As Time Goes By

Der vertauschte Mantel

Ich stehe im Eingang eines Cafés, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Es regnet. Nicht stark, aber beharrlich, dieser feine Sprühregen, der die Haut durchnässt, bevor man es überhaupt bemerkt. Ein Tropfen läuft mir vom Haar in den Nacken, kalt und unangenehm. Ich schüttle mich leicht und trete ein.

Der Geruch von Kaffee und etwas Süßem schlägt mir entgegen. Zimt vielleicht, oder Kardamom. Es ist warm hier drinnen, fast zu warm nach der kühlen Nässe draußen. Die Luft fühlt sich dick an, wie ein Tuch, das sich um meine Schultern legt. Mein Mantel – ein dunkelblauer Wollmantel, den ich seit Jahren trage – fühlt sich plötzlich schwer und unnötig an. Die Wolle kratzt am Hals. Ich streife ihn ab und hänge ihn an die Garderobe neben der Tür, zusammen mit einem Dutzend anderer nasser Mäntel. Die Wassertropfen perlen von ihnen ab und bilden kleine Pfützen auf dem Boden. Ein leises Plätschern, kaum hörbar unter dem Stimmengewirr.

Das Café ist voller als ich erwartet hatte. Die Tische sind besetzt mit Menschen, die in Gespräche vertieft sind oder vor Laptops sitzen. Manche starren nur in ihre Tassen, als läge dort am Grund eine Antwort auf eine Frage, die sie sich nicht zu stellen trauen. Die Geräuschkulisse ist ein Gemisch aus leiser Musik – irgendwas Jazziges, das ich nicht erkenne –, Tastaturklappern und gedämpftem Stimmengewirr. Ich suche nach einem freien Platz und entdecke einen kleinen Tisch in der Ecke, neben einem beschlagenen Fenster. Die Scheibe schwitzt, als hätte sie Fieber.

Während ich mich durch die Tische schlängele, nicke ich einem älteren Herrn zu. Keine Ahnung, warum. Vielleicht weil er mich anschaut, als würde er mich kennen. Er trägt eine runde Brille und hat einen weißen Bart, nicht so ein hippes Ding, sondern einen richtigen Großvaterbart. Seine Augen folgen mir, als hätte er auf mich gewartet. Seltsam, wie manche Blicke sich anfühlen, als würden sie durch die Haut dringen. Ich wende mich ab und setze mich an meinen Tisch.

Eine Kellnerin kommt sofort zu mir. Sie lächelt, aber nicht mit den Augen. Die bleiben kalt, berechnend fast. Vielleicht ist sie einfach müde.

„Was darf’s sein?“, fragt sie und wischt sich eine Strähne ihres roten Haars aus dem Gesicht. Es ist so rot, dass es fast unnatürlich wirkt, wie frisch vergossenes Blut auf Schnee.

„Einen Kaffee, bitte. Schwarz.“

Sie nickt und verschwindet. Ich beobachte, wie sie hinter dem Tresen verschwindet, ihre Bewegungen fließend, als würde sie tanzen statt laufen. Ihre Hüften wiegen sich im Takt der Musik, die jetzt lauter zu sein scheint, obwohl niemand am Regler gedreht hat.

Der Regen draußen wird stärker. Die Tropfen schlagen rhythmisch gegen die Scheibe, wie Fingerspitzen, die um Einlass bitten. Ich lehne mich zurück und atme tief durch. Es fühlt sich an, als wäre ich genau dort, wo ich sein sollte, obwohl ich keine Ahnung habe, wo ich eigentlich bin oder wie ich hergekommen bin. War ich auf dem Weg zur Arbeit? Nach Hause? Zu einem Treffen? Die Erinnerung ist verschwommen, wie die Gesichter der anderen Gäste, wenn ich zu lange hinschaue.

Die Kellnerin kehrt mit meinem Kaffee zurück. Die Tasse ist dick und weiß, mit einem kleinen Chip am Rand. Der Kaffee darin ist so schwarz, dass er das Licht zu absorbieren scheint. Ein kleiner Abgrund in Porzellan.

„Danke“, sage ich.

Sie verweilt einen Moment länger als nötig. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen aus, als hätten Sie sich verlaufen.“

Ihre Frage überrascht mich. Normalerweise interessiert es Kellnerinnen einen Scheiß, ob man sich verlaufen hat. „Tue ich das? Vielleicht habe ich das. Aber es fühlt sich richtig an, hier zu sein.“

Sie neigt den Kopf leicht zur Seite, als würde sie versuchen, mich aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Wie ein Vogel, der ein seltsames Insekt inspiziert. „Manchmal sind die besten Orte die, die wir nicht gesucht haben.“ Dann ist sie weg, gleitet zu einem anderen Tisch, als würde sie auf Rollen fahren statt auf Füßen zu gehen.

