As Time Goes By

Das vergessene Buch

Ich sitze im Café an der Ecke, wo die Morgensonne durch die großen Fenster fällt und Staubpartikel in der Luft tanzen lässt. Der Kaffee vor mir dampft noch, schwarz und bitter, genau wie ich ihn mag. Um mich herum das übliche Gemurmel der Gäste, das Klappern von Tassen, das Zischen der Espressomaschine.

Der Tisch neben mir wird frei. Ein Mann mit grauem Bart steht auf, nickt mir kurz zu und verlässt das Café. Auf seinem Tisch liegt ein Buch. Ich warte eine Minute, zwei, schaue zur Tür. Er kommt nicht zurück.

„Vergessen“, murmle ich und nehme einen Schluck Kaffee.

Das Buch liegt dort wie ein gestrandetes Schiff. Dunkelblauer Einband, abgegriffen an den Ecken. Kein Titel auf dem Rücken zu erkennen. Ich werfe einen Blick zur Bedienung hinüber, die gerade damit beschäftigt ist, einen komplizierten Milchschaum zu zaubern. Niemand achtet auf mich.

Ich strecke die Hand aus und ziehe das Buch zu mir herüber. Fühlt sich schwerer an als es aussieht. Als ich es aufschlage, steigt mir der Geruch von altem Papier in die Nase, ein wenig moderig, ein wenig nach Vanille.

Keine Titelseite. Seltsam. Ich blättere weiter. Es ist ein Roman, die Seiten vergilbt, der Druck alt. Und dann sehe ich sie: Unterstreichungen. Rote Linien unter Textpassagen, manchmal Notizen am Rand in einer engen, schrägen Handschrift.

Ich lese den ersten markierten Satz: „Manchmal träumt er so intensiv, dass er beim Aufwachen nicht weiß, welche Welt die echte ist.“

Ein Kribbeln läuft mir den Rücken hinunter. Genau das habe ich gestern Abend gedacht, bevor ich eingeschlafen bin. Wort für Wort.

Ein Zufall, denke ich und blättere weiter. Die nächste Markierung: „Er beobachtet die Menschen um sich herum und fragt sich, ob sie auch zwischen den Welten wandern, ob sie auch nicht sicher sind, wo der Traum endet, und die Wirklichkeit beginnt.“

Mein Puls beschleunigt sich. Das ist exakt, was ich vorgestern im Bus gedacht habe, als ich die Frau mit dem roten Mantel beobachtet habe.

Ich nehme einen großen Schluck Kaffee, merke kaum, dass er mir die Zunge verbrennt. Das Café um mich herum verschwimmt ein wenig an den Rändern.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Die Bedienung steht plötzlich neben mir, wischt mit einem Lappen über den Nachbartisch.

„Ja, klar.“ Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren. „Wissen Sie, wem dieses Buch gehört?“ Ich halte es hoch.

Sie zuckt mit den Schultern. „Der Herr hat es wohl vergessen. Vielleicht kommt er zurück.“

Ich nicke und sie geht weiter. Meine Hände zittern leicht, als ich das Buch wieder aufschlage, weiterblättere.

Die dritte markierte Stelle: „Seine Träume haben eine Konsistenz, die der Wirklichkeit gleicht. Er kann Gerüche wahrnehmen, die Textur von Oberflächen spüren, die Temperatur der Luft auf seiner Haut fühlen.“

Ich schlucke. Vor drei Tagen habe ich meinem Mitbewohner genau das erzählt. Über den Traum, in dem ich durch eine Stadt lief, die nach gebrannten Mandeln roch, wo ich die Kälte des Metalls an den Treppengeländern spüren konnte.

Das Licht im Café scheint heller zu werden, fast schmerzhaft. Die Geräusche der anderen Gäste rücken in die Ferne.

Ich blättere hektisch weiter und stoße auf eine Passage, die komplett eingekreist ist:

„Er erkennt, dass die Trennlinie zwischen Traum und Wirklichkeit nicht so fest gezogen ist, wie die meisten Menschen glauben. Es gibt Orte, an denen sie durchlässig wird. Orte wie dieses Café, wo die Welten sich überlappen.“

Mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Ich schaue mich um. Das Café sieht plötzlich anders aus. Die Konturen der Menschen an den anderen Tischen scheinen zu schwimmen, ihre Gesichter verschwommen.

