Schatten im Plastikdach
Es fängt an mit dem Wind. Kein Sturm, nur dieses flatternde Ziehen zwischen den Häuserreihen. Als würde die Stadt sich recken im Schlaf. Ich hab keinen festen Schlafplatz – wander zwischen Bänken, Mauervorsprüngen, überdachten Treppen und leerstehenden Eingängen. Heute Nacht lieg ich unter einem alten Bushäuschen mit zerkratztem Plexiglasdach.
Der Umschlag ist in meiner Jacke. Nicht aufgemacht. Noch immer. Er wiegt fast nichts und zieht trotzdem schwer in der Brusttasche.
Ich drehe mich. Liege auf dem Rücken. Schaue in das durchsichtige Dach, das jetzt von Tropfen übersät ist. Der Regen ist zurück. Wieder fein, wieder kalt. Er klingt wie flüsternde Stimmen, die sich nicht entscheiden können, ob sie mir etwas sagen wollen oder nicht.
Dann höre ich Schritte. Zwei Paar. Schnell, weich, mit Absicht. Ich kenne die Art. Zu langsam für Zufall, zu schnell für Freundschaft.
Ich spanne mich. Lorenz, der früher mal reflexhaft die Fäuste geballt hätte, liegt still.
Zwei Gestalten. Jung. Kapuzen, Sneakers, feuchte Stimmen. Einer kichert, der andere sagt: „Da liegt einer.“
„Vielleicht hat er was.“
„Vielleicht hat er nix.“
„Vielleicht hat er das Falsche.“
Ich spüre, wie sie näherkommen. Das Gewicht ihrer Neugier drückt sich auf meine Rippen. Ich bleibe reglos. Totstellen war nie mein Stil. Heute schon.
Dann, ein Husten. Von mir. Echtes, keuchendes Husten. Keine Show.
„Scheiß drauf“, sagt einer.
Schritte entfernen sich. Das Echo bleibt noch eine Weile.
Ich bleibe wach.
Gegen drei Uhr schreit eine Frau irgendwo in der Ferne. Nicht laut, aber scharf. Niemand antwortet. Irgendwo klirrt Glas.
Die Stadt ist nie ganz still. Selbst ihr Schweigen hat Geräusche.
Ich taste nach dem Umschlag. Er ist noch da. Wie ein Herz, das nicht schlägt, aber trotzdem pulsiert.
Gegen vier dämmert es. Der Himmel kriegt diesen schmutzigen Orangeton, als hätte jemand versucht, Licht zu machen, aber vergessen, wie’s geht.
Ich schließe kurz die Augen. Vielleicht für eine Minute. Vielleicht für zehn.
Und träume von einer Tür. Kein Schloss, kein Griff. Nur mein Name daran – geschrieben in dieser nervösen Schrift.
Ich wache auf, als der erste Bus kommt.
Wörter, die nicht wehtun
Er kommt wieder. Später als sonst. Der Himmel hat schon diese bleiche Mittagsträgheit, und ich hab ein paar Stunden zu viel in meinen Knochen. Der Regen ist weg, aber er hat Ränder hinterlassen – an den Klamotten, in meinem Blick.
„Du siehst mies aus“, sagt er zur Begrüßung. Keine Frage. Nur Feststellung.
„Hab nicht geschlafen“, sage ich. Auch keine Erklärung.
Er nickt, setzt sich. Der rote Rucksack ist heute schwerer als sonst. Vielleicht nur Einbildung.
Dann schaut er mich an, direkt, ohne zu blinzeln: „Darf ich ihn jetzt lesen?“
Ich zieh den Umschlag aus der Jacke. Die Ecken sind weich geworden, das Papier trägt den Abdruck meiner Unentschlossenheit. Ich reiche es ihm.
Er öffnet vorsichtig. Kein Reißen. Eher wie jemand, der Angst hat, etwas zu beschädigen, was heil bleiben will.
