Die Stille der Stadt

Die Stille der Stadt
Der Regen kriecht mir in den Kragen, läuft am Hals runter. Scheißwetter. Trotzdem bleib ich stehen, starr auf das dunkle Wasser unter der Brücke. Es riecht nach nasser Erde und altem Stein, nach dieser Stadt, die niemals wirklich schläft, sondern nur manchmal die Augen schließt, so wie jetzt.
Die Laternen spiegeln sich im Kanal, verschwommene gelbe Flecken. Tanzende Lichter auf schwarzem Samt. Ich ziehe den Mantel enger um mich. Er ist zu dünn für diese Jahreszeit, aber was soll’s. War ein Geschenk von Marie, bevor sie ging. „Damit du nicht immer aussiehst wie ein Landstreicher,“ hat sie gesagt und gelacht. Jetzt lacht sie woanders. Mit wem auch immer.
Ein Kirchturm schlägt zweimal. Verdammt früh oder verdammt spät, je nachdem. Für mich ist es einfach die Zeit dazwischen. Die Stadt gehört jetzt Leuten wie mir, die nicht schlafen können oder wollen. Die zwischen den Stunden leben.
Ein Paar huscht vorbei, eng umschlungen unter einem Regenschirm. Sie kichern, flüstern. Sehen mich nicht mal. Sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. War mal so mit Marie und mir. Scheint ewig her.
Meine Finger sind klamm. In der Manteltasche taste ich nach Zigaretten, finde die zerdrückte Packung. Noch eine übrig. Als ich sie anzünde, zittert die kleine Flamme im Wind. Der erste Zug brennt in der Lunge, angenehm fast. Ich atme den Rauch tief ein, halte ihn fest. Wenigstens etwas, das bleibt. Für den Moment.
Die Häuserfassaden starren zurück, stumme Zeugen. Wissen mehr über mich als ich selbst manchmal. Haben gesehen, wie ich vor fünf Jahren hierhergezogen bin, voller Träume. Wie ich Marie kennengelernt habe im Café an der Ecke. Wie wir später stritten auf diesem selben Pflaster, ihre Stimme, die durch die leere Gasse hallte: „Du bist nie wirklich da, Thomas!“
War ich das? Bin ich das jetzt? Ich weiß es nicht mehr.
Der Regen wird stärker. Trommelt auf die Kopfsteinpflaster. Meine Schuhe sind durchweicht, die Socken auch. Spüre, wie meine Zehen langsam taub werden. Sollte nach Hause gehen. In die leere Wohnung, die nach altem Kaffee und ungewaschener Wäsche riecht. Nach Einsamkeit.
„Entschuldigung?“ Eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um, blinzle durch den Regen.
Eine Frau steht da, in einem dunklen Mantel, der meinem nicht unähnlich ist. Ihr Gesicht halb verborgen unter einem altmodischen Hut. „Haben Sie Feuer?“
Ich nicke, taste nach dem Feuerzeug. Als ich es ihr reiche, berühren sich unsere Finger kurz. Ihre Hand ist warm, überraschend warm für diese Nacht.
„Danke.“ Sie zündet ihre Zigarette an, gibt mir das Feuerzeug zurück. Bleibt stehen. Schaut wie ich auf den Kanal hinunter. „Schöner Ort zum Nachdenken.“
„Oder zum Nicht-Denken,“ sage ich und bin selbst überrascht, dass ich überhaupt was sage.
Sie lächelt. Eine kleine Falte erscheint dabei neben ihrem Mund. „Manchmal ist das dasselbe.“
Wir stehen schweigend nebeneinander. Der Regen rauscht um uns herum, aber irgendwie stört er nicht mehr so.
„Ich bin oft hier,“ sagt sie nach einer Weile. „Fast jede Nacht. Hab Sie noch nie gesehen.“
„Bin sonst nicht der Typ für nächtliche Spaziergänge.“ Wieder diese Worte, die einfach kommen. Als hätte die Stadt sie mir in den Mund gelegt.
„Was für ein Typ sind Sie dann?“ fragt sie. Nicht kokett, nicht aufdringlich. Einfach so.
Ich zucke mit den Schultern. „Früher wusste ich das mal.“
Sie nickt, als würde sie verstehen. Vielleicht tut sie das wirklich.
„Ich heiße übrigens Clara,“ sagt sie und wirft ihre Zigarette ins Wasser. Ein kurzes Zischen, dann ist sie verschwunden.
„Thomas,“ antworte ich.
„Ich kenne ein Café, das jetzt noch offen hat, Thomas. Schrecklicher Kaffee, aber wenigstens ist es trocken.“
Ich sollte Nein sagen. Nach Hause gehen. Mich nicht auf Fremde einlassen mitten in der Nacht. Aber die Wohnung ist leer und kalt, und etwas an Clara macht, dass ich ihr folgen will. Vielleicht ihr Lächeln. Vielleicht die Art, wie sie meinen Namen ausspricht. Als wäre er etwas Besonderes.