Ich nippe an meinem Kaffee. Er ist stark und bitter, wärmt mich von innen. Während ich trinke, bemerke ich, dass der ältere Herr mit der runden Brille aufgestanden ist und auf mich zukommt. Er bewegt sich langsam, bedächtig, als hätte er alle Zeit der Welt. Vielleicht hat er die auch. Rentner und so.

„Darf ich mich setzen?“, fragt er. Seine Stimme ist tief und sanft wie fließendes Wasser. Nicht das, was ich erwartet hätte. Ich hatte mit einem Krächzen gerechnet, mit etwas, das zu seinem Alter passt.

Ich zögere einen Moment, nicke dann. Was soll’s. „Natürlich.“

Er lässt sich auf den Stuhl mir gegenüber sinken. Seine Hände – faltig, aber kräftig – umklammern eine Tasse, die der meinen ähnelt, nur dass sie keinen Chip hat. Sein Kaffee ist auch schwarz. Ein Mann mit Geschmack.

„Sie tragen meinen Mantel“, sagt er ohne Umschweife.

Ich blinzele verwirrt. „Wie bitte?“

„Der Mantel, den Sie an die Garderobe gehängt haben. Er gehört mir.“

Ich drehe mich um und schaue zur Garderobe. Es hängen so viele Mäntel dort, dass ich meinen nicht sofort ausmachen kann. Alle dunkel, alle nass. „Das muss ein Irrtum sein. Ich trage diesen Mantel schon seit Jahren.“

Er schmunzelt, als hätte ich einen Witz gemacht. Seine Augen funkeln dabei, als wüsste er etwas, das ich nicht weiß. „Zeit ist relativ, nicht wahr? Besonders in Träumen.“

Etwas in mir wird hellhörig. Ein Kribbeln im Nacken, wie wenn man beobachtet wird. „Träumen?“

„Natürlich. Warum sonst würden Sie in einem Café sitzen, das Sie noch nie zuvor gesehen haben, mit einem Mann, den Sie nicht kennen, und über einen Mantel sprechen, der vielleicht nicht Ihrer ist?“

Ich schaue mich um. Das Café wirkt plötzlich anders. Die Konturen der anderen Gäste scheinen zu verschwimmen, wie bei einem Gemälde, das im Regen nass geworden ist. Nur der ältere Herr bleibt scharf und deutlich. Seine Brille reflektiert das Licht, das von nirgendwo zu kommen scheint.

„Wer sind Sie?“, frage ich. Meine Stimme klingt dünn, selbst in meinen eigenen Ohren.

Er lächelt wieder, ein warmes Lächeln, das seine Augen erreicht. Fältchen bilden sich in den Augenwinkeln, wie kleine Flüsse auf einer Landkarte. „Jemand, der seinen Mantel zurückhaben möchte. Oder vielleicht jemand, der Ihnen helfen will, Ihren zu finden.“

Ich verstehe kein Wort, aber irgendwie macht es trotzdem Sinn. Als würde ein Teil von mir wissen, wovon er spricht, während mein Bewusstsein noch im Dunkeln tappt.

Der Kaffee in meiner Tasse wird kälter. Ich kann es fühlen, ohne hinzuschauen. Die Wärme entweicht, wie Leben aus einem sterbenden Körper. Ich schüttle den Gedanken ab. Zu morbide für einen Regennachmittag.

„Ich verstehe nicht“, sage ich schließlich.

„Das müssen Sie auch nicht. Nicht sofort.“ Er nimmt einen Schluck von seinem Kaffee, der immer noch zu dampfen scheint, obwohl meiner längst kalt ist. „Manche Dinge verstehen wir erst, wenn wir aufhören, sie verstehen zu wollen.“

Klingt wie eine dieser Kalenderweisheiten, die meine Mutter immer in der Küche aufhängt. Sinnlos und tiefgründig zugleich.

Die Musik im Café hat sich verändert. Nicht mehr Jazz, sondern etwas Klassisches. Klavier. Chopin vielleicht. Ich bin mir nicht sicher. Musik war nie mein Ding.

Der alte Mann stellt seine Tasse ab. Das Geräusch ist lauter als es sein sollte, hallt im Raum wider. Einige der verschwommenen Gestalten drehen sich zu uns um, aber ihre Augen sind leer, wie bei Puppen.

