As Time Goes By

Die Schlüsselsammlung

Ich wache auf, und das ist schon das erste Problem. Bin mir sicher, dass ich gar nicht geschlafen habe. Trotzdem klingelt der Wecker, dieses penetrante Ding. Ich taste nach dem Knopf, aber meine Hand greift ins Leere, immer wieder.

Der Ton wird lauter. Fuck.Als ich die Augen richtig öffne, stehe ich mitten in einem Raum. Kein Bett weit und breit. Dafür ein riesiger Holztisch vor mir, übersät mit Schlüsseln. Hunderte, vielleicht tausende. Manche blitzen wie frisch poliert, andere sind rostig, als hätten sie jahrelang im Meer gelegen. Ein paar sind filigran wie Schmuckstücke, andere plump und schwer wie Kerkerschlüssel. Der Wecker steht mittendrin, ein altes rotbraunes Ungetüm mit zwei Metallglockenhälften obendrauf.

Es klingelt so laut, dass mir die Ohren schmerzen.“Mach das verdammte Ding aus“, sage ich zu mir selbst und greife danach. Als meine Finger es berühren, zerfällt es zu Staub. Die Stille danach ist so plötzlich da, dass sie in meinen Ohren rauscht.

Ein Zettel liegt unter der Staubwolke. „Finde den richtigen.“ Mehr steht nicht drauf. Natürlich nicht. Es wäre auch zu einfach, wenn irgendwas in meinen Träumen mal einen klaren Sinn ergeben würde.Der Raum hat keine Fenster, nur vier Türen, eine in jeder Wand. Alle geschlossen. Na toll. Tausend Schlüssel, vier Türen, und ich soll den richtigen finden. Warum nicht gleich die Nadel im Heuhaufen?Ich nehme einen der Schlüssel, einen kleinen aus Messing mit einem herzförmigen Bart. Er fühlt sich warm an in meiner Hand, fast lebendig.

Aus irgendeinem Grund denke ich an den kleinen Laden in Toledo, wo der alte Mann Schlüssel verkauft hat. Nur Schlüssel, nichts anderes. „Jeder Schlüssel öffnet zwei Türen“, hat er gesagt. „Eine nach außen und eine nach innen.“ Damals dachte ich, er labert esoterischen Schwachsinn, um den Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.

Ich probiere den ersten Schlüssel an der Tür direkt vor mir. Er passt nicht mal ins Schloss. Der zweite auch nicht. Der dritte passt, aber dreht sich nicht. Beim vierten knackt es vielversprechend, aber dann bricht der Schlüssel ab und steckt im Schloss fest.“Scheiße!“, fluche ich laut. Meine Stimme hallt unnatürlich nach, als stünde ich in einer Kathedrale und nicht in diesem stickigen Raum.

Plötzlich rauscht es in meinen Ohren und der Geruch von Salz und Tang weht durch den Raum. Für einen Moment bin ich verwirrt, dann erkenne ich den Geruch – wie das Ferienhaus im Norden, wenn der Wind vom Meer kommt und durch die offenen Fenster bläst. Die Gardinen würden sich bauschen, und der Sand würde über die Dielen knirschen. Aber hier gibt es keine Gardinen, keine Fenster, keinen Sand.

Oder doch? Als ich genauer hinsehe, liegt Sand auf dem Boden, wie eine dünne Schicht Schnee. Er glitzert im Licht – obwohl, woher kommt eigentlich das Licht? Es gibt keine Lampen.Ich gehe zum Tisch zurück und wühle durch die Schlüssel. Meine Finger greifen einen, der anders ist als die anderen. Er ist aus dunklem Metall, fast schwarz, und fühlt sich kälter an als die Raumtemperatur. Der Bart ist geformt wie – ja wie was eigentlich? Wie ein Tier? Eine Blume? Je länger ich hinschaue, desto mehr verändert sich die Form, als könnte sie sich nicht entscheiden, was sie sein will.

