Der Rheinblick

Ich sitze jeden Morgen hier. Seit dreiundzwanzig Jahren. Immer am gleichen Tisch, immer der gleiche Kaffee, immer dasselbe Fenster. Draußen der Fluss, träge und grau wie ein alter Arbeitshund. Der Himmel heute nicht besser. Die Bedienung, die Lisa, schüttet mir wortlos nach. Kennt mich schon, fragt nicht mehr.
Mein Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Aufgequollene Falten, Säcke unter den Augen. Ich seh aus wie’n alter Gepäckträger vom Hauptbahnhof. Fünfundsechzig Jahre Schwerkraft zerren an einem runter, das ist einfach so.
Am Nachbartisch quatscht ein junges Paar. Die sind laut, die lachen viel. Die Frau hat so ein Lachen, das klingt wie Vogelgezwitscher. Als ich so alt war wie die, da hab ich auch noch viel gelacht. Mit Elisabeth. Die ist jetzt weg. Schon lange.
„Willste noch einen?“ Lisa steht plötzlich neben mir, Kaffeekanne in der Hand. Ihr Kittel hat einen Fleck am Ärmel, wahrscheinlich Marmelade vom Frühstücksgeschäft.
„Ne, reicht.“ Meine Stimme klingt rau. Hab heute noch nicht viel geredet. Mit wem auch.
Die Sonne kriecht langsam über die Häuser am anderen Ufer. Das Licht bricht sich im Wasser, tanzt über die Wellen. Der Rhein steht hoch. Es hat viel geregnet letzte Woche. Ich weiß sowas. Ich seh’s jeden Tag, wie der Fluss atmet, mal tief, mal flach.
Ein Schiff zieht vorbei, ein Frachter mit niederländischer Flagge. Fährt bestimmt nach Duisburg in den Hafen. Manchmal frage ich mich, wo die Schiffe alle herkommen, wo sie hinfahren. Früher hab ich davon geträumt, einfach mal mitzufahren. Einfach weg. Hab’s nie gemacht.
„Guten Morgen, Herr Brinkmann.“ Der alte Köhler von der Sparkasse nickt mir zu. Der trägt jeden Tag denselben grauen Anzug, als hätte er sieben Stück davon im Schrank hängen. Vielleicht hat er das ja auch.
„Morgen.“ Ich heb meine Tasse kurz hoch. Mehr Konversation muss nicht sein, wir kennen uns seit zwanzig Jahren, haben aber nie richtig miteinander geredet. So läuft das hier.
Ich spür plötzlich eine Unruhe in mir. Als wäre was anders heute. Irgendwas liegt in der Luft. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Mein Kaffee schmeckt bitter. Hatte wohl zu lange gezogen.
Der Brief von Thomas liegt noch zu Hause auf dem Küchentisch. Mein Sohn. Kommt morgen zu Besuch, schreibt er. Nach acht Jahren. Hat jetzt Familie in Hamburg, zwei Kinder, die ich noch nie gesehen hab. Was soll ich dem erzählen? Dass ich jeden Tag hier sitze und auf den Fluss starre? Dass ich seine Mutter immer noch vermisse, obwohl sie mich verlassen hat? Dass ich manchmal nachts wach liege und mir vorstelle, wie mein Leben anders hätte laufen können?
Eine alte Frau mit Gehstock wackelt an meinem Tisch vorbei, ihre Handtasche fest unter den Arm geklemmt. Die hat Angst bestohlen zu werden, hier im Café Rheinblick, wo jeder jeden kennt. Lächerlich. Aber so sind die Leute hier. Misstrauisch. Ich bin wahrscheinlich genauso.
„Kannste mir mal die Butter rüberreichen?“ Der Mann am Nebentisch deutet auf meine Ecke. Ist wohl neu hier. Die Stammgäste wissen, dass man mich in Ruhe lässt.
Ich schieb ihm die Butter rüber, ohne was zu sagen.
„Danke, Mann.“ Er lächelt. Hat nur noch vier Zähne vorne. „Schöner Blick hier, wa? Komm extra jeden Morgen von Nippes hierher gefahren.“
Ich brumme was Unverständliches. Will eigentlich nicht reden, aber irgendwas an dem Kerl macht mich neugierig. Vielleicht seine zerknitterte Jacke, die aussieht, als hätte er darin geschlafen.
„Früher bin ich selbst gefahren“, sagt er und deutet auf den Fluss. „Zwanzig Jahre auf’m Schubverband. Kennt jeden Stein in diesem Fluss, der alte Karl.“ Er klopft sich auf die Brust.
