Die Zeit als Wunde

Es begann mit dem Geräusch – dieses dumpfe, gleichgültige Summen, das weder wirklich laut noch wirklich leise war, sondern in einer Frequenz vibrierte, die irgendwo tief im Inneren das Trommelfell der Seele anschnitt. Ich hielt inne, mitten auf der Kreuzung, während die Lichter der Ampeln – Rot, Grün, Gelb, Rot – wie ferne Explosionen durch die feuchte Dunkelheit pulsierten. Der Asphalt unter meinen Füßen dampfte noch von einem kurzen Regen, als hätte die Stadt versucht, sich selbst zu reinigen, nur um in der nächsten Sekunde wieder in ihren eigenen Dreck zu tauchen.
Meine Hände zitterten, unkontrolliert, fast rhythmisch, und ich fragte mich, ob das Zittern von mir oder von der Erde selbst ausging. Vielleicht beides. Ein Taxifahrer hupte. Oder doch nicht? Das Hupen war in meinem Kopf, ein Echo vergangener Sekunden, die sich ineinander verschlangen, wie ein Knoten, der sich nicht lösen wollte.
„Alles geht kaputt,“ dachte ich, ohne zu wissen, worauf ich diesen Gedanken anwenden sollte – die Straße vor mir, das Glasfenster des geschlossenen Ladens mit dem „SALE -70%“-Schild oder mich selbst. Eine Frau in einem zu engen Mantel ging an mir vorbei, ihre Stöckelschuhe klickten mechanisch auf dem Pflaster. Das Geräusch war unangenehm, schien gleichzeitig nah und fern, wie eine fehlerhafte Tonspur. Ich fragte mich, wie oft ihre Sohlen wohl diese Schritte wiederholt hatten – dasselbe Muster, dieselbe Strecke, jeden Tag. Die Vorstellung erschöpfte mich.
Der Geruch von verbranntem Fett und billigem Parfüm hing in der Luft wie eine Erinnerung, die niemand haben wollte. Ich zog die Jacke enger um mich, ein instinktiver Schutz gegen die Kälte, die nicht von außen kam. Über mir blinkte eine Reklametafel – etwas mit einer Zahnpasta, die „drei Mal weißere Zähne in sieben Tagen“ versprach. Der Ironie war ich zu müde, aber sie war da, lauernd, wie ein streunender Hund.
Mein Blick verfing sich in einem zerbrochenen Fahrrad, das an einer Laterne lehnte, sein Vorderrad ein verdrehtes Fragezeichen, als ob es die Straße selbst nach dem Sinn seines Daseins befragte. Ich konnte nicht wegsehen, und das machte mich wütend. Warum funktionierte hier nichts?
Hinter mir zog ein Strom aus Gesichtern vorbei, jede Miene ein weiteres Buch, das ich niemals lesen wollte. Ihr Schweigen war lauter als die Stadt, ein weißes Rauschen aus ertränkten Hoffnungen und monotonem Alltag. Niemand sprach, und wenn doch, war es nur ein Fragment, ein herausgerissenes Stück aus einem Gespräch, das in einem anderen Raum begann und dort auch enden würde.
„Was mache ich hier?“ fragte ich mich, nicht zum ersten Mal, nicht zum letzten Mal. Die Frage war keine echte Frage, sondern eher ein Mantra, ein monotoner Taktgeber, der den Verfall meines Denkens begleitete. Vielleicht war sie auch ein Reflex, wie das Schließen der Augen, wenn etwas zu grell wird.
Ein Kind schrie – schrill, unendlich. Ich drehte mich um, sah aber nichts. Das Geräusch blieb, klebte an mir wie nasse Kleidung. Ein Mann auf einem E-Roller fuhr vorbei, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Er hätte genauso gut ein Schatten sein können, ein bloßer Umriss, der sich durch die Neonlandschaft bewegte. Die Stadt verschluckte ihn, wie sie alles verschluckte.
Die Uhren an der Bahnhofsfassade standen still. Seit wann? Es war nicht wichtig. Zeit war ohnehin nur noch ein Konzept, ein geborstener Spiegel, der mehr Fragen aufwarf, als er reflektierte. Ich holte mein Handy aus der Tasche, blickte auf das Display: 23:17. Oder vielleicht 11:17 – die Bedeutung war identisch und gleichzeitig nichtig. Der Akku war fast leer.
Ich atmete ein – tief, zögernd, als müsste ich mich erst davon überzeugen, dass es die Mühe wert war – und der Geschmack der Luft war bitter, metallisch. War das die Stadt oder ich selbst? Die Frage löste sich auf, bevor sie eine Antwort finden konnte.
Die Laternen summten. Ein Obdachloser wickelte sich in eine Decke, die aussah, als wäre sie Teil eines anderen Lebens gewesen, eines besseren. Ich blieb stehen, starrte, ohne zu wissen, was ich erwartete. Er sah mich an, seine Augen dunkel wie verbrannter Kaffee, und ich dachte: Vielleicht hat er längst verstanden, was ich nie begreifen werde.
Die Welt war leise, und doch war sie ohrenbetäubend. Ich spürte, wie die Zeit – oder das, was von ihr übrig war – sich wie ein Knoten in meiner Brust zusammenzog.
Die Ampel schaltete auf Grün. Ich ging nicht.