Die Notiz am Rand dieser Stelle lautet: „Wenn du das liest, bist du bereits auf der anderen Seite.“

Der Kaffee in meiner Tasse hat aufgehört zu dampfen. Ist er kalt geworden? Wie lange sitze ich schon hier?

Ich blättere zur nächsten markierten Stelle: „Er versteht, dass er selbst das Buch geschrieben hat. In einem anderen Traum, in einer anderen Version seiner selbst.“

Die Welt um mich herum wird still. Das Gemurmel verstummt. Das Klappern der Tassen hört auf. Sogar das Licht scheint anzuhalten, eingefroren in seinem Fall durch die Fenster.

Mit zitternden Fingern blättere ich zur letzten Seite. Dort steht in roter Tinte: „Schließe das Buch, wenn du zurückkehren willst.“

Ich zögere. Ein Teil von mir will weiterlesen, will wissen, was noch zwischen diesen Seiten verborgen ist. Ein anderer Teil hat Angst.

Die Bedienung taucht wieder in meinem Blickfeld auf. Ihr Gesicht wirkt jetzt vertraut, als hätte ich sie schon tausendmal gesehen.

„Sie sollten das Buch seinem Besitzer zurückgeben“, sagt sie und lächelt. Ein seltsames Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht.

„Wer ist der Besitzer?“, frage ich, meine Stimme kaum ein Flüstern.

Sie deutet mit dem Kinn zur Tür. „Er wartet draußen auf Sie.“

Ich schaue durch die Fensterscheibe. Der Mann mit dem grauen Bart steht auf der anderen Straßenseite. Er trägt jetzt einen langen Mantel, obwohl es Sommer ist. Er blickt direkt zu mir herüber und hebt langsam die Hand zum Gruß.

Er sieht aus wie ich. Älter, mit Bart, aber unverkennbar mein Gesicht.

Die Bedienung legt ihre Hand auf meine Schulter. Ihre Finger fühlen sich seltsam schwer an. „Sie müssen sich entscheiden“, sagt sie leise. „Bleiben oder gehen.“

Ich schaue wieder auf das Buch. Eine weitere Notiz ist auf der letzten Seite erschienen, die vorher nicht da war: „Jede Entscheidung erschafft einen neuen Traum.“

Das Licht im Café flackert. Die Konturen der Welt um mich herum werden noch weicher, noch unbestimmter.

Der Mann draußen – mein älteres Ich? – macht eine einladende Geste. Die Straße hinter ihm sieht aus wie meine Straße, aber irgendwie anders. Die Häuser stehen in leicht verschobenen Winkeln. Die Farben sind intensiver.

Ich spüre, wie das Buch in meinen Händen warm wird. Als ob es lebt, als ob es atmet.

„Was passiert, wenn ich hinausgehe?“, frage ich die Bedienung.

„Das ist der nächste Traum“, antwortet sie. „Oder die nächste Wirklichkeit. Je nachdem, wie man es betrachtet.“

Ich stehe auf. Das Buch halte ich fest umklammert. Um mich herum scheint das Café zu verblassen, wie ein altes Foto, das zu lange in der Sonne lag.

„Und wenn ich bleibe?“

Die Bedienung zuckt mit den Schultern. „Dann endet dieser Traum irgendwann. Wie alle Träume.“

Ich schaue wieder auf das Buch. Eine letzte Notiz ist aufgetaucht: „Es gibt kein Zurück, nur ein Weiter.“

Draußen wartet der Mann immer noch. Er hebt das Buch in seiner Hand – dasselbe Buch, das ich halte.

Die Entscheidung liegt bei mir. Ich kann das Buch schließen, aufwachen, vergessen. Oder ich kann hinausgehen, dem Mann folgen, herausfinden, was auf der anderen Seite der Straße liegt.