Er zieht ein gefaltetes Blatt heraus. Weiß. Sauber. Handschriftlich. Blaue Tinte.
Er räuspert sich.
Lorenz,
Ich weiß nicht, ob du das liest.
Ich weiß nicht mal, ob du noch hier bist.
Aber falls doch:
Ich hab dich vermisst. Nicht so, wie man einen Menschen vermisst, sondern wie man eine Stimme vermisst, die einem was bedeutet hat.
Ich hab lange gebraucht, um dir nicht böse zu sein.
Noch länger, um mir selbst nicht böse zu sein.
Ich hab dein Bild aufgehoben. Und dein Lied. Das, was du immer nachts gespielt hast, wenn keiner hinhörte.
Wenn du willst – ich bin montags im kleinen Café an der Ecke, bei der alten Waschanlage. Immer ab drei.
Wenn du nicht kommst, ist das okay.
Ich wollte nur, dass du weißt:
Ich seh dich noch.
– F.
Der Junge faltet den Brief wieder. Reicht ihn mir.
„Von Frida?“
Ich nicke. Oder vielleicht zucke ich. Beides fühlt sich gleich an.
„Willst du hingehen?“
Ich schaue auf meine Hände. Die eine hat eine Narbe, die andere zittert manchmal leicht, wenn’s kalt ist.
„Ich weiß nicht.“
„Dann geh einfach hin und tu so, als wärst du zufällig da.“
Ich sehe ihn an. Der Junge grinst.
„Funktioniert bei mir in der Schule auch manchmal.“
Die Straße zur Ecke
Der Weg zum Café ist nicht weit. Zwei Querstraßen, ein verfallener Spielplatz, dann die alte Waschanlage mit dem halb verblassten Graffiti: „Hier war mal mehr.“
Ich kenn den Weg. Ich bin ihn schon oft gegangen. Nur nie mit Absicht. Heute wäre es das erste Mal mit Ziel. Und das macht alles schwerer.
Montag. Drei Uhr. Ich sitze auf Stufe fünf und tue nichts. Die Uhr an der Apotheke blinkt: 14:27.
Mein Bein wippt. Meine Finger krampfen leicht. Ich hab den Brief in der Tasche. Gelesen, gefaltet, durchgewalkt. Ich kann ihn fast auswendig, aber ich will’s nicht.
Ich stelle mir vor, wie sie da sitzt. Frida. Ihre Finger um eine Tasse, die immer zu heiß ist. Sie schaut nicht auf ihr Handy. Sie wartet nicht. Aber sie ist da. Einfach da.
Und ich?
Ich komm nicht in die Gänge. Jeder Muskel sagt: bleib. Jeder Gedanke: was soll das bringen?
Ich hab’s doch versaut. Damals. Alles. Keine Szene, kein großer Knall. Nur dieses langsame Weggleiten. Wie Sand zwischen den Fingern. Nur dass ich der war, der zerbröselt ist.
Ich steh auf. Lauf ein paar Schritte. Bleib wieder stehen. Setz mich wieder. Wieder auf Stufe fünf. Mein Platz. Mein Fluch.
Dana kommt vorbei. Trägt einen Einkaufskorb, der aussieht, als würde er gleich aufgeben.
„Gehst du nicht?“, fragt sie.
Ich antworte nicht.
„Du siehst aus, als wärst du in einem verdammten Film, in dem der Hauptdarsteller zu blöd ist, seine Chance zu kapieren.“
Ich zieh die Schultern hoch. „Vielleicht läuft der Film rückwärts.“
„Dann sitzt du bald wieder auf Stufe vier.“
Sie geht. Ohne Lächeln. Nur mit diesem Blick, der sagt: Ich hab’s auch mal vergeigt. Und bin trotzdem gelaufen.
14:51. Ich könnte es noch schaffen. Wenn ich jetzt losgehe.
Ich bleibe sitzen.
14:59.
Ich schließe die Augen.
15:00.
Die Stadt rauscht.
Ich bewege mich nicht.
