As Time Goes By

Die falsche Adresse

Ich stehe vor diesem Haus und weiß sofort, dass was nicht stimmt. Hausnummer 27, genau wie auf dem Zettel in meiner Hand, aber irgendwas fühlt sich falsch an. Die Fassade ist lindgrün, nicht weiß, wie mir beschrieben wurde. Vielleicht hat er die Farbe gestrichen? Menschen ändern ständig ihre Meinung über solche Dinge. Ich zucke mit den Schultern und drücke auf die Klingel.

Niemand antwortet. Ich warte. Die Sonne brennt mir in den Nacken, und ich spüre, wie kleine Schweißperlen sich unter meinem Hemdkragen bilden. Der Himmel ist so blau, dass es schon fast wehtut, hineinzuschauen. Kein Wölkchen weit und breit. Diese Art von Hitze, die alles verlangsamt, sogar die Gedanken.

Ich drücke noch einmal. Diesmal länger. Irgendwo im Inneren höre ich das entfernte Echo der Klingel. Dann Schritte, die näherkommen. Holzdielen, die unter Gewicht knarren. Die Tür öffnet sich einen Spalt.

„Ja?“ Eine Frau. Nicht der Mann, den ich erwartet hatte. Ihre Stimme klingt vorsichtig, aber nicht unfreundlich. Sie hat graue Haare, zu einem lockeren Knoten gebunden, und trägt eine Brille mit dickem schwarzen Rand. Hinter der Brille Augen, die mich neugierig mustern.

„Entschuldigung, ich suche Hausnummer 27, ich sollte hier jemanden treffen.“

„Das ist Hausnummer 27.“ Sie öffnet die Tür etwas weiter. „Aber ich erwarte niemanden.“

Ich greife in meine Hosentasche und ziehe den zerknitterten Zettel heraus. „Fischerstraße 27, das steht hier.“

Sie lacht kurz auf. Ein angenehmes Lachen, warm und rund. „Ah, da haben wir’s. Dies ist die Fischereistraße. Mit ‚ei‘ in der Mitte. Die Fischerstraße ist am anderen Ende der Stadt.“

Hitze steigt mir ins Gesicht, und ich bin mir sicher, dass meine Ohren jetzt röter sind als die überreifen Tomaten, die im kleinen Vorgarten des Nachbarhauses in der Sonne braten. „Oh. Das… tut mir leid. Eine dumme Verwechslung.“

„Passiert öfter, als Sie denken.“ Sie lehnt sich gegen den Türrahmen. „Die Post verwechselt es auch ständig. Manchmal bekomme ich Briefe für Leute, die ich nie getroffen habe.“

Ich will mich gerade umdrehen und gehen, mich aus dieser peinlichen Situation befreien, da fragt sie: „Wollen Sie ein Glas Wasser? Sie sehen erhitzt aus, und der Weg zur Fischerstraße ist nicht gerade kurz.“

Normalerweise würde ich ablehnen. Fremde Häuser machen mich nervös. Zu viele ungeschriebene Regeln, zu viele Möglichkeiten, etwas falsch zu machen. Aber die Hitze drückt auf meine Schläfen, und mein Mund fühlt sich an wie mit Sandpapier ausgelegt.

„Das wäre sehr nett, danke.“

Sie tritt beiseite, und ich folge ihr ins Innere. Die Temperatur fällt sofort um gefühlt fünf Grad. Die Fensterläden sind halb geschlossen, werfen gestreifte Schatten auf den Holzboden. Es riecht nach altem Holz, Bohnerwachs und etwas Süßlichem, das ich nicht gleich einordnen kann. Vielleicht Vanille.

Die Frau führt mich durch einen schmalen Flur in die Küche. Eine dieser alten Küchen mit Holzschränken und einer emaillierten Spüle. Auf der Fensterbank stehen Töpfe mit Kräutern – Basilikum, Minze, etwas, das nach Thymian aussieht. Die ganze Szene hat etwas zeitloses, als wäre ich durch eine Tür in die Vergangenheit getreten.

„Setzen Sie sich.“ Sie deutet auf einen der Holzstühle am kleinen Küchentisch. „Möchten Sie Eis im Wasser?“

„Ja, gerne.“ Ich lasse mich auf den Stuhl sinken. Er knarrt leicht unter meinem Gewicht. Auf dem Tisch liegt eine aufgeschlagene Zeitung, daneben eine halbleere Tasse Tee.

