Die falsche Tür

Ich stehe vor einer Tür, die ich schon hundertmal geöffnet habe. Zumindest denke ich das. Meine Hand greift nach der Klinke, wie sie es immer tut. Die Messingklinke fühlt sich kälter an als sonst. Komisch. Vielleicht liegt es an dem Unwetter draußen. Der Regen peitscht gegen die Fensterscheiben des Hausflurs, und irgendwo über mir tropft es rhythmisch in einen Eimer. Tack. Tack. Tack.
Ich drücke die Klinke runter, und die Tür öffnet sich mit einem ungewohnten Knarren. War das schon immer so? Normalerweise achte ich nicht auf solche Details. Mein Kopf ist voll mit den Ereignissen des Tages, mit der Präsentation, die schiefgelaufen ist, mit dem Gesicht meines Chefs, der enttäuscht den Kopf geschüttelt hat. Nicht böse, einfach nur enttäuscht, was schlimmer ist.
Ich trete ein und taste nach dem Lichtschalter. Meine Finger gleiten über die Tapete, finden aber nichts. Seltsam. Ich greife tiefer in den Raum hinein, und plötzlich berühre ich etwas Weiches, Nachgiebiges. Erschrocken ziehe ich die Hand zurück.
„Wer ist da?“, fragt eine Stimme. Eine Frauenstimme, die ich nicht kenne.
Erst jetzt bemerke ich, dass der Raum nicht dunkel ist. Er ist in ein sanftes, gedämpftes Licht getaucht. Und es ist nicht meine Wohnung. Nicht mein Flur mit den Unaus gepackten Umzugskartons. Nicht mein Schuhschrank mit den drei Paar abgelaufenen Sneakern.
„Entschuldigung, ich muss mich in der Tür geirrt haben“, sage ich und will rückwärts wieder hinaus.
Aber die Tür ist verschwunden. Stattdessen stehe ich in einem weitläufigen Raum mit hohen Decken und bodentiefen Fenstern. Draußen prasselt immer noch der Regen, aber es ist nicht mehr die graue Straße mit den Reihenhäusern. Ich sehe einen Park, dunkle Bäume, die sich im Wind biegen, und dahinter die Lichter einer Stadt, die ich nicht kenne.
„Du hast dich nicht in der Tür geirrt“, sagt die Frau. Sie sitzt in einem Sessel am Fenster, ein Buch auf dem Schoß. Sie ist nicht jung, nicht alt, irgendwo dazwischen, mit einem Gesicht, das Geschichten erzählt. „Du bist genau da, wo du sein solltest.“
„Wo bin ich?“, frage ich und meine Stimme klingt dünn in dem großen Raum.
„In der Bibliothek der verlorenen Möglichkeiten“, antwortet sie, als wäre das die normalste Sache der Welt. Sie deutet mit einer Hand auf die Wände, und erst jetzt bemerke ich die Bücherregale, die von Boden bis zur Decke reichen. Tausende, nein, Millionen von Büchern.
„Das verstehe ich nicht“, sage ich.
„Nein“, sagt sie mit einem leichten Lächeln. „Das tun die meisten nicht, wenn sie zum ersten Mal hier sind.“
Sie steht auf und geht zu einem der Regale. Ihre Bewegungen sind fließend, fast schwebend. Sie zieht ein Buch heraus, ein dickes, in dunkelrotes Leder gebundenes.
„Hier“, sagt sie und reicht es mir. „Das ist deins.“
Ich nehme es zögernd. Es fühlt sich warm an, fast lebendig in meinen Händen. Als ich es öffne, sehe ich meinen Namen auf der ersten Seite. Und dann beginnt die Geschichte. Meine Geschichte. Aber nicht die, die ich kenne. Es ist eine Version von mir, die andere Entscheidungen getroffen hat, andere Wege gegangen ist.
„Was ist das?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits zu ahnen beginne.
„Ein Leben, das du hättest leben können“, sagt sie. „Eine der unzähligen Möglichkeiten, die in jedem Moment deines Daseins verzweigt.“
Ich blättere durch die Seiten, sehe Bilder von mir in Situationen, die mir fremd und doch seltsam vertraut sind. Ich in einem Labor, umgeben von komplexen Geräten. Ich auf einer Bühne, vor einem applaudierenden Publikum. Ich in einem Haus am Meer, mit Kindern, die um mich herumtollen.
„Warum zeigen Sie mir das?“, frage ich, während mein Herz schneller schlägt.
„Weil du heute eine Entscheidung getroffen hast“, sagt sie. „Du hast dich entschieden, aufzugeben.“
Die Worte treffen mich wie ein Schlag. Es stimmt. Nach der Präsentation, nach dem Blick meines Chefs, hatte ich beschlossen, dass es keinen Sinn mehr hat. Dass ich nicht gut genug bin. Dass ich es nie sein werde.