„Kommen Sie“, sagt er und steht auf. „Lassen Sie uns Ihren Mantel holen.“

Er geht zur Garderobe. Ich folge ihm, mein Kaffee vergessen. Er greift zielsicher nach einem Mantel – dunkelblau, wie meiner, aber irgendwie anders. Er hält ihn mir hin.

„Dieser gehört Ihnen“, sagt er.

Ich nehme den Mantel entgegen. Er fühlt sich vertraut an, und doch fremd. Wie die Hand eines alten Freundes, den man seit Jahren nicht gesehen hat. Als ich ihn genauer betrachte, bemerke ich kleine Details, die ich nie zuvor gesehen habe: ein kunstvoll eingenähtes Muster am Kragen, ein leichtes Gewicht in der Innentasche.

„Schauen Sie nach“, fordert er mich auf.

Ich greife in die Innentasche und ziehe einen kleinen, abgegriffenen Schlüssel heraus. Er ist alt, aus Messing, mit einem komplizierten Bart. Das Metall ist warm, als hätte jemand ihn lange in der Hand gehalten.

„Was öffnet er?“, frage ich.

Der alte Mann zuckt mit den Schultern. Seine Schultern sind schmal unter seinem eigenen Mantel, den er inzwischen angezogen hat. „Das müssen Sie herausfinden.“

Er nimmt den anderen Mantel – den, den ich für meinen gehalten habe – von der Garderobe und zieht ihn an. Er passt ihm perfekt, als wäre er für ihn gemacht. Vielleicht war er das auch.

„Es war nett, mit Ihnen zu plaudern“, sagt er. „Aber ich muss jetzt gehen. Der Regen hat aufgehört.“

Ich schaue zum Fenster. Tatsächlich ist der Regen verschwunden, und ein schwaches Sonnenlicht dringt durch die Wolken. Die Straße draußen glänzt nass, wie frisch poliertes Silber.

Als ich mich wieder umdrehe, ist der alte Mann bereits auf dem Weg zur Tür. Seine Schritte sind leicht, als würde er schweben.

„Warten Sie!“, rufe ich. „Ich verstehe das alles nicht.“

Er dreht sich noch einmal um. Seine Augen sind jetzt ernst, keine Spur mehr von dem Funkeln. „Mantel an, Schlüssel nehmen, Tür finden. So einfach ist das.“

Dann ist er draußen, verschwindet im plötzlichen Sonnenschein. Ich stehe da, mit dem fremden-vertrauten Mantel in der Hand und dem Schlüssel in der anderen. Das Metall pulsiert leicht, im Rhythmus meines Herzschlags. Oder bildet ich mir das nur ein?

Die Kellnerin taucht neben mir auf. Ihr rotes Haar leuchtet im Licht, das durch die Tür fällt. „Ihr Kaffee wird kalt“, sagt sie.

Ich kehre zu meinem Tisch zurück, lege den Mantel über meinen Stuhl und betrachte den Schlüssel. Das Metall glänzt im Licht, das durch das Fenster fällt. Ich drehe ihn zwischen meinen Fingern und spüre ein seltsames Kribbeln, als würde der Schlüssel leicht vibrieren.

Als ich aufsehe, hat sich das Café verändert. Die Menschen sind verschwunden, die Tische leer. Nur mein Tisch steht noch da, mit der Tasse Kaffee, die immer noch dampft, obwohl sie eben noch kalt war. Die Wände scheinen weiter weg zu sein, der Raum größer. Und am anderen Ende, wo vorher eine gewöhnliche Wand war, steht jetzt eine Tür. Eine alte, schwere Holztür mit komplizierten Schnitzereien.

Ich stehe auf, ziehe den Mantel an – er sitzt wie angegossen, wärmer und leichter als mein alter – und gehe langsam auf die Tür zu. Mit jedem Schritt scheint sie näher zu kommen, obwohl ich das Gefühl habe, auf der Stelle zu treten. Die Luft wird dichter, wie Wasser, durch das ich mich bewegen muss.

Meine Augenlider werden schwer. Der Raum um mich herum verschwimmt, die Konturen lösen sich auf. Ich kämpfe gegen die plötzliche Müdigkeit an, aber es ist, als würde ich in Treibsand versinken. Mein Kopf sinkt nach vorne, meine Augen schließen sich.

Als ich sie wieder öffne, sitze ich an meinem Tisch im Café. Der Kaffee vor mir ist kalt. Durch das Fenster sehe ich, dass es immer noch regnet. Die anderen Gäste sind wieder da, scharf und deutlich. Keine verschwommenen Konturen mehr.