Splitter im Licht
Es ist 15:22, als ich doch gehe. Kein Entschluss, kein innerer Applaus. Nur der Körper, der sich erhebt, weil das Sitzen irgendwann weh tut. Die Beine bewegen sich, als gehörten sie jemand anderem. Ich folge ihnen einfach.
Die Straßen sind matschig, das Pflaster glänzt wie altes Silber. Ich gehe nicht schnell. Eher wie jemand, der hofft, zu spät zu kommen, damit die Entscheidung ihm abgenommen wird.
Dann steh ich da. Ecke Waschstraße. Das Café mit dem grünen Vordach. Die Fenster beschlagen leicht von innen, es riecht nach warmem Gebäck und nasser Wolle. Ich lehne mich an den Laternenpfahl gegenüber.
Ich sehe sie. Durchs Fenster.
Frida.
Sie sitzt allein am Ecktisch. Dieselbe Haltung wie früher – Rücken gerade, Schultern leicht nach vorne gezogen, als wolle sie den Raum nicht stören. Sie trägt einen dicken Schal, dunkelrot, der sich wie ein vertrauter Gedanke um ihren Hals schmiegt.
Ihre Hände liegen ruhig auf dem Tisch. Keine Tasse. Kein Handy. Nur sie. Wartend, aber nicht suchend.
Ich lehne mich ein bisschen weiter vor. Der Winkel reicht nicht. Ich will mehr sehen. Oder weniger.
Ein junger Kellner kommt, sagt was, sie schüttelt den Kopf. Dann lehnt sie sich zurück. Nicht enttäuscht. Eher… müde.
Ich will reingehen. Sag ich mir.
Aber ich bleibe draußen.
Ein Vater mit Kinderwagen schiebt sich an mir vorbei. Die Reifen knirschen über altes Laub. Ich rieche Kaffee, Zimt, ein Hauch von dem Parfum, das Frida immer trug. Oder bilde ich mir das nur ein?
Ich schließe kurz die Augen.
Als ich sie wieder öffne, ist Frida verschwunden.
Ein leerer Stuhl, ein leerer Tisch, ein Rest Wärme auf der Fensterscheibe.
Ich gehe nicht näher ran. Ich drehe mich um. Laufe zurück.
Stufe fünf wartet schon.
Die Tasse auf der Mauer
Am nächsten Morgen ist es wärmer. Nicht viel, aber genug, dass die Luft nicht mehr schneidet. Ich sitze wieder da, Stufe fünf, Mantelkragen hoch, die Hände zwischen den Knien. Die Stadt tut, was sie immer tut: so tun, als wäre sie nicht da.
Ich höre sie, bevor ich sie sehe – Dana, die schnauft wie ein alter Dampfkessel, irgendwo hinter mir. Dann ein leises, halb erstauntes „Hmm.“
Ich dreh mich um. Da steht sie. Nicht Dana.
Frida.
Nicht nah. Etwas abseits, auf der anderen Straßenseite. In der Hand eine weiße Tasse. Kein Pappbecher. Porzellan. Mit Sprung. So eine, wie wir früher hatten.
Sie stellt sie auf die kleine Mauer neben dem Hauseingang. Genau da, wo ich morgens manchmal den Rucksackjungen gesehen hab, wie er sein Brot auspackte. Sie streicht kurz über den Henkel, als wär das Ding lebendig.
Dann geht sie.
Ohne Blick zu mir. Kein Winken. Kein Wort.
Ich warte, bis sie weg ist. Bis ihr Schritt im Stadtlärm verblasst.
Dann stehe ich auf.
Die Tasse ist warm. Schwarztee mit einem Schuss Milch, wenn ich mich nicht täusche. Und auf dem Unterteller liegt ein kleiner, abgerissener Zettel.
Für die, die draußen bleiben –
und trotzdem gesehen werden.
Kein Name.
Ich setze mich. Diesmal auf die Mauer. Nicht auf die Stufe.
Ich trinke. Langsam.