„Das ist nicht wahr“, sage ich, aber meine Stimme zittert.
„Nein?“, fragt sie und nimmt mir das Buch sanft aus den Händen. Sie stellt es zurück ins Regal und zieht ein anderes heraus. Dieses ist dünner, in schlichtes graues Leinen gebunden. „Dann lies das.“
Es ist wieder meine Geschichte, aber diesmal ist sie kurz, abgebrochen. Ich lese von meiner Resignation, meinem langsamen Rückzug aus allem, was mir einmal wichtig war. Von den Jahren, die vergehen, ohne dass ich es bemerke, bis ich eines Tages aufwache und mich frage, wo mein Leben geblieben ist.
„Das ist deprimierend“, sage ich und klappe das Buch zu.
„Das ist eine Möglichkeit“, sagt sie. „Eine von vielen. Die Frage ist, welche du wählst.“
„Ich verstehe immer noch nicht, warum ich hier bin.“
„Weil du an einem Wendepunkt stehst“, sagt sie. „Weil du heute Nacht diese Tür geöffnet hast, statt einer anderen. Weil ein Teil von dir immer noch glaubt, dass es mehr gibt, als du dir erlaubt hast zu sehen.“
Sie geht zu einem anderen Regal und zieht ein weiteres Buch heraus. Dieses ist in leuchtendes Blau gebunden, mit goldenen Sternen auf dem Einband.
„Ich will es nicht sehen“, sage ich hastig. „Ich will nicht wissen, was hätte sein können.“
„Es geht nicht darum, was hätte sein können“, sagt sie. „Es geht darum, was sein kann.“
Sie drückt mir das Buch in die Hände, und ich kann nicht widerstehen, es zu öffnen. Die ersten Seiten erzählen meine Geschichte bis zum heutigen Tag. Die Präsentation, der enttäuschte Blick, mein Gang nach Hause im Regen. Und dann, das Öffnen der Tür.
Aber die folgenden Seiten sind leer.
„Ich verstehe nicht“, sage ich verwirrt.
„Diese Geschichte ist noch nicht geschrieben“, sagt die Frau. „Du schreibst sie, jeden Tag, mit jeder Entscheidung.“
„Aber wie soll ich wissen, welche Entscheidungen richtig sind?“
Sie lacht, ein warmes, tiefes Lachen, das den ganzen Raum zu erfüllen scheint. „Das ist die falsche Frage. Es gibt keine richtigen oder falschen Entscheidungen. Es gibt nur deine Entscheidungen, und die Geschichten, die daraus entstehen.“
Sie nimmt mir das blaue Buch ab und stellt es in eine Lücke im Regal, die ich vorher nicht bemerkt habe. Direkt auf Augenhöhe, leicht zu erreichen.
„Es wird hier auf dich warten“, sagt sie. „Für den Fall, dass du zurückkommen möchtest, um zu sehen, wie deine Geschichte verläuft.“
„Kann ich zurückkommen? Wie finde ich den Weg?“
Sie lächelt geheimnisvoll. „Du wirst es wissen, wenn es soweit ist.“
Sie führt mich durch den Raum, vorbei an endlos scheinenden Regalreihen, bis wir vor einer unscheinbaren Tür stehen. Sie sieht genau aus wie die Tür zu meiner Wohnung, mit dem kleinen Kratzer am unteren Rand, den ich beim Einzug mit einem Möbelstück verursacht habe.
„Es ist Zeit zu gehen“, sagt sie. „Aber denk daran: Jede Tür, die du öffnest, kann eine neue Geschichte beginnen.“
„Wer sind Sie?“, frage ich, als sie die Tür für mich öffnet.
„Ich bin die Hüterin der Geschichten“, sagt sie. „Aller Geschichten, die waren, die sind und die sein könnten.“
Ich trete durch die Tür und finde mich im Flur meines Wohnhauses wieder. Der Regen hat nachgelassen, nur noch ein leichtes Trommeln ist zu hören. Die Tür schließt sich hinter mir, und als ich mich umdrehe, sehe ich die vertraute Nummer meiner Wohnung.
War es ein Traum? Eine Halluzination, verursacht durch Stress und Erschöpfung? Ich weiß es nicht. Aber als ich die Tür zu meiner Wohnung öffne, fühlt es sich anders an. Als würde ich nicht nur einen Raum betreten, sondern eine Möglichkeit.