Ich schüttle den Kopf, um die Benommenheit abzuschütteln. Ein Traum. Ich muss eingenickt sein. Zu wenig Schlaf letzte Nacht, zu viel Stress in letzter Zeit.

Aber als ich nach meiner Geldbörse greife, um zu bezahlen, spüre ich etwas in meiner Tasche. Etwas Metallisches, Warmes.

Ein Schlüssel.

Der fremde Mantel

Der Schlüssel liegt schwer in meiner Hand. Messing, abgegriffen, warm. Ich starre ihn an, als könnte er mir Antworten geben. Tut er natürlich nicht. Ist ja nur ein Schlüssel, kein sprechendes Orakel.

Ich zahle meinen Kaffee – die rothaarige Kellnerin nimmt das Geld mit einem Lächeln entgegen, das ihre Augen nicht erreicht – und verlasse das Café. Der Regen hat aufgehört, aber die Luft ist noch feucht, hängt schwer zwischen den Häusern. Meine Schuhe machen dieses schmatzende Geräusch auf dem nassen Asphalt. Ich hasse dieses Geräusch.

Der Mantel fühlt sich seltsam an. Nicht unangenehm, nur… anders. Als würde er nicht richtig zu mir passen, wie ein Anzug, den man für ein Vorstellungsgespräch kauft und dann nie wieder trägt. Ich streiche über den Stoff. Feiner als ich dachte. Teurer wahrscheinlich. Nicht die Art Mantel, die ich mir normalerweise leisten könnte.

Ich bleibe stehen und betrachte mein verschwommenes Spiegelbild in einem Schaufenster. Der Mantel sieht gut aus. Besser als mein alter. Er sitzt perfekt, als wäre er für mich gemacht. Aber das kann nicht sein, oder? Der alte Mann hat gesagt, es sei seiner. Und dann hat er meinen genommen. Falls es überhaupt meiner war.

Ich schüttle den Kopf. Das wird ja immer verwirrender. Vielleicht sollte ich nach Hause gehen und schlafen. Richtig schlafen, nicht dieses Nickerchen-im-Café-Zeug.

Aber der Schlüssel in meiner Hand will nicht ignoriert werden. Er pulsiert leicht, wie ein zweites Herz. Ich drehe ihn im Licht. Der Bart ist kompliziert, altmodisch. Kein Schlüssel für eine moderne Tür. Eher für eine alte Truhe oder einen antiken Schrank.

Ich stecke ihn in die Tasche des Mantels – nicht mein Mantel, erinnere ich mich selbst – und gehe weiter. Die Straßen sind mir vertraut und doch fremd, als hätte jemand die Kulissen meines Lebens leicht verschoben, während ich nicht hingeschaut habe. Die Häuser stehen einen Tick zu weit links, die Straßenlaternen einen Hauch zu niedrig.

An der nächsten Ecke steht ein Antiquitätenladen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Das Schaufenster ist vollgestopft mit altem Kram: vergilbte Bücher, angelaufenes Silber, Uhren, die schon lange keine Zeit mehr anzeigen. Ein Schild an der Tür sagt „Geöffnet“. Die Buchstaben sind verblichen, als hätte die Sonne jahrelang darauf gebrannt.

Ich zögere. Normalerweise würde ich an so einem Laden vorbeigehen. Ich bin nicht der Typ für Antiquitäten. Aber heute ist nichts normal. Also drücke ich die Tür auf. Eine Glocke bimmelt irgendwo im Inneren.

Der Laden riecht nach altem Papier, Staub und etwas Süßlichem, das ich nicht identifizieren kann. Vielleicht Verfall. Es ist düster hier drinnen, nur ein paar Lampen mit gelben Schirmen spenden Licht. Die Regale sind vollgestopft mit Kram, der Boden mit Teppichen ausgelegt, die ihre besten Tage vor Jahrzehnten hatten.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Die Stimme lässt mich zusammenzucken. Ein Mann steht hinter einem Tresen, den ich vorher nicht bemerkt habe. Er ist alt, aber nicht so alt wie der Mann aus dem Café. Sein Gesicht ist kantig, die Haut ledrig, als hätte er zu viel Zeit in der Sonne verbracht. Seine Augen sind hell, fast durchsichtig.

„Ich… ich schaue mich nur um“, sage ich.

Er nickt, als hätte ich etwas Tiefgründiges gesagt. „Natürlich. Manchmal findet man Dinge, die man nicht gesucht hat.“

Die gleichen Worte wie die Kellnerin. Seltsamer Zufall. Oder kein Zufall. Ich bin mir bei nichts mehr sicher.