„Mein Vater war auch Binnenschiffer“, höre ich mich plötzlich sagen. Die Worte überraschen mich selbst.
„Ja?“ Seine Augen leuchten auf. „Ist was Besonderes, oder? Das Wasser. Zieht einen immer wieder zurück.“
Ich nicke langsam. Ja, das Wasser zieht einen zurück. Deswegen sitze ich hier. Jeden Tag. Der Fluss ist das Einzige, was bleibt, während alles andere sich verändert. Menschen kommen und gehen, Häuser werden abgerissen, neue gebaut. Aber der Rhein fließt weiter, gleichgültig gegenüber unseren kleinen Leben.
Draußen fängt es an zu nieseln. Feine Tropfen tanzen auf der Wasseroberfläche. Ein paar Touristen rennen zum Schutz unter die Markise des Eiscafés gegenüber. Ich mag den Regen. Er wäscht die Stadt sauber.
„Dein Sohn kommt morgen, Manfred“, sagt Lisa, als sie meinen leeren Teller abräumt. Natürlich weiß sie das. In diesem Café weiß jeder alles über jeden.
„Hmm.“
„Freu dich doch mal.“ Sie schüttelt den Kopf. „Is doch schön.“
Ich zucke mit den Schultern. Freuen. Das hab ich fast verlernt. Erwartungen führen nur zu Enttäuschungen. Das hat das Leben mich gelehrt.
Karl, der alte Schiffer, steht auf, klopft sich die Krümel von der Hose. „Man sieht sich“, sagt er und zwinkert mir zu. Als wären wir alte Freunde.
Ich schau wieder raus. Ein Schwarm Möwen kreist über dem Wasser, taucht ab und auf, schreit dabei wie verrückt. Suchen nach Futter. Leben ist Überleben. So einfach ist das.
In der Spiegelung der Scheibe seh ich, wie Lisa mit dem jungen Koch tuschelt. Die beiden werfen immer wieder Blicke zu mir rüber. Reden über mich. Wahrscheinlich darüber, was für ein verbitterter alter Sack ich bin. Sollen sie doch.
Meine Finger trommeln auf der Tischplatte. Der Brief von Thomas. Was will er wirklich? Geld kann’s nicht sein, der verdient gut als Ingenieur. Schlechtes Gewissen vielleicht? Oder will er einfach, dass seine Kinder ihren Opa kennenlernen? Einen Opa, der nichts zu erzählen hat außer alten Geschichten vom Fluss.
Die Tür geht auf, kalte Luft strömt rein. Eine junge Frau kommt herein, schüttelt ihren Regenschirm aus. Irgendwas an ihr erinnert mich an Elisabeth, vielleicht die Art, wie sie den Kopf hält. Ein kurzer Stich in der Brust. Manche Wunden heilen nie ganz.
Ich greif nach meiner Brieftasche, leg ein paar Münzen auf den Tisch. Immer genau abgezählt, immer dasselbe Trinkgeld. Lisa wird die Münzen nehmen, ohne nachzuzählen. Vertrauen nach dreiundzwanzig Jahren.
Als ich aufstehe, knacken meine Knie. Verdammtes Alter. Der Regen ist stärker geworden, trommelt jetzt gegen die Scheiben. Ich zieh meinen Mantel an, den alten braunen, der schon seit Jahren nach Mottenkugeln riecht.
„Bis morgen, Manfred“, ruft Lisa mir nach.
Ich heb kurz die Hand zum Gruß, ohne mich umzudrehen. Ja, bis morgen. Und übermorgen. Und all die Tage danach. Der Fluss wird da sein, das Café wird da sein, und ich werde da sein. Ein weiterer Tag im Leben eines Mannes, der auf etwas wartet, ohne zu wissen, was es ist.
Draußen spannt sich der Himmel grau über die Stadt. Ich stell den Kragen hoch und geh los, dem Regen entgegen. Ein paar Schritte weiter dreh ich mich noch mal um, schau zurück zum Café. Durch die beschlagene Scheibe seh ich meinen Platz, jetzt leer. Morgen werd ich wieder dort sitzen. Mit Thomas. Vielleicht ist das die Veränderung, die in der Luft liegt. Vielleicht wird alles anders.
Oder vielleicht auch nicht. Der Fluss fließt weiter, egal was passiert.
Ich geh die Straße runter, während der Regen meine Spuren hinter mir wegwäscht.