As Time Goes By

Der Mann im roten Mantel

Das Café riecht nach frisch gemahlenem Kaffee und diesem speziellen Duft von altem Holz. Ich sitze am Fenster, schaue raus auf die Straße, die sich wie ein graues Band durch die Stadt zieht. Draußen ist es grau, hier drinnen warm. Die Heizung knackt leise vor sich hin.

Der Mann am Nebentisch trinkt seinen Espresso in kleinen Schlucken. Schwarzer Anzug, weiße Krawatte, Hände wie ein Pianist. Er schaut mich an, nickt kurz. Ich nicke zurück. So macht man das hier.

„Entschuldigung,“ sagt er plötzlich. Seine Stimme ist tief, ruhig. „Sie sehen aus, als könnten Sie mir helfen.“

Ich hebe die Augenbrauen. „Wobei denn?“

Er deutet nach draußen. Dort steht ein Mann in einem roten Mantel. Einfach so. Mitten auf der Straße. Die Autos fahren um ihn herum, als wäre er unsichtbar. Aber da ist er. Groß, schlank, der rote Mantel weht im Wind.

„Den sehen Sie auch?“ fragt der Mann am Nebentisch.

„Klar sehe ich den.“

„Gut. Dann sind Sie der Richtige.“

Er steht auf, legt Geld auf den Tisch. Zu viel Geld für einen Espresso. „Kommen Sie. Er wartet.“

Ich folge ihm. Warum nicht? Draußen ist die Luft kalt und riecht nach Regen. Der Mann im roten Mantel dreht sich um, als wir näher kommen. Sein Gesicht ist freundlich, aber alt. Sehr alt.

„Endlich,“ sagt er. „Ich warte schon eine Ewigkeit.“

„Worauf?“ frage ich.

„Darauf, dass jemand fragt.“ Er lächelt. „Die meisten sehen mich gar nicht. Die anderen tun so, als wären sie blind.“

Der Mann im schwarzen Anzug ist verschwunden. Einfach weg. Als hätte es ihn nie gegeben.

„Was ist mit dem anderen?“

„Welcher andere?“ Der Mann im roten Mantel schaut mich verwirrt an.

Ich drehe mich um. Das Café ist weg. Stattdessen stehe ich vor einem riesigen Tor aus schwarzem Metall. Dahinter erstreckt sich ein Park, so grün, dass es fast weh tut in den Augen.

„Kommen Sie,“ sagt der Mann im roten Mantel. „Es wird Zeit.“

Das Tor öffnet sich mit einem leisen Knarren. Wir gehen hinein. Der Kies knirscht unter unseren Schuhen. Überall blühen Rosen, rote, weiße, gelbe. Der Duft ist intensiv, fast betäubend.

„Schön hier,“ sage ich.

„Ja. Aber nicht ewig.“

„Wie meinen Sie das?“

Er bleibt stehen, dreht sich zu mir um. „Sehen Sie die Frau dort drüben?“

Ich schaue hin. Da sitzt eine Frau auf einer Bank. Mittleren Alters, braune Haare, ein blaues Kleid. Sie weint.

„Was ist mit ihr?“

„Sie hat etwas verloren. Etwas sehr Wichtiges.“

„Was denn?“

„Das müssen Sie herausfinden.“

Ich gehe zu der Frau. Ihre Tränen glänzen in der Sonne wie kleine Diamanten.

„Kann ich Ihnen helfen?“ frage ich.

Sie schaut auf. Ihre Augen sind grün, sehr grün.

„Mein Sohn,“ sagt sie. „Ich habe meinen Sohn verloren.“

„Hier im Park?“

„Nein. Vor langer Zeit. Vor sehr langer Zeit.“

Ich setze mich neben sie. Die Bank ist warm von der Sonne.

„Erzählen Sie.“

„Er war drei Jahre alt. Blond, blaue Augen. Er spielte im Garten, und dann… dann war er weg.“

„Haben Sie ihn gesucht?“

„Überall. Jahrelang. Jahrzehntelang.“

Ich schaue mich um. Der Park ist riesig, voll von Wegen, die sich schlängeln und verzweigen. Irgendwo hier muss er sein.

„Kommen Sie,“ sage ich. „Wir suchen ihn.“

Wir gehen zusammen. Der Mann im roten Mantel folgt uns, schweigend. Die Wege führen uns tiefer in den Park hinein. Hier ist es kühler, schattiger. Die Bäume sind alt und groß, ihre Äste bilden ein grünes Dach über uns.

Plötzlich höre ich Lachen. Kinderlachen. Hell und unschuldig.

