Die Stadt als Leichnam

Ich stolperte durch die Straßen – nein, nicht Straßen, sondern Trümmerbahnen, betonierte Gewebestränge eines längst verrottenden Organismus, der sich Stadt nannte. Der Regen, schwer und bleiern wie Quecksilber, prasselte nieder, erstickte die wenigen Funken von Leben, die sich in den schmierigen Pfützen und rostigen Gullideckeln noch spiegelten. Mein Atem war ein Schaben, trocken wie verbrannte Seiten eines Buches, das niemals jemand gelesen hatte. Irgendwo brummte ein Generator – oder war es ein Herzschlag? –, unterbrochen von den Stakkato-Schlägen eines Alarms, der für niemanden mehr klang.
Eine Ray-Ban-Sonnenbrille lag zersplittert auf dem Asphalt, ein Augapfel für eine längst blinde Stadt. Daneben eine zerfledderte Papiertüte von McDonald’s, deren aufgedrucktes Lächeln sich in einer grausigen Grimasse verzerrte, als der Regen sie langsam zermürbte. „I’m lovin’ it“, murmelte ich in einem Anflug von Galgenhumor, aber die Worte erstarben in der feuchten Luft, die nach Müll, Ozon und der unausgesprochenen Scham einer gescheiterten Zivilisation roch.
Der Verfall: Ein persönliches Epitaph
Die Gebäude um mich herum – wenn man diese Skelette aus Stahl und Glas noch so nennen konnte – krümmten sich wie Greise, ihre Fassaden lösten sich ab, schuppig und wund, als ob die Stadt selbst in eine finale Häutung eingetreten war. Ich stellte mir vor, wie sie, diese uralte Metropole, sich aus ihrem sterbenden Leib windet, nur um darunter nichts als Leere zu offenbaren. Vielleicht ein Nest von Ratten, deren blutige Augen mich längst beobachteten.
„War das immer schon hier?“, fragte ich niemanden im Speziellen und jeden im Allgemeinen, während mein Blick auf eine Gasse fiel, die sich wie eine klaffende Wunde durch das Stadtgefüge zog. Ihr Inneres war dunkel, fleckig, ein Schlund aus Asphalt, der nach Verzweiflung stank. Die Dunkelheit darin schien tiefer als die Nacht, unendlich und still, und für einen Moment glaubte ich, Stimmen zu hören – flüsternd, surrend, ein Kollektiv von Geistern, deren Namen in der Zeit ertrunken waren.
Frauen und Untote
Eine Gestalt bewegte sich dort, oder war es nur der Schatten meiner Gedanken? Sie trug einen roten Mantel, blutrot wie der Horizont eines untergehenden Planeten, und ging, nein, schwebte über das Kopfsteinpflaster, ihre Schritte lautlos, als hätten sie sich von den physikalischen Gesetzen gelöst. Ihre Haare – schwarz, ein Spiegel der Nacht – wanden sich wie Schlangen, hypnotisch und lebendig.
„Wer bist du?“, fragte ich, meine Stimme ein kaum wahrnehmbares Kratzen gegen das allgegenwärtige Summen der Stille. Keine Antwort, nur ein Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete – ein Lächeln, das zu sagen schien: Ich bin die Erinnerung, die du zu vergessen suchtest. Ich bin die Frau in deinen Albträumen, die Wunde, die nie heilt.
Ein Zittern durchlief mich, nicht vor Kälte, sondern vor dem kalten Wissen, dass sie realer war als ich selbst. Oder vielleicht war ich der Geist, ein wandelnder Leichnam in einem Traum, den ich nicht verstehen konnte.
Die Spirale der Entfremdung
Weiter. Meine Beine bewegten sich, als ob sie von fremden Fäden gezogen wurden, Marionetten in einem Theaterstück, das längst seinen Plot verloren hatte. Die Stadt – oder was davon übrig war – dehnte sich aus, ein endloser Flickenteppich aus Hoffnungslosigkeit und toten Träumen. Hier ein zerschmettertes Fahrrad, dort ein Kinderwagen ohne Räder. Und über allem hing der Geruch nach verbranntem Gummi und vergessenen Idealen.
Eine Werbetafel ragte schräg aus den Trümmern, ihr Neonlicht flackerte wie der Herzschlag eines Sterbenden. „Mach dein Leben leichter – mit uns!“ las ich, die Buchstaben halb erloschen, ihre Botschaft hohl und sarkastisch wie ein schlechter Witz auf einer Beerdigung.
„Leichter?!“ Ich lachte, ein kurzes, trockenes Aufbäumen, das in einen Husten mündete. „Was soll noch leichter werden, wenn nichts mehr Gewicht hat?“
Stillstand als Erlösung
Und dann, als ich an einer Kreuzung stehen blieb – nein, an einem Punkt, an dem alle Wege gleichermaßen ins Nichts führten –, spürte ich es: das Ende. Nicht das Ende der Welt, denn die Welt hatte längst aufgehört, irgendeine Bedeutung zu haben. Sondern das Ende von Bewegung, von Fortschritt, von Sinn. Die Uhren, so schien es, hatten kollektiv beschlossen, ihre Zeiger sinken zu lassen, wie müde Soldaten nach einer verlorenen Schlacht.
Ich starrte auf das Pflaster zu meinen Füßen, das glänzte wie das Innere einer geplatzten Ader. Mein Schatten – oder war es der einer anderen Existenz? – dehnte sich aus, verschmolz mit dem Dunkel um mich herum.
In der Ferne schrie eine Sirene. Oder vielleicht war es nur der Wind, der durch die klaffenden Ritzen einer sterbenden Stadt fuhr. Ich schloss die Augen, und für einen Moment war da nichts – keine Frau im roten Mantel, keine Trümmer, keine Uhr, die tickte. Nur das Vibrieren der Leere.
Keine Katharsis
Ich wartete auf etwas – eine Erleuchtung, eine Stimme, die sagte: „Das ist es.“ Aber da war nichts. Die Stadt blieb ein Leichnam, die Zeit ein Kreis, und ich ein Wanderer ohne Richtung.
Und doch, irgendwo tief in mir, keimte ein winziger Funke. Nicht Hoffnung, oh nein. Hoffnung war eine Lüge, eine Ray-Ban, die zerbrach, sobald das Licht sie traf. Es war etwas anderes: ein müder Wille, die Geschichte weiterzuerzählen, auch wenn niemand mehr zuhören wollte.