Der Tee ist perfekt.
Zwei Zentimeter vor der Linie
Ich weiß nicht, was mich bewegt. Vielleicht war’s die Tasse. Vielleicht das Gefühl, dass jemand an dich denkt, ohne was zu wollen. Ohne Agenda, ohne Fragen. Nur so.
Ich hab mich rasiert. Mit einem Einwegrasierer, den ich hinten im Rucksack hatte. War stumpf wie meine letzten zehn Monate. Aber ich hab’s durchgezogen.
Dana hat’s kommentarlos hingenommen, als ich bei ihr nach einem alten Hemd gefragt hab. „Wird nicht glatt, aber reicht für den ersten Blick“, hat sie gesagt.
Ich steh jetzt vorm Spiegel in der Bahnhofstoilette. Mein Gesicht sieht fremd aus. Jünger? Nein. Aber wacher. Vielleicht auch verletzlicher. Wie frisch aufgedeckt, ohne das dicke Fell aus Dreck und Desinteresse.
Ich stopfe das Hemd in die Hose. Zieh meine Jacke drüber. Die gleiche wie immer. Aber drunter klopft was Neues.
Dann laufe ich los.
Nicht direkt zum Café. Noch nicht.
Ich gehe zum Blumenstand am Rand vom Markt. Die Frau mit den roten Fingern kennt mich vom Sehen. Sie sagt nichts. Reicht mir ein kleines Bündel Vergissmeinnicht. Nicht frisch, aber ehrlich.
Ich nehme sie. Zahle mit Münzen, die ich eigentlich für Kaffee zurückgelegt hatte.
Der Weg zur Ecke zieht sich. Nicht weil er lang ist. Sondern weil er plötzlich Bedeutung hat. Jeder Schritt wiegt doppelt.
Ich komme an. Sie ist nicht da. Natürlich nicht.
Ich lege die kleinen Blumen auf denselben Platz wie die Tasse gestern.
Keine Nachricht.
Kein Zettel.
Nur der Duft von Tee in meiner Erinnerung.
Und der Gedanke:
Ich bin zwei Zentimeter über die Linie gegangen, die ich mir selbst gezogen habe.
Der Himmel reißt nicht auf
Ich sitze wieder auf der Mauer. Die Stufe hab ich nicht ganz aufgegeben, aber ich brauch sie nicht mehr so oft.
Die Tasse ist weg. Die Blumen auch. Vielleicht hat jemand sie mitgenommen. Vielleicht war sie’s. Vielleicht der Wind.
Es ist Dienstag. Kein besonderer Tag. Aber ich hab gewartet, falls sie nochmal kommt. Einfach so. Wie sie’s immer tut: ohne Trommelwirbel, ohne Drama. Nur Frida eben.
Und dann – da ist sie.
Kein Mantel. Nur ein dünner Pullover, der nach Wohnung riecht. Ihre Haare sind hochgebunden, ein paar Strähnen lösen sich im Wind. Sie schaut mich an. Nicht erstaunt. Nicht erleichtert.
Nur da. Wie eine Pause in einem Lied, die wichtiger ist als der nächste Ton.
Sie bleibt stehen. Keine Eile.
„Du hast dich rasiert.“
Ich zucke die Schultern. „War Zeit.“
„Und du hast Tee getrunken.“
„Hab ich.“
Pause.
„Willst du mitkommen?“
„Wohin?“
„Nicht weit. Ein paar Schritte nur.“
Ich zögere. Aber mein Körper nicht. Der steht einfach auf. Als hätte er gewartet, dass jemand ihm die Erlaubnis gibt.
Wir gehen los. Keine Musik. Kein Filmende. Kein Regenbogen.
Nur zwei Leute, die nebeneinander laufen. Ohne Ziel. Ohne große Worte.
Und irgendwo dazwischen, vielleicht in der Luft, vielleicht zwischen den Händen, die sich fast berühren,
liegt dieser winzige, unscheinbare Hoffnungsschimmer.