Als ich den Schlüssel hochhalte, schwappt plötzlich eine Welle durch den Raum. Wasser, kalt und salzig, bis zu meinen Knöcheln. Es ist so real, dass ich erschrocken zurücktrete und gegen den Tisch stoße. Einige Schlüssel fallen klirrend zu Boden, versinken im Wasser.

Der schwarze Schlüssel in meiner Hand wird wärmer. Nicht angenehm warm, sondern heiß, fast brennend. Ich will ihn loslassen, aber meine Finger klemmen fest, als wäre der Schlüssel mit meiner Haut verschmolzen. Ein stechender Schmerz zieht durch meine Handfläche, und ich sehe, wie sich feine schwarze Linien von dem Schlüssel aus über meine Haut ziehen, wie Tinte in Wasser.

Panik steigt in mir auf, aber gleichzeitig bin ich fasziniert. Die Linien bilden Muster, Symbole, die mir merkwürdig vertraut vorkommen. Als hätte ich sie schon einmal gesehen, in einem anderen Traum, einem anderen Leben.Das Wasser steigt weiter, ist jetzt schon an meinen Knien. Es riecht nicht mehr nur nach Meer, sondern auch nach etwas anderem – nach Erde und altem Holz, nach dem Keller im Haus meiner Großeltern. Dort stand immer eine alte Truhe, die niemand öffnen konnte, weil der Schlüssel vor Jahrzehnten verloren gegangen war. Als Kind habe ich mir ausgemalt, was wohl darin sein könnte. Schätze? Geheimnisse? Oder nur alte Kleider und vergilbte Fotos?Das Wasser steigt schneller, ist jetzt an meiner Hüfte. Die Schlüssel auf dem Tisch klirren, als würden sie von unsichtbaren Händen bewegt. Einige schweben sogar, drehen sich langsam in der Luft. Der schwarze Schlüssel in meiner Hand pulsiert im Rhythmus meines Herzschlags.Ich wate zur nächsten Tür, einer massiven aus dunklem Holz mit schmiedeeisernen Beschlägen, die an eine alte spanische Hacienda erinnert. Das Schlüsselloch ist groß, passt genau zu meinem schwarzen Schlüssel. Bevor mein Verstand eingreifen kann, stecke ich ihn hinein.

Die Tür öffnet sich mit einem tiefen Knarren. Dahinter ist kein weiterer Raum, sondern ein Gang, der steil nach unten führt. Die Wände sind aus grobem Stein, feucht und mit Algen bewachsen, als würde er direkt ins Meer führen. Vielleicht tut er das auch.

Das Wasser im Raum fließt jetzt schnell durch die offene Tür, wie ein Strudel, der mich mit sich ziehen will. Ich klammere mich am Türrahmen fest, aber der Sog ist zu stark. Meine Füße verlieren den Halt, und ich werde in den Gang gezogen, rutsche die glitschigen Steinstufen hinunter, die kein Ende zu nehmen scheinen.Ich falle und falle, bis ich nicht mehr weiß, ob ich noch im Wasser bin oder in der Luft. Die Dunkelheit umhüllt mich, aber statt Angst zu haben, fühle ich eine seltsame Ruhe. Als würde ich genau dorthin treiben, wo ich sein soll.Dann plötzlich Licht. Blendendes, gleißendes Licht. Ich kneife die Augen zusammen, blinzle gegen die Helligkeit an. Als sich meine Augen anpassen, sehe ich, dass ich an einem Strand liege. Nicht irgendeinem Strand – es ist der kleine versteckte Cove in der Nähe unseres Ferienhauses, der nur bei Ebbe zugänglich ist, mit dem charakteristischen Felsen, der wie ein schlafender Hund aussieht.

Der Sand unter mir ist warm, die Sonne steht hoch am Himmel. Das Meer vor mir ist so blau, dass es fast unwirklich wirkt, wie ein Filter in einer dieser Instagram-Apps. In meiner Hand liegt immer noch der schwarze Schlüssel, aber er ist jetzt kleiner, leichter.