Sie nimmt ein Glas aus dem Schrank, füllt es mit Wasser aus einem Krug im Kühlschrank und gibt zwei Eiswürfel hinein. Als sie es mir reicht, bemerke ich ihre Hände – schmal, mit langen Fingern, die Haut dünn wie Pergament. An ihrem Ringfinger ein schlichter Goldring.

„Danke.“ Das Wasser ist so kalt, dass es in meinen Zähnen schmerzt, aber es fühlt sich himmlisch an, wie es meine Kehle hinunterläuft.

Sie setzt sich mir gegenüber hin und betrachtet mich neugierig. „Wen wollten Sie denn in der Fischerstraße treffen?“

Ich stelle das Glas ab und wische mir über den Mund. „Einen Bekannten. Er sagte, er hätte etwas für mich. Ein Buch, das ich mir schon lange wünsche.“

„Ein besonderes Buch?“

„Ja.“ Ich zögere. „Es ist vergriffen, eine Sammlung von Traumdeutungen. Ich interessiere mich für Träume.“

Ihre Augenbrauen heben sich leicht. „Träume? Das ist ein faszinierendes Gebiet.“

„Finden Sie?“ Die meisten Menschen reagieren mit höflichem Desinteresse, wenn ich das Thema anspreche.

„Oh ja.“ Sie lehnt sich zurück. „Ich hatte mein Leben lang lebhafte Träume. Manchmal so real, dass ich beim Aufwachen nicht gleich wusste, ob ich noch träume oder schon wach bin.“

Etwas in ihrer Stimme fängt meine Aufmerksamkeit. Eine Art… Resonanz. Als würde sie ein Thema berühren, das unter der Oberfläche vibriert.

„Haben Sie jemals von Orten geträumt, die Sie noch nie besucht haben, die sich aber trotzdem vertraut anfühlen?“

Ihr Blick wird intensiver. „Ständig. Es gibt da eine Stadt in meinen Träumen. Sie ist nirgendwo und überall zugleich. Die Straßen ändern sich jedes Mal, aber ich weiß trotzdem immer genau, wo ich hin muss.“

Ich spüre, wie mein Herzschlag schneller wird. „Und die Leute dort? Kennen Sie sie?“

„Manche ja, manche nein. Aber sie alle kennen mich.“ Sie lächelt, und etwas in diesem Lächeln lässt mich erschauern, trotz der Hitze. „In dieser Stadt bin ich nie verloren. Selbst wenn ich in einer Gasse lande, die ich noch nie gesehen habe.“

Ich stelle mein Glas ab, zu schnell, etwas Wasser schwappt über den Rand. „Ich kenne diese Stadt.“

Jetzt ist es an ihr, überrascht zu wirken. „Sie kennen sie?“

„Ja. Die Gebäude sind nie an der gleichen Stelle, aber irgendwie macht das nichts. Es gibt diesen Platz mit dem Brunnen in der Mitte…“

„…und die steinernen Löwen, die Wasser speien“, vollendet sie meinen Satz.

Wir starren uns an. Der Raum um uns herum scheint sich zu verändern, als würden die Wände atmen.

„Das ist unmöglich“, sage ich schließlich. „Wie können wir vom selben Ort träumen?“

Sie schüttelt langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.“

„Wie meinen Sie das?“

Sie steht auf und geht zu einem der Küchenschränke. Als sie ihn öffnet, sehe ich, dass es kein gewöhnlicher Schrank ist, sondern eine Art Archiv. Schmale Schubladen, ordentlich beschriftet. Sie zieht eine heraus und kommt mit einem Stapel Papiere zurück zum Tisch.

„Ich sammle sie. Die Berichte von Menschen, die sich in Träumen begegnen.“ Sie breitet die Papiere vor mir aus. Ich sehe handgeschriebene Briefe, ausgedruckte E-Mails, sogar ein paar vergilbte Telegramme. „Manche kennen sich im wirklichen Leben, manche nicht. Aber alle berichten von gemeinsamen Traumräumen.“

Ich blättere durch die Dokumente, meine Hände zittern leicht. „Wie lange sammeln Sie das schon?“

„Fast fünfzig Jahre.“ Sie setzt sich wieder. „Es begann, als mein Mann starb. Er besuchte mich in meinen Träumen, nicht als Geist oder Halluzination, sondern als er selbst. Er erzählte mir Dinge, die ich nicht wissen konnte. Details über seinen Tag, bevor er… ging.“

Ich schaue auf, treffe ihren Blick. Da ist kein Wahnsinn in ihren Augen, keine verzweifelte Trauer. Nur eine ruhige Gewissheit.