Das Café um mich herum ist jetzt fast durchsichtig. Die anderen Gäste sind verschwunden. Nur die Bedienung steht noch da, ihre Konturen verschwimmend.

„Zeit zu gehen“, sagt sie und ihre Stimme klingt wie ein Echo aus weiter Ferne.

Ich nicke, stecke das Buch in meine Tasche und gehe zur Tür. Als ich die Klinke berühre, fühlt sie sich nicht mehr fest an, eher wie Wasser oder Rauch. Die Tür öffnet sich ohne Widerstand.

Der Mann – mein anderes Ich – steht immer noch da. Er lächelt und streckt mir die Hand entgegen.

Ich überschreite die Schwelle und trete hinaus in das Licht, das heller ist als jedes Licht, das ich je gesehen habe. Die Straße vor mir ist nicht mehr meine Straße. Sie führt in eine Stadt, die ich kenne und doch nicht kenne.

Als ich mich umdrehe, ist das Café verschwunden. An seiner Stelle steht eine alte Bibliothek mit hohen Bücherregalen, die sich bis zur Decke erstrecken.

„Willkommen zurück“, sagt der Mann neben mir. „Oder sollte ich sagen: Willkommen im nächsten Kapitel?“

Er öffnet sein Exemplar des Buches und zeigt auf eine Seite. Dort steht in derselben roten Tinte: „Der Träumer betritt die Stadt seiner eigenen Erschaffung.“

Und da begreife ich es endlich. Jeder Traum ist ein Buch, das ich selbst schreibe. Jede Welt, die ich im Schlaf besuche, ist ein Kapitel in einer endlosen Geschichte. Und dieses Café, dieser Moment des Übergangs, ist nur eine von vielen Schwellen.

Der Mann – mein Führer, mein zukünftiges Selbst – deutet auf die Straße, die sich vor uns erstreckt. „Bereit für die nächste Reise?“

Ich nicke und spüre, wie die Grenzen meines Bewusstseins sich weiten. Die Stadt vor mir pulsiert mit Möglichkeiten. Jedes Gebäude ein potenzielles Abenteuer, jede Straße ein neuer Erzählstrang.

„Was für ein Traum wird es diesmal sein?“, frage ich.

„Das entscheidest du“, antwortet er und deutet auf das Buch in meiner Hand. „Du bist der Autor.“

Ich schlage eine neue, leere Seite auf und spüre, wie sich die Worte bereits in mir formen, bereit, niedergeschrieben zu werden. Der Stift in meiner Tasche – war er schon immer da? – fühlt sich warm an, als ich ihn herausziehe.

„Beginne mit der ersten Zeile“, sagt mein anderes Ich. „Der Rest wird folgen.“

Ich setze den Stift auf das Papier und schreibe: „Ich sitze im Café an der Ecke, wo die Morgensonne durch die großen Fenster fällt…“

Die Welt um mich herum verändert sich, passt sich den Worten an, die ich schreibe. Das Licht wird weicher, die Luft erfüllt sich mit dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Die Straße mit der Bibliothek verschwindet. Stattdessen sitze ich wieder in einem Café, aber nicht in demselben wie zuvor.

Hier sind die Stühle rot, nicht braun. Die Musik im Hintergrund ist Jazz, nicht das belanglose Pop-Gedudel von vorhin. Die Bedienung hat jetzt kurze blonde Haare statt der langen dunklen Locken.

„Jede Version ist real“, sagt mein Begleiter, der jetzt an meinem Tisch sitzt. „Jede Variante existiert irgendwo im Netz deiner Träume.“

Er ist jünger jetzt, der Bart ist verschwunden. Er sieht aus wie ich vor zehn Jahren.

„Wie viele Versionen von mir gibt es?“, frage ich und schaue mich um. Das Café ist voller Menschen, die alle in ihre eigenen Gespräche, Bücher, Gedanken vertieft sind.

„So viele wie Sterne am Himmel“, antwortet er. „So viele wie Worte in allen Büchern, die je geschrieben wurden oder noch geschrieben werden.“

Ich blättere durch mein Buch. Die Seiten füllen sich vor meinen Augen mit Text, als würde eine unsichtbare Hand die Geschichte unserer Begegnung niederschreiben, während sie passiert.