Ich schalte das Licht ein und sehe die Umzugskartons, die seit Wochen unausgepackt herumstehen. In einem plötzlichen Impuls beginne ich, sie auszupacken. Bücher, Kleidung, Erinnerungsstücke – all die Dinge, die ich aus Faulheit oder Gleichgültigkeit ignoriert habe. Ich finde ein altes Notizbuch, voll mit Ideen und Träumen, die ich irgendwann aufgehört habe zu verfolgen.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch, der bisher nur ein Abstellplatz für Rechnungen und ungeöffnete Post war. Ich öffne das Notizbuch und beginne zu lesen. Die Begeisterung, die Leidenschaft in diesen Worten überrascht mich. War ich das wirklich?
Ich greife nach einem Stift und beginne zu schreiben. Nicht meine gescheiterte Präsentation, nicht meine Frustration. Sondern eine neue Idee, einen anderen Ansatz. Etwas, das die Probleme anders angeht, aus einer Perspektive, die ich bisher übersehen habe.
Die Worte fließen überraschend leicht. Es ist, als hätte die seltsame Begegnung in der „Bibliothek der verlorenen Möglichkeiten“ etwas in mir gelöst. Als hätte ich durch das Öffnen der falschen Tür den richtigen Weg gefunden.
Ich schreibe bis spät in die Nacht, und als ich schließlich ins Bett gehe, fühle ich etwas, das ich lange nicht mehr gefühlt habe: Vorfreude auf den nächsten Tag.
Am Morgen erwache ich mit klarem Kopf. Die Ereignisse der Nacht erscheinen mir wie ein intensiver, ungewöhnlich lebhafter Traum. Aber die Notizen, die ich gemacht habe, sind real. Die Ideen sind real. Und die Entschlossenheit, die ich fühle, ist definitiv real.
Ich rufe meinen Chef an, noch bevor ich das Haus verlasse. „Ich muss mit Ihnen reden“, sage ich. „Ich habe einen neuen Ansatz für das Projekt.“
Er klingt überrascht, aber nicht ablehnend. Wir vereinbaren ein Treffen für später am Tag.
Als ich durch die Stadt gehe, fühlt sich alles verändert an. Die Straßen scheinen heller, die Menschen lebendiger. Ich bemerke Details, die mir bisher entgangen sind: das Lichtspiel in einer Pfütze, das Lachen eines Kindes, den Duft von frischem Brot aus einer Bäckerei.
Ich betrete ein Café, um zu frühstücken, und setze mich an einen Tisch am Fenster. Die Bedienung lächelt mir zu, und ich lächle zurück, etwas, das ich in letzter Zeit selten getan habe.
„Was darf ich Ihnen bringen?“, fragt sie.
Normalerweise würde ich nur einen schwarzen Kaffee bestellen. Heute sage ich: „Ein volles Frühstück bitte. Mit allem, was dazugehört.“
Während ich warte, hole ich mein Notizbuch heraus und gehe meine Ideen noch einmal durch. Sie erscheinen mir immer noch gut, innovativ sogar. Ich füge weitere Details hinzu, Verbesserungen, die mir über Nacht eingefallen sind.
Das Frühstück kommt, und ich esse mit Appetit. Neben mir sitzt ein Mann, der in eine Zeitung vertieft ist. Er sieht auf, als er bemerkt, dass ich ihn beobachte.
„Schöner Tag heute, oder?“, sagt er.
„Ja“, sage ich und meine es auch so, obwohl der Himmel bewölkt ist und es jederzeit wieder regnen könnte. „Ein sehr schöner Tag.“
Er nickt, als verstehe er genau, was ich meine, und widmet sich wieder seiner Zeitung.
Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg zur Arbeit. Das Bürogebäude, das mir gestern noch wie ein Gefängnis erschien, wirkt heute weniger bedrohlich. Ich grüße den Pförtner mit Namen, was ich sonst nie tue, und er erwidert meinen Gruß mit sichtlicher Überraschung.
Im Büro herrscht die übliche Geschäftigkeit. Kollegen hasten von Schreibtisch zu Schreibtisch, Telefone klingeln, Drucker surren. Ich gehe direkt zu meinem Platz und beginne, meine Präsentation zu überarbeiten. Die neuen Ideen lassen sich erstaunlich gut integrieren, als hätten sie nur darauf gewartet, entdeckt zu werden.
Eine Kollegin, mit der ich selten spreche, bleibt an meinem Schreibtisch stehen. „Du siehst anders aus heute“, sagt sie.
„Wirklich?“, frage ich. „Wie denn?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Lebendiger irgendwie.“
Ich lächle. „Vielleicht liegt es daran, dass ich endlich verstanden habe, dass jede Tür eine neue Geschichte beginnen kann.“
Sie runzelt die Stirn, verwirrt von meiner kryptischen Antwort, aber ich erkläre es nicht weiter. Manche Erfahrungen lassen sich nicht in Worte fassen, sie müssen erlebt werden.