Ein Schatten fällt über mich, und ich sehe auf. Da steht jemand, eine Silhouette gegen die Sonne. Ich kann das Gesicht nicht erkennen, nur die Umrisse. Die Person streckt die Hand aus, als wolle sie mir aufhelfen.

„Hast du ihn gefunden?“, fragt eine Stimme, die mir bekannt vorkommt, obwohl ich nicht weiß, woher.“Den Schlüssel?“, frage ich und halte ihn hoch.Die Person lacht leise. „Nein, nicht den. Den anderen.

„Ich will fragen, welchen anderen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Denn als ich wieder auf meine Hand schaue, ist der schwarze Schlüssel verschwunden. Stattdessen halte ich einen winzigen goldenen Schlüssel, nicht größer als mein kleiner Finger. Er glänzt im Sonnenlicht, als wäre er aus flüssigem Gold gegossen.Und dann weiß ich es plötzlich. Ich weiß, wozu er passt. Nicht zu einer Tür oder einer Truhe oder irgendetwas, das man verschließen kann. Er passt zu etwas in mir drin, zu einer Stelle, die ich lange vergessen oder ignoriert habe.Ich stehe auf, spüre den warmen Sand zwischen meinen Zehen. Die Person vor mir tritt zur Seite, zeigt auf etwas hinter mir. Ich drehe mich um und sehe, dass dort, wo eben noch die offene See war, jetzt ein Haus steht. Unser Ferienhaus, aber irgendwie anders – größer, verwunschener, als hätte es all die Jahre gelebt und sich verändert, während wir weg waren.

Die Tür steht offen, und dahinter ist es dunkel. Nicht bedrohlich dunkel, sondern einladend, wie ein kühler Raum an einem heißen Tag. Ich gehe darauf zu, den goldenen Schlüssel fest in der Hand.

Als ich die Schwelle übertrete, kribbelt es auf meiner Haut, als würde ich durch einen Vorhang aus feinen elektrischen Fäden gehen. Die Dunkelheit umhüllt mich, aber sie ist nicht vollständig. Überall schweben kleine Lichtpunkte, wie Glühwürmchen oder Sterne. Sie bewegen sich langsam, bilden Muster und lösen sich wieder auf.In der Mitte des Raumes steht ein alter Schreibtisch, auf dem eine einzelne Kerze brennt. Das Wachs ist fast vollständig heruntergebrannt, die Flamme flackert im Luftzug. Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch, die Seiten leer, aber nicht weiß – eher wie perlmuttfarben, schimmernd im Kerzenlicht.Neben dem Buch liegt ein winziges Schloss, kaum größer als eine Münze. Es ist aus demselben goldenen Material wie der Schlüssel in meiner Hand.

Ich setze mich an den Tisch, das Holz knarrt unter meinem Gewicht. Die Luft riecht nach altem Papier, nach Tinte und nach dem Pimentón, das immer in der Küche des Ferienhauses hing und allen Gerichten diesen charakteristischen rauchigen Geschmack gab.

Mit zitternden Fingern führe ich den Schlüssel zum Schloss. Er passt perfekt, dreht sich ohne Widerstand. Das Schloss springt auf, aber es hält nichts verschlossen. Es liegt einfach da, offen, nutzlos.Oder doch nicht? Als ich genauer hinsehe, bemerke ich, dass sich auf den leeren Seiten des Buches Worte bilden, als würden sie von einer unsichtbaren Hand geschrieben. Es sind meine Worte, meine Gedanken, meine Träume. Alles, was ich je gedacht oder gefühlt habe, aber nie ausgesprochen. Alles, was ich verdrängt oder vergessen habe.Ich lese und lese, kann nicht aufhören. Es ist, als würde ich mich selbst zum ersten Mal wirklich kennenlernen. All die Widersprüche, all die unausgesprochenen Wünsche, all die heimlichen Freuden und Ängste.