Ich schlendere durch den Laden, lasse meine Finger über staubige Buchrücken gleiten, über kaltes Metall und glattes Porzellan. Nichts spricht mich besonders an. Bis ich in eine Ecke komme, die noch dunkler ist als der Rest des Ladens.

Dort steht ein Kleiderschrank. Groß, aus dunklem Holz, mit Schnitzereien, die an die Tür in meinem Traum erinnern. Ich trete näher. Die Schnitzereien zeigen Szenen, die mir seltsam vertraut vorkommen: ein Café im Regen, ein alter Mann mit einer Brille, ein Schlüssel.

Mein Herz schlägt schneller. Ich greife in die Tasche des Mantels und ziehe den Schlüssel heraus. Er fühlt sich jetzt noch wärmer an, fast heiß.

„Ein interessantes Stück, nicht wahr?“

Der Ladenbesitzer ist neben mir aufgetaucht, lautlos wie ein Geist. Ich zucke zusammen, schon wieder.

„Ja“, sage ich. „Sehr… detailliert.“

„Aus dem späten 19. Jahrhundert. Man sagt, er gehörte einem Uhrmacher, der besessen davon war, Zeit zu manipulieren.“ Er lächelt dünn. „Natürlich nur eine Geschichte.“

Ich betrachte den Schrank genauer. Es gibt ein Schloss, genau auf Höhe meiner Brust. Ein altes, kompliziertes Schloss aus Messing.

„Ist er… zu verkaufen?“, frage ich, obwohl ich mir so einen Schrank weder leisten kann noch Platz dafür habe.

Der Mann zuckt mit den Schultern. „Alles hier ist zu verkaufen. Für den richtigen Preis.“

„Und was wäre der richtige Preis?“

Er betrachtet mich, seine hellen Augen scheinen durch mich hindurchzusehen. „Das kommt darauf an, was Sie damit vorhaben.“

Ich runzele die Stirn. Was für eine seltsame Antwort. „Ich würde ihn in meine Wohnung stellen. Wie man das eben mit Möbeln macht.“

Er lacht, ein trockenes, raschelndes Geräusch wie Herbstlaub im Wind. „Natürlich. Aber dieser Schrank… er ist mehr als nur ein Möbelstück. Er ist eine Tür.“

Mein Mund wird trocken. „Eine Tür?“

„Zu was, hängt vom Betrachter ab.“ Er deutet auf den Schlüssel in meiner Hand. „Sie haben bereits den Schlüssel, wie ich sehe.“

Ich starre ihn an. „Woher wissen Sie…?“

„Ich weiß viele Dinge.“ Er macht eine vage Handbewegung. „Der Mantel steht Ihnen gut, übrigens. Besser als seinem vorherigen Besitzer.“

Ich trete einen Schritt zurück. Das wird mir zu unheimlich. „Ich sollte gehen.“

„Wie Sie wünschen.“ Er neigt den Kopf. „Aber der Schrank… er kostet nichts. Für Sie. Er wartet schon lange auf Sie.“

„Das ergibt keinen Sinn“, sage ich, aber meine Stimme klingt unsicher, selbst in meinen eigenen Ohren.

„Tut es das nicht?“ Er lächelt wieder, zeigt dabei Zähne, die zu weiß und zu gerade sind für sein Gesicht. „Versuchen Sie den Schlüssel.“

Ich zögere. Alles in mir schreit, dass ich gehen sollte. Dass das alles zu seltsam ist. Aber meine Hand bewegt sich wie von selbst. Ich führe den Schlüssel zum Schloss.

Er gleitet hinein, als wäre er dafür gemacht. Was er natürlich ist.

Ich drehe den Schlüssel. Das Schloss klickt, ein sattes, befriedigendes Geräusch. Die Tür des Schranks schwingt auf, langsam, als würde sie gegen einen Widerstand ankämpfen.

Dahinter ist nicht, wie ich erwartet hatte, das Innere eines Schranks. Kein leerer Raum, keine Kleiderstange. Stattdessen sehe ich einen Korridor, der sich in die Ferne erstreckt. Die Wände sind mit verblichener Tapete bedeckt, der Boden mit abgenutztem Parkett. Lampen an den Wänden spenden ein schwaches, gelbliches Licht.

Ich trete zurück, stoße gegen ein Regal. Etwas fällt herunter und zerbricht auf dem Boden. Ich achte nicht darauf.