„Da,“ sage ich. „Hören Sie das?“

Die Frau hält den Atem an. „Das ist… das ist seine Stimme.“

Wir folgen dem Lachen. Es führt uns zu einer Lichtung. Dort spielt ein kleiner Junge mit einem roten Ball. Blond, blaue Augen. Genau wie sie gesagt hat.

„Oh Gott,“ flüstert die Frau. „Das ist er. Das ist mein Sohn.“

Sie läuft zu ihm. Er schaut auf, lächelt.

„Mama,“ sagt er. „Ich habe auf dich gewartet.“

Sie nimmt ihn in die Arme, weint und lacht gleichzeitig.

„Ich habe dich gesucht,“ sagt sie. „So lange habe ich dich gesucht.“

„Ich weiß, Mama. Aber jetzt bin ich da.“

Ich schaue zu dem Mann im roten Mantel. Er nickt zufrieden.

„Gut gemacht,“ sagt er.

„Was passiert jetzt?“ frage ich.

„Jetzt können sie zusammen gehen.“

„Wohin?“

„Dahin, wo sie hingehören.“

Die Frau und der Junge kommen zu uns. Sie strahlen beide.

„Danke,“ sagt sie. „Vielen, vielen Dank.“

„Gern geschehen.“

Sie gehen Hand in Hand davon, werden kleiner und kleiner, bis sie verschwinden.

„Und jetzt?“ frage ich den Mann im roten Mantel.

„Jetzt zeige ich Ihnen etwas anderes.“

Der Park verändert sich. Die Bäume werden zu Häusern, der Kies zu Asphalt. Wir stehen wieder auf einer Straße. Aber diesmal ist es eine andere Stadt. Die Häuser sind alt, mit roten Ziegeldächern. Es riecht nach Meer.

„Wo sind wir?“

„Das spielt keine Rolle. Hier gibt es jemanden, der Ihre Hilfe braucht.“

Er deutet auf ein kleines Geschäft. Im Schaufenster stehen alte Bücher, Kerzen, seltsame Gegenstände. Ein Schild hängt schief in der Tür: „Geschlossen“.

„Der Besitzer ist in Schwierigkeiten,“ sagt der Mann im roten Mantel.

„Was für Schwierigkeiten?“

„Gehen Sie hinein. Sie werden es sehen.“

Die Tür ist nicht verschlossen. Eine kleine Glocke läutet, als wir eintreten. Das Geschäft ist dunkel, nur ein paar Kerzen brennen. Überall stehen Regale voller Bücher, alter Karten, Instrumente, die ich nicht kenne.

Hinten, zwischen den Regalen, sitzt ein alter Mann. Weißer Bart, Brille, die Hände gefaltet im Schoß. Er schläft.

„Hallo,“ sage ich leise.

Er schreckt auf, schaut uns an.

„Oh,“ sagt er. „Besucher. Das ist lange her.“

„Sind Sie der Besitzer?“

„Ja. Oder war es. Ich weiß nicht mehr genau.“

Ich schaue mich um. Das Geschäft ist voller wunderbarer Dinge. Aber es wirkt verlassen, als würde es schon lange niemand mehr besuchen.

„Warum kommen keine Kunden?“

Der alte Mann seufzt. „Sie haben vergessen, dass es mich gibt. Früher kamen sie alle. Suchten Bücher, Antworten, Geschichten. Jetzt… jetzt kaufen sie alles woanders.“

„Im Internet?“

„Wahrscheinlich. Oder in den großen Geschäften.“

Ich nehme ein Buch aus dem Regal. „Geschichten aus der alten Zeit“ steht darauf. Die Seiten sind vergilbt, aber die Schrift ist klar und schön.

„Das ist ein wunderbares Buch,“ sagt der alte Mann. „Voller Märchen und Legenden. Aber wer liest heute noch so etwas?“

„Viele Leute. Sie wissen nur nicht, wo sie es finden können.“

Eine Idee formt sich in meinem Kopf.

„Haben Sie schon mal daran gedacht, Lesungen zu veranstalten?“

„Lesungen?“

„Ja. Einmal in der Woche. Sie erzählen Geschichten aus Ihren Büchern. Bei Kerzenschein, mit Tee und Gebäck.“

Der alte Mann denkt nach. „Das… das könnte funktionieren.“

„Natürlich funktioniert das. Die Leute lieben Geschichten. Sie haben nur vergessen, wie schön es ist, sie zu hören statt zu lesen.“

„Aber wer soll kommen?“

„Fangen Sie klein an. Erzählen Sie es Ihren Nachbarn. Hängen Sie ein Schild ins Fenster. Die Nachricht wird sich verbreiten.“

Der alte Mann steht auf. Plötzlich wirkt er jünger, lebendiger.