„Warum nicht,“ sage ich und spüre, wie sich etwas in mir löst. Eine Spannung, von der ich nicht wusste, dass sie da war.
Wir gehen los, Seite an Seite durch den Regen. Unsere Schritte klappern auf dem nassen Pflaster. Ein seltsam beruhigendes Geräusch.
„Weißt du,“ sagt Clara, während wir um eine Ecke biegen, „manchmal denke ich, dass die Stadt nachts ehrlicher ist.“
Ich nicke. Verstehe genau, was sie meint.
Der Regen lässt langsam nach, wird zu einem feinen Nieselregen. Die Straßenlaternen scheinen jetzt heller, die Pfützen zu unseren Füßen spiegeln die Lichter wider. Als würden wir durch einen umgedrehten Sternenhimmel laufen.
Zum ersten Mal seit langem fühle ich mich nicht mehr wie ein Fremder in meiner eigenen Haut. Vielleicht ist es die Nacht. Vielleicht Clara. Vielleicht beides.
An einer Kreuzung bleibt sie stehen, zeigt auf ein kleines, schäbiges Lokal. Durch die beschlagenen Scheiben sieht man den warmen Lichtschein. „Da wären wir.“
Ich folge ihr hinein, in die Wärme, den Geruch von verbranntem Kaffee und altem Holz. Die Kellnerin nickt Clara zu, als würde sie sie kennen.
„Stammgast?“ frage ich, während wir uns an einen Tisch in der Ecke setzen.
Clara zieht ihren Mantel aus. Darunter trägt sie ein einfaches blaues Kleid, das zu ihren Augen passt. „Die Nacht hat ihre eigenen Stammgäste,“ sagt sie und lächelt wieder dieses Lächeln mit der kleinen Falte.
Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Nicht vor Aufregung. Oder nicht nur. Es ist mehr wie… Wiedererkennen. Als hätte ich sie schon immer gekannt. In einem anderen Leben vielleicht.
Wir bestellen Kaffee, der tatsächlich schrecklich ist. Zu bitter, zu dünn. Aber das ist egal. Die Tasse wärmt meine Hände und Claras Stimme wärmt etwas anderes in mir. Etwas, das lange kalt war.
Sie erzählt von ihrem Job in der Stadtbibliothek. Von den alten Büchern, die nach Staub und Geheimnissen riechen. Von den Menschen, die kommen und gehen. „Manche kommen wegen der Bücher,“ sagt sie. „Andere, weil sie sonst niemanden zum Reden haben.“
„Und welche magst du lieber?“ frage ich.
Sie denkt nach, rührt in ihrem Kaffee. „Die Einsamen sind ehrlicher.“
Draußen beginnt der Tag langsam zu grauen. Die Nacht zieht sich zurück, widerwillig fast.
„Ich sollte gehen,“ sage ich schließlich. „Muss zur Arbeit.“
Clara nickt. „Ich auch.“
Wir zahlen, ziehen unsere noch feuchten Mäntel wieder an. Vor dem Café stehen wir unschlüssig, keiner will den Moment beenden.
„Kommst du wieder?“ fragt sie.
„Zur Brücke?“
„Oder hierher. Oder…“ Sie zögert. „Ich bin jeden Dienstag und Donnerstag in der Bibliothek. Falls du mal ein Buch brauchst.“
Ich nicke. „Vielleicht brauch ich tatsächlich mal was zu lesen.“
Sie lächelt, hebt kurz die Hand zum Abschied, dann geht sie los. Ihr Mantel weht leicht im Morgenwind. Ich sehe ihr nach, bis sie um eine Ecke verschwindet.
Die Stadt erwacht um mich herum. Rollläden werden hochgezogen, irgendwo hupt ein Auto. Der Alltag beginnt wieder, mit all seinen Pflichten und Routinen.
Aber während ich heimgehe, durch Straßen, die im frühen Morgenlicht ganz anders aussehen als in der Nacht, fühlt sich etwas anders an. Als hätte die Stadt ein Geheimnis mit mir geteilt. Ein Versprechen vielleicht.
In meiner Tasche taste ich nach einem Stift, finde einen alten Kugelschreiber. Auf einem Kassenzettel notiere ich: „Dienstag, Bibliothek.“
Der Regen hat aufgehört. Die Luft riecht frisch, nach Anfang. Ich gehe nach Hause, um zu duschen und mich umzuziehen. Um zur Arbeit zu gehen und so zu tun, als wäre diese Nacht nicht passiert.
Aber ich weiß es besser. Und zum ersten Mal seit langem freue ich mich auf Dienstag.