„Was zum Teufel ist das?“, flüstere ich.

Der Ladenbesitzer steht neben mir, sein Gesicht ausdruckslos. „Wie ich sagte: eine Tür. Zu was, hängt von Ihnen ab.“

„Das ist unmöglich.“

„Ist es das?“ Er deutet auf den Korridor. „Sieht ziemlich real aus für mich.“

Ich starre in den Korridor. Er sieht tatsächlich real aus. Zu real. Ich kann sogar den Geruch wahrnehmen: alt, staubig, mit einem Hauch von etwas Blumigem. Lavendel vielleicht.

„Was ist auf der anderen Seite?“, frage ich.

„Das müssen Sie selbst herausfinden.“ Er tritt zurück. „Der Mantel wird Sie warm halten. Es kann kalt werden, dort drüben.“

Ich schaue an mir herunter. Der Mantel – nicht mein Mantel, erinnere ich mich wieder – scheint dunkler geworden zu sein, fast schwarz statt dunkelblau. Und schwerer, als würde er sich gegen die Schwerkraft stemmen.

„Ich kann da nicht hineingehen“, sage ich. „Das ist verrückt.“

„Natürlich können Sie.“ Er klingt fast gelangweilt. „Sie haben den Schlüssel. Sie haben den Mantel. Sie haben die Tür gefunden. Was fehlt noch?“

„Mut?“, schlage ich vor, halb im Scherz.

Er lacht nicht. „Mut haben Sie genug. Was Ihnen fehlt, ist Klarheit.“

„Klarheit worüber?“

„Darüber, was Sie auf der anderen Seite suchen.“

Ich denke nach. Was suche ich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, warum ich in diesen Laden gekommen bin. Oder warum ich den Schlüssel ausprobiert habe. Nichts davon ergibt Sinn.

Und doch… der Korridor ruft mich. Ich spüre es wie ein Ziehen in der Brust. Als würde etwas auf der anderen Seite auf mich warten. Etwas Wichtiges.

„Wenn ich durchgehe“, sage ich langsam, „komme ich dann wieder zurück?“

Der Ladenbesitzer zuckt mit den Schultern. „Das hängt davon ab, ob Sie zurückkommen wollen.“

Keine besonders beruhigende Antwort.

Ich stehe da, unentschlossen. Der Korridor wartet. Der Schlüssel in meiner Hand pulsiert im Rhythmus meines Herzschlags. Der Mantel fühlt sich schwerer an, als würde er mich nach unten ziehen. Oder nach vorne, in den Korridor hinein.

„Tick, tock“, sagt der Ladenbesitzer. „Zeit vergeht. Auch wenn man sie manchmal nicht bemerkt.“

Ich hole tief Luft. Was soll’s. Wenn das ein Traum ist, wache ich schon irgendwann auf. Und wenn nicht… nun, dann wird es interessant.

Ich trete durch die Tür des Schranks, in den Korridor hinein. Die Luft ist kühl, aber nicht unangenehm. Der Mantel hält mich warm, wie der Ladenbesitzer gesagt hat. Meine Schritte hallen auf dem Parkett wider.

Ich drehe mich um, um einen letzten Blick auf den Laden zu werfen. Aber hinter mir ist keine Tür mehr. Nur der Korridor, der sich in die andere Richtung erstreckt, endlos, wie es scheint.

„Na toll“, murmele ich. „Jetzt stecke ich wirklich in der Scheiße.“

Ich taste nach dem Schlüssel in meiner Tasche. Er ist immer noch da, immer noch warm. Das beruhigt mich ein wenig. Wenn es eine Tür hinein gab, muss es auch eine hinaus geben. Und ich habe den Schlüssel.

Ich gehe den Korridor entlang. Die Lampen an den Wänden flackern leicht, als würden sie von einem unsichtbaren Wind bewegt. Es gibt Türen zu beiden Seiten, alle geschlossen. Ich versuche eine zu öffnen, aber sie ist verschlossen. Ich probiere den Schlüssel, aber er passt nicht.

Weiter vorne gabelt sich der Korridor. Ich bleibe stehen, unschlüssig. Links oder rechts? Beide Wege sehen identisch aus. Ich entscheide mich für links, aus keinem besonderen Grund.

Der neue Korridor ist anders. Die Tapete hier ist frischer, die Farben lebendiger. Die Lampen sind heller. Und es gibt Bilder an den Wänden. Ich bleibe stehen, um sie zu betrachten.