„Sie glauben, dass Träume… Orte sind? Richtige Orte, die existieren?“

„Ich weiß nicht, ob ‚existieren‘ das richtige Wort ist.“ Sie faltet ihre Hände auf dem Tisch. „Aber ich glaube, dass sie mehr sind als nur elektrische Impulse in unseren Gehirnen. Und ich glaube, dass manche Menschen die Fähigkeit haben, sich dort zu begegnen.“

Ich denke an die Stadt in meinen Träumen, an die Gesichter der Menschen dort, die ich nie im wachen Leben getroffen habe, aber die mich immer wie einen alten Freund begrüßen.

„Haben Sie jemals von jemandem geträumt, der aussieht wie ich?“ Die Frage rutscht mir heraus, bevor ich darüber nachdenken kann.

Sie mustert mich lange, ihre Augen verengen sich leicht hinter den Brillengläsern. „Nein, nicht direkt. Aber es gibt einen Mann in meinen Träumen, der seine Geschichten so erzählt wie Sie sprechen. Mit den gleichen Pausen zwischen den Sätzen.“ Sie neigt den Kopf. „Und manchmal, wenn er lacht, klingt es genau wie Ihr Lachen gerade eben.“

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. „Ich habe nicht gelacht.“

„Doch, haben Sie. Ganz kurz, als ich von den steinernen Löwen sprach.“

Hatte ich? Ich kann mich nicht erinnern.

Draußen zieht eine Wolke vor die Sonne, und der Raum wird für einen Moment dunkler. Die Schatten in den Ecken scheinen tiefer zu werden.

„Gibt es einen Grund, warum Sie nach diesem speziellen Buch über Traumdeutung suchen?“, fragt sie, während sie die Papiere wieder ordentlich zusammenlegt.

Ich zögere. Es ist etwas, worüber ich selten spreche. „Seit ein paar Monaten habe ich einen wiederkehrenden Traum. Ich stehe vor einer Tür, die ich nicht öffnen kann. Ich weiß, dass auf der anderen Seite etwas Wichtiges auf mich wartet, aber egal, wie sehr ich mich anstrenge, die Tür bleibt verschlossen.“

Sie nickt langsam. „Eine klassische Symbolik. Die verschlossene Tür.“

„Ja, aber letzte Woche war der Traum anders. Die Tür war immer noch da, aber diesmal stand jemand daneben. Eine Gestalt, die ich nicht deutlich erkennen konnte. Sie hielt einen Schlüssel in der Hand.“

„Haben Sie den Schlüssel bekommen?“

„Nein. Die Gestalt sagte mir, ich müsste ihn erst finden. In der wachen Welt.“

Die Frau lächelt, ein seltsames, wissendes Lächeln. „Und wie lautet die Adresse in Ihrem Traum? Die Adresse der Tür?“

Ich erstarre. „Woher wissen Sie, dass es eine Adresse gibt?“

„Weil Träume Orte sind“, sagt sie einfach. „Und Orte haben Adressen.“

Mein Mund ist plötzlich wieder trocken, trotz des Wassers. „Fischerstraße 27“, flüstere ich.

Sie nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet. „Nicht Fischereistraße 27.“

„Nein.“

„Aber Sie sind hier gelandet.“

„Ja.“ Ich schaue mich in der Küche um, die plötzlich anders wirkt. Vertrauter. Als wäre ich schon einmal hier gewesen. „Glauben Sie an Zufälle?“

„Ich glaube an Muster“, antwortet sie. „An Verbindungen, die wir nicht sehen können, bis wir den richtigen Blickwinkel einnehmen.“

Sie steht auf und geht zu einem kleinen Sekretär in der Ecke des Raums. Mit einem kleinen Schlüssel, den sie an einer Kette um ihren Hals trägt, öffnet sie eine der Schubladen. Als sie zurückkommt, hält sie ein Buch in den Händen. Es ist alt, der Einband aus abgegriffenem braunem Leder, die Seiten an den Rändern vergilbt.

„Ist das…?“

„Nein, nicht das Buch, das Sie suchen.“ Sie legt es auf den Tisch zwischen uns. „Aber vielleicht ist es das Buch, das Sie finden sollten.“

Ich strecke zögernd die Hand aus, berühre den Einband. Das Leder fühlt sich warm an, fast lebendig unter meinen Fingerspitzen. Als ich es öffne, steigt mir der Geruch von altem Papier und Tinte in die Nase. Die erste Seite ist leer bis auf eine handgeschriebene Widmung:

„Für denjenigen, der die falsche Tür findet.“

Keine Unterschrift, keine weiteren Erklärungen.