„Ja,“ sagt er. „Das mache ich. Jeden Donnerstagabend. ‚Geschichtenstunde im Kerzenlicht‘.“

„Perfekt.“

Er schüttelt mir die Hand. „Danke. Vielen Dank.“

Als wir das Geschäft verlassen, leuchten die Kerzen heller. Das Schild in der Tür ist gerade gerückt.

„Gut,“ sagt der Mann im roten Mantel. „Sehr gut.“

Die Straße verändert sich wieder. Diesmal befinden wir uns in einer Wüste. Sand, soweit das Auge reicht. Die Sonne brennt, aber es ist nicht unangenehm. Eher warm und tröstend.

„Und jetzt?“ frage ich.

„Jetzt der schwierigste Fall.“

In der Ferne sehe ich etwas. Es sieht aus wie ein Zelt. Wir gehen darauf zu. Unsere Füße sinken tief in den Sand ein, aber das Gehen ist leicht.

Das Zelt ist blau und gold, mit seltsamen Mustern. Davor sitzt eine junge Frau. Sie starrt in die Ferne und sieht sehr traurig aus.

„Was ist ihr Problem?“ frage ich.

„Sie hat ihre Stimme verloren.“

„Ihre Stimme?“

„Sie war Sängerin. Die beste in ihrer Stadt. Aber dann kam der Tag, an dem sie nicht mehr singen konnte.“

Ich setze mich neben die junge Frau. Sie schaut mich an, öffnet den Mund, aber es kommt kein Ton heraus.

„Seit wann können Sie nicht mehr sprechen?“

Sie zeigt drei Finger.

„Drei Tage?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Drei Monate?“

Wieder schüttelt sie den Kopf.

„Drei Jahre?“

Sie nickt traurig.

Ich denke nach. Manchmal ist es nicht die Stimme, die fehlt. Manchmal ist es der Mut.

„Können Sie schreiben?“

Sie nickt und zeigt auf den Sand. Mit dem Finger schreibt sie: „Ich habe Angst.“

„Wovor?“

„Dass meine Stimme nicht mehr schön ist.“

„Haben Sie es versucht?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Wollen Sie es jetzt versuchen?“

Sie zögert, dann nickt sie langsam.

„Fangen Sie ganz leise an. Nur ein Summen.“

Sie öffnet den Mund. Zunächst kommt nichts. Dann, ganz schwach, ein leiser Ton. Wie ein Hauch.

„Gut. Noch einmal.“

Der Ton wird stärker. Dann kommt ein zweiter dazu. Und ein dritter.

Plötzlich singt sie. Leise, aber klar und schön. Ein Lied ohne Worte, nur Melodie.

Ihre Augen weiten sich vor Staunen.

„Meine Stimme,“ flüstert sie. „Sie ist noch da.“

„Sie war immer da. Sie haben nur vergessen, ihr zu vertrauen.“

Sie steht auf, singt lauter. Die Melodie füllt die Wüste, hallt von den unsichtbaren Bergen wider.

„Danke,“ singt sie. „Vielen, vielen Dank.“

Sie tanzt im Sand, ihre Stimme wird zu einem Jubel, zu reiner Freude.

Der Mann im roten Mantel lächelt.

„Drei Probleme gelöst,“ sagt er. „Drei Menschen geholfen.“

„Und jetzt? Gibt es noch mehr?“

„Immer. Aber für heute reicht es.“

Die Wüste verschwindet. Wir stehen wieder vor dem Café. Es ist dasselbe Café, aber anders. Heller, freundlicher.

„War das alles real?“ frage ich.

„Was ist schon real?“ Der Mann im roten Mantel zwinkert mir zu. „Es war real für die, denen Sie geholfen haben.“

„Werde ich Sie wiedersehen?“

„Wenn Sie bereit sind zu helfen, werde ich da sein.“

Er geht die Straße hinunter, der rote Mantel weht im Wind. Ich schaue ihm nach, bis er um die Ecke verschwindet.

Ich gehe zurück ins Café. Mein Platz am Fenster ist noch frei. Der Kaffee ist noch warm. Draußen scheint die Sonne.

Ich trinke den Kaffee, schaue hinaus auf die Straße. Normale Menschen gehen vorbei. Normale Autos fahren. Alles wie immer.

Aber da, am Ende der Straße, sehe ich einen Schimmer von Rot. Nur für einen Moment. Dann ist er weg.

Ich lächle und bestelle noch einen Kaffee.

made by Xbyte jade heilstein einfach schnell gesund kochen einfach schnell gesund vegan Tierkommunikation