Das erste zeigt ein Café im Regen. Genau wie das Café, in dem ich heute war. Ich erkenne sogar den Tisch, an dem ich gesessen habe. Aber ich bin nicht auf dem Bild. Stattdessen sitzt dort eine Frau. Sie hat langes dunkles Haar und trägt ein helles Kleid. Sie schaut aus dem Fenster, auf den Regen. Ihr Gesicht ist mir seltsam vertraut, obwohl ich mir sicher bin, sie noch nie gesehen zu haben.

Das nächste Bild zeigt einen Garten. Üppig, grün, mit weißen Kieswegen und einem Pavillon in der Mitte. Auf den Stufen des Pavillons sitzt dieselbe Frau. Sie lächelt, als würde sie auf jemanden warten.

Das dritte Bild zeigt einen See. Das Wasser ist spiegelglatt, reflektiert den Himmel so perfekt, dass man kaum erkennen kann, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Am Ufer liegt ein kleines Ruderboot. Die Frau sitzt darin, die Ruder in der Hand, bereit abzulegen.

Ich gehe weiter, betrachte Bild um Bild. Sie alle zeigen verschiedene Orte, aber immer ist die Frau darauf. Manchmal allein, manchmal mit anderen Menschen. Auf einem Bild steht sie neben dem alten Mann aus dem Café. Sie lachen beide über etwas, das ich nicht sehen kann.

Am Ende des Korridors hängt ein besonders großes Bild. Es zeigt einen Kleiderschrank, genau wie den, durch den ich gekommen bin. Die Tür steht offen. Davor steht die Frau, den Rücken zu mir gewandt, als würde sie hineinschauen. Sie trägt einen Mantel. Einen dunkelblauen Mantel, der genau wie meiner aussieht.

Nein, nicht meiner. Der Mantel des alten Mannes. Den ich jetzt trage.

Unter dem Bild ist eine kleine Messingplatte angebracht. Darauf steht ein Name: „Elisabeth“.

Ich strecke die Hand aus, berühre das Bild. Die Oberfläche fühlt sich seltsam an, nicht wie Leinwand oder Papier. Eher wie… Wasser. Meine Finger durchdringen die Oberfläche, als wäre sie flüssig.

Ich ziehe meine Hand zurück, erschrocken. Ein Tropfen hängt an meinen Fingerspitzen, silbrig wie Quecksilber. Er fällt zu Boden, macht ein leises Plätschern, das viel zu laut klingt in der Stille des Korridors.

Wo der Tropfen den Boden berührt hat, beginnt sich etwas zu verändern. Der Parkettboden wird weich, wellig, wie die Oberfläche eines Teichs, in den man einen Stein geworfen hat. Die Wellen breiten sich aus, erfassen die Wände, die Decke. Alles um mich herum beginnt zu schwanken, zu verschwimmen.

Ich greife nach Halt, aber es gibt nichts, woran ich mich festhalten könnte. Die Bilder an den Wänden lösen sich auf, werden zu farbigen Schlieren. Der Boden unter meinen Füßen gibt nach, ich sinke ein, als würde ich in Treibsand stehen.

Panik steigt in mir auf. Ich versuche zu schreien, aber kein Laut kommt über meine Lippen. Die Welt um mich herum zerfließt, wird zu einem Strudel aus Farben und Formen.

Und dann ist alles schwarz.

Als ich die Augen öffne, liege ich auf dem Boden des Antiquitätenladens. Der Ladenbesitzer steht über mir, sein Gesicht ausdruckslos.

„Willkommen zurück“, sagt er.

Ich setze mich auf, mein Kopf dröhnt. „Was ist passiert?“

„Sie sind ohnmächtig geworden. Direkt nachdem Sie den Schrank geöffnet haben.“ Er reicht mir ein Glas Wasser. „Trinken Sie. Sie sehen blass aus.“

Ich nehme das Glas, trinke einen Schluck. Das Wasser schmeckt seltsam, metallisch. „Ich war… ich war in einem Korridor. Mit Bildern.“

Er nickt, als wäre das die normalste Sache der Welt. „Ja, das passiert manchmal. Der Schrank hat diesen Effekt auf manche Menschen.“

„Welchen Effekt?“

„Er zeigt ihnen Dinge. Dinge, die waren, die sind oder die sein könnten.“ Er nimmt das leere Glas zurück. „Was haben Sie gesehen?“

Ich erzähle ihm von dem Korridor, den Bildern, der Frau namens Elisabeth. Von dem Mantel, der wie meiner aussah. Von dem Bild des Schranks und der seltsamen, flüssigen Oberfläche.