Das Treffen mit meinem Chef verläuft besser als erwartet. Er hört mir aufmerksam zu, stellt Fragen, die zeigen, dass er wirklich an meinen Ideen interessiert ist.
„Das ist ein komplett anderer Ansatz als gestern“, sagt er, als ich fertig bin. „Was ist passiert?“
Ich denke an die Frau in der Bibliothek, an die Bücher mit meinen verschiedenen Leben, an die leeren Seiten, die darauf warten, gefüllt zu werden.
„Ich habe eine Tür geöffnet“, sage ich. „Eine, die ich vorher nicht gesehen habe.“
Er lacht, als wäre es ein Witz, aber ich sehe in seinen Augen, dass er versteht, dass mehr dahintersteckt.
„Nun, was auch immer diese Tür war, ich bin froh, dass du sie gefunden hast“, sagt er. „Lass uns diesen Ansatz weiterverfolgen.“
Als ich nach der Besprechung an meinen Platz zurückkehre, fühle ich mich leicht, als wäre eine Last von meinen Schultern genommen worden. Ich öffne meinen Computer und beginne zu arbeiten, mit einer Konzentration und Begeisterung, die ich lange nicht mehr gespürt habe.
In der Mittagspause verlasse ich das Büro und gehe in den nahegelegenen Park. Der Regen der Nacht hat alles frisch und grün gemacht. Ich setze mich auf eine Bank und beobachte die Menschen: Ein älteres Paar, das Hand in Hand spaziert; Kinder, die trotz des feuchten Rasens herumrennen; einen Straßenmusiker, der einer kleinen Menschenmenge vorspielt.
Ich schließe die Augen und lausche der Musik, dem Lachen, dem Rauschen der Blätter im Wind. Und ich denke an die Bibliothek, an die endlosen Regale mit Büchern, mit Leben, mit Möglichkeiten.
War es real? Vielleicht nicht in dem Sinne, wie diese Bank real ist, auf der ich sitze, oder die Menschen um mich herum. Aber auf einer anderen Ebene, in einer tieferen Wahrheit, war es vielleicht realer als alles, was ich bisher für Realität gehalten habe.
Als ich die Augen wieder öffne, sitzt eine alte Frau neben mir auf der Bank. Sie lächelt mir zu, ein Lächeln voller Weisheit und Güte.
„Ein schöner Tag für neue Anfänge“, sagt sie.
Ich sehe sie genauer an, ihre klaren Augen, die Falten in ihrem Gesicht, die von einem langen, gelebten Leben zeugen. Ist sie es? Die Hüterin der Geschichten?
Aber bevor ich fragen kann, steht sie auf und geht davon, verschwindet zwischen den anderen Parkbesuchern.
Ich bleibe noch eine Weile sitzen, genieße die Sonne, die jetzt durch die Wolken bricht. Dann kehre ich ins Büro zurück, bereit für den Rest des Tages, für den Rest meiner Geschichte.
Am Abend, als ich nach Hause gehe, regnet es wieder leicht. Ich habe keinen Schirm dabei, aber es macht mir nichts aus. Das kühle Wasser auf meinem Gesicht fühlt sich erfrischend an.
Als ich vor meinem Wohnhaus ankomme, bleibe ich einen Moment stehen und schaue hinauf zu meinem Fenster. Ein Licht brennt dort, obwohl ich sicher bin, dass ich morgens alles ausgeschaltet habe.
Ich betrete das Haus, gehe die Treppe hinauf und stehe vor meiner Wohnungstür. Sie sieht aus wie immer, und doch scheint sie mir jetzt mit unendlichen Möglichkeiten gefüllt zu sein.
Ich schließe auf und trete ein. Der Flur ist dunkel, aber aus dem Wohnzimmer dringt Licht. Vorsichtig gehe ich darauf zu, unsicher, was mich erwarten wird.
Das Wohnzimmer ist aufgeräumt, die Umzugskartons sind verschwunden, als hätten sie nie existiert. An ihrer Stelle stehen Bücherregale, gefüllt mit Büchern in allen Farben und Größen. Und in der Mitte des Raumes steht ein Schreibtisch, auf dem ein einzelnes Buch liegt, aufgeschlagen, mit leeren Seiten, die auf mich warten.
Ich nähere mich dem Schreibtisch, nehme einen Stift und beginne zu schreiben. Die erste Zeile lautet: „Heute habe ich die falsche Tür geöffnet und die richtige Geschichte gefunden.“