„Was ist das für ein Buch?“

„Ein Tagebuch“, sagt sie. „Nicht meins. Es gehörte jemandem, der vor langer Zeit in diesem Haus gelebt hat. Ich fand es hinter einer losen Diele, als ich einzog.“

Ich blättere weiter. Die Seiten sind gefüllt mit einer engen, präzisen Handschrift. Skizzen von Gebäuden, Straßenkarten einer Stadt, die ich sofort erkenne. Die Stadt meiner Träume. Unserer Träume.

„Das kann nicht sein“, murmele ich.

„Und doch ist es so.“ Sie legt ihre Hand auf meine, stoppt mein Blättern. „Dieses Buch ist älter als wir beide. Die Person, die es geschrieben hat, ist längst tot. Und doch träumt sie immer noch. Ihre Stadt ist unsere Stadt geworden.“

Ich schaue auf, in ihre ruhigen grauen Augen. „Warum geben Sie mir das?“

„Weil es an der Zeit ist, dass es weiterwandert. Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe.“ Sie zieht ihre Hand zurück. „Vielleicht finden Sie ja auch, wonach Sie suchen.“

„Den Schlüssel“, sage ich leise. „Der Schlüssel zu der Tür.“

Sie nickt. „Wir werden es herausfinden, nicht wahr? In der Stadt.“

Ich verstehe sofort, was sie meint. Heute Nacht, wenn wir schlafen, wenn wir träumen, werden wir uns dort begegnen. In der Stadt mit den wandernden Straßen und dem Brunnen mit den steinernen Löwen.

„Ich weiß nicht einmal Ihren Namen“, sage ich.

Sie schmunzelt. „Namen sind für die wache Welt. In der Stadt brauchen wir keine Namen.“

Ich schließe das Buch und stecke es in meine Tasche. Es fühlt sich schwerer an, als es aussieht. Als wöge es mehr als nur Papier und Leder.

„Ich sollte gehen“, sage ich. „Mein Bekannter wird warten.“

„Wird er das?“ fragt sie mit einem schiefen Lächeln. „Oder wird er erst dort sein, wenn Sie ankommen?“

Ich weiß keine Antwort darauf. Die Grenzen zwischen Zufall und Bestimmung verschwimmen, genau wie die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit.

Sie begleitet mich zur Tür. Die Hitze draußen trifft mich wie eine Wand, aber sie fühlt sich jetzt anders an. Klarer irgendwie, als hätte sich ein Schleier gelichtet.

„Fischerstraße 27“, sagt sie zum Abschied. „Geradeaus, dann die dritte links, dann immer der Sonne nach.“

Ich drehe mich noch einmal um, bevor ich gehe. „Was ist, wenn ich die Tür öffne? Was ist dahinter?“

Sie lächelt, ein Lächeln voller Geheimnisse. „Das, mein Freund, ist der Traum hinter dem Traum.“

Während ich die Straße hinuntergehe, spüre ich das Gewicht des Buches in meiner Tasche, wie ein Anker in einer Welt, die plötzlich weniger fest erscheint als zuvor. Die Sonne steht hoch am Himmel, wirft kurze, scharfe Schatten. Ich folge ihrer Anweisung – geradeaus, dann die dritte links, dann der Sonne nach.

Und während ich gehe, frage ich mich, ob ich wirklich zur Fischerstraße 27 will oder ob der wahre Ort, den ich suche, erst dann existieren wird, wenn ich heute Nacht die Augen schließe und in die Stadt zurückkehre, wo die steinernen Löwen Wasser speien und die Straßen sich verschieben wie Gedanken im Wind.

Ich frage mich, ob sie dort auf mich warten wird, die Frau ohne Namen, mit dem Schlüssel zu einer Tür, die ich nicht öffnen kann. Oder ob wir uns vielleicht schon hundertmal begegnet sind, in den verschlungenen Gassen jener unmöglichen Stadt, ohne es zu wissen.

Die Antwort liegt irgendwo zwischen hier und dort, zwischen wach und träumend, in jenem Zwischenraum, den das Buch in meiner Tasche zu beschreiben versucht. Und während ich weitergehe, spüre ich, wie die Grenzen meiner Wahrnehmung sich dehnen, wie der Horizont dessen, was ich für möglich halte, sich verschiebt wie die Straßen in meinen Träumen.

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