Er hört zu, ohne zu unterbrechen. Als ich fertig bin, nickt er wieder. „Interessant. Sehr interessant.“

„Was bedeutet das alles?“, frage ich.

„Das müssen Sie selbst herausfinden.“ Er hilft mir auf die Füße. „Der Schrank gehört Ihnen, wenn Sie ihn wollen. Wie gesagt, er wartet schon lange auf Sie.“

Ich schaue zum Schrank hinüber. Die Tür ist geschlossen, das Schloss glänzt im schwachen Licht. „Ich… ich weiß nicht.“

„Nehmen Sie ihn“, sagt der Ladenbesitzer. „Er gehört zu Ihnen, wie der Mantel und der Schlüssel.“

„Aber ich kann ihn nicht mitnehmen. Er ist zu groß für meine Wohnung. Und wie sollte ich ihn transportieren?“

Er lächelt, zeigt wieder diese zu weißen Zähne. „Oh, machen Sie sich darüber keine Sorgen. Der Schrank findet seinen Weg. Er wird da sein, wenn Sie nach Hause kommen.“

Ich schüttle den Kopf. Das wird immer verrückter. „Das ist unmöglich.“

„Ist es das?“ Er deutet auf den Mantel, den ich trage. „Ist dieser Mantel nicht auch unmöglich? Und der Schlüssel? Und doch sind sie hier, real, greifbar.“

Er hat recht, irgendwie. Nichts an diesem Tag ergibt Sinn. Warum sollte der Schrank die Ausnahme sein?

„In Ordnung“, sage ich schließlich. „Ich nehme ihn.“

„Ausgezeichnet.“ Er reibt sich die Hände. „Dann ist das erledigt.“

„Wollen Sie… keine Bezahlung?“

Er winkt ab. „Wie ich sagte, für Sie kostet er nichts. Er gehört Ihnen bereits.“

Ich nicke, zu verwirrt, um zu argumentieren. „Danke, denke ich.“

„Gern geschehen.“ Er führt mich zur Tür. „Und nun sollten Sie gehen. Es wird spät, und Sie haben noch einen weiten Weg vor sich.“

Ich trete hinaus auf die Straße. Die Sonne steht tief, wirft lange Schatten. Wie lange war ich in dem Laden? Es fühlt sich an, als wären nur Minuten vergangen, aber der Stand der Sonne sagt etwas anderes.

Ich drehe mich um, um mich zu verabschieden, aber der Laden ist verschwunden. An seiner Stelle ist eine leere Fassade, mit Brettern vor den Fenstern und einem „Zu vermieten“-Schild an der Tür.

Ich reibe mir die Augen, aber das Bild ändert sich nicht. Der Laden ist weg, als hätte er nie existiert.

Ich taste nach dem Schlüssel in meiner Tasche. Er ist immer noch da, immer noch warm. Der Mantel auf meinen Schultern fühlt sich schwerer an, aber auch irgendwie… richtiger. Als würde er jetzt zu mir gehören.

Ich mache mich auf den Heimweg, mein Kopf voller Fragen, auf die ich keine Antworten habe. Die Straßen sind wieder normal, die Häuser stehen dort, wo sie immer standen, die Straßenlaternen haben die richtige Höhe.

Als ich meine Wohnung erreiche, ist es bereits dunkel. Ich schließe die Tür auf, trete ein, schalte das Licht an.

Und da steht er. Der Schrank. Groß, aus dunklem Holz, mit Schnitzereien, die Szenen zeigen, die mir jetzt vertraut sind. Er steht an der Wand meines Wohnzimmers, als hätte er schon immer dort gestanden.

Ich gehe langsam auf ihn zu, berühre das Holz. Es ist warm, fast lebendig unter meinen Fingern. Das Schloss glänzt im Licht der Lampe, als würde es mich einladen, den Schlüssel zu benutzen.

Aber nicht heute. Heute bin ich müde, verwirrt, überwältigt. Ich hänge den Mantel über einen Stuhl, lege den Schlüssel auf den Tisch daneben und gehe ins Bett.

Morgen ist auch noch ein Tag. Morgen werde ich vielleicht Antworten finden. Oder mehr Fragen.

Bevor ich einschlafe, werfe ich noch einen Blick auf den Mantel und den Schlüssel. Sie scheinen im Mondlicht, das durch das Fenster fällt, zu leuchten. Als würden sie auf mich warten. Auf morgen. Auf die nächste Tür, die ich öffnen werde.

Der fremde Mantel ist jetzt meiner. Und ich beginne zu ahnen, dass er mehr ist als nur ein Kleidungsstück. Viel mehr.

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