Die Lichtpunkte um mich herum werden heller, tanzen schneller. Die Kerze auf dem Tisch flackert wild, als würde ein Sturm durch den Raum fegen, obwohl ich keine Luftbewegung spüre.Und dann höre ich es – ein leises Klingeln, wie von einem alten Wecker. Es wird lauter und lauter, bis es in meinen Ohren dröhnt. Die Worte im Buch verschwimmen, die Lichtpunkte verblassen.

Ich greife nach dem Buch, will es festhalten, aber meine Hände greifen ins Leere. Alles löst sich auf, zerrinnt wie Sand zwischen meinen Fingern.

Das Klingeln wird unerträglich laut. Ich presse die Hände auf die Ohren, aber es hilft nichts. Es kommt von innen, aus meinem Kopf.Und dann bin ich wieder im ersten Raum, am Tisch mit den tausend Schlüsseln. Der Wecker klingelt immer noch, steht unversehrt vor mir, als wäre er nie zu Staub zerfallen. Aber etwas ist anders – der Raum ist jetzt voller Licht, das durch ein Fenster fällt, das vorher nicht da war. Und durch das Fenster sehe ich das Meer, die Küste bei unserem Ferienhaus, mit dem charakteristischen Felsen, der wie ein schlafender Hund aussieht.

Ich strecke die Hand aus, berühre den Wecker. Er verstummt sofort. In meiner anderen Hand halte ich immer noch den goldenen Schlüssel, warm und vertraut.

Als ich aufblicke, sehe ich, dass alle vier Türen jetzt offen stehen. Hinter jeder liegt ein anderer Ort, eine andere Zeit, ein anderes Ich. Ich weiß, dass ich durch jede gehen könnte, dass jede mich zu einem Teil von mir führen würde, den ich vergessen oder verloren habe.

Aber ich bleibe stehen, den goldenen Schlüssel fest in der Hand. Ich muss nicht durch diese Türen gehen. Nicht jetzt. Vielleicht später, in einem anderen Traum.Ich trete stattdessen ans Fenster, schaue auf das Meer hinaus. Die Sonne steht tief, wirft lange Schatten. Es muss später Nachmittag sein. In der Ferne sehe ich ein Boot, das langsam zum Horizont segelt.

Der goldene Schlüssel in meiner Hand wird leichter, fast schwerelos. Als ich hinunterschaue, sehe ich, wie er sich in einen kleinen goldenen Vogel verwandelt, der seine Flügel ausbreitet und davonfliegt, durch das offene Fenster, über das Meer, der untergehenden Sonne entgegen.Ich lächle, spüre eine tiefe Ruhe in mir. Egal, welcher Schlüssel der richtige war – ich habe gefunden, was ich brauchte.Und dann wache ich auf, diesmal wirklich. Der Wecker klingelt nicht, die Morgensonne fällt durch die halbgeschlossenen Jalousien und zeichnet Streifen auf die Bettdecke. Ich taste nach etwas in meiner Hand, aber da ist nichts. Natürlich nicht.Trotzdem bleibt ein Gefühl zurück, ein Nachhall des Traums. Als hätte ich tatsächlich etwas gefunden und wieder verloren. Oder vielleicht nicht verloren, sondern nur an einem sicheren Ort verwahrt, bis ich es wieder brauche.

Ich stehe auf, gehe zum Fenster. Draußen ist keine Küste, kein Meer, nur die Stadt, die langsam erwacht. Aber für einen Moment, wenn ich die Augen zusammenkneife und mir den Schlaf aus den Augen reibe, kann ich schwören, dass ich in der Ferne das Meer rauschen höre und den Geruch von Salz und Tang in der Nase habe.Und dann ist es weg, und der Tag beginnt.

made by Xbyte jade heilstein einfach schnell gesund kochen einfach schnell gesund vegan Tierkommunikation