„Und all diese Versionen… träumen sie auch?“

Er nickt. „Jede träumt ihre eigene Welt. Manche ähneln sich, manche sind völlig verschieden. Aber alle sind verbunden durch das Buch.“

„Das Buch“, wiederhole ich und streiche über den abgegriffenen Einband. „Was ist es eigentlich?“

„Eine Karte“, sagt er. „Ein Schlüssel. Ein Spiegel. Es ist alles, was du daraus machst.“

Ein neuer Satz erscheint auf der Seite vor mir: „Und während er das verstand, begann er zu begreifen, dass die Grenzen seiner Träume nur die Grenzen seiner Vorstellungskraft waren.“

Draußen vor dem Fenster verändert sich die Straße. Die Gebäude werden höher, moderner, futuristischer. Die Menschen tragen seltsame Kleidung, die ich noch nie gesehen habe. Die Sonne am Himmel hat einen leichten violetten Schimmer.

„Wohin führt all das?“, frage ich, halb fasziniert, halb erschrocken von den Veränderungen, die ich durch bloßes Beobachten hervorrufe.

„Das ist die falsche Frage“, sagt mein jüngeres Ich und lächelt. „Es führt nicht irgendwohin. Es ist bereits da. Alles existiert gleichzeitig, nebeneinander. Du bewegst dich nur zwischen den Ebenen.“

Ein neuer Satz im Buch: „Die Welten liegen übereinander wie durchsichtige Folien. Man muss nur lernen, hindurchzusehen.“

Ich lege das Buch auf den Tisch und reibe mir die Augen. Als ich wieder hinschaue, ist mein jüngeres Ich verschwunden. Stattdessen sitzt dort eine Frau, die mir seltsam vertraut vorkommt, obwohl ich sicher bin, sie noch nie gesehen zu haben.

„Du fragst dich, wer ich bin“, sagt sie und nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. „Ich bin du in einer anderen Möglichkeit. In einem anderen Traum hast du andere Entscheidungen getroffen.“

Sie schiebt mir ihr Exemplar des Buches zu. Es sieht genauso aus wie meines, aber als ich es aufschlage, ist die Geschichte darin eine andere. Hier bin ich jemand anderes, lebe ein anderes Leben, habe andere Träume.

„Wie navigiere ich in diesem… Netz aus Träumen?“, frage ich sie. „Wie finde ich zurück?“

„Zurück wozu?“, fragt sie und hebt eine Augenbraue. „Zur ‚echten‘ Welt? Was macht eine Welt echter als die andere?“

Ich habe keine Antwort darauf.

„Das Buch ist dein Anker“, sagt sie schließlich. „Es verbindet all deine Versionen. Durch es kannst du reisen, wenn du lernst, es richtig zu lesen.“

Ich schaue wieder auf die Seiten. Die Worte scheinen zu pulsieren, sich zu verändern, wenn ich nicht direkt hinschaue.

„Und wie lerne ich das?“

Sie lächelt, ein Lächeln, das ich im Spiegel schon tausendmal gesehen habe. „Das weißt du bereits. Du hast es immer gewusst.“

Sie steht auf, legt eine Hand auf meine Schulter. „Wir sehen uns in einem anderen Traum.“

Dann geht sie, lässt mich allein mit dem Buch und dem sich stetig verändernden Café um mich herum.

Ich lehne mich zurück und atme tief durch. Die Luft schmeckt nach Möglichkeiten.

Was als nächstes? Die Frage hallt in meinem Kopf wider. Das Buch gibt keine Antwort. Es wartet. Die leeren Seiten warten darauf, gefüllt zu werden.

Ich nehme den Stift wieder in die Hand und schreibe eine neue Zeile: „Ich beschließe, der Straße zu folgen, die niemand sonst sehen kann.“

Und plötzlich ist sie da – eine schmale Gasse zwischen den Cafétischen, die vorher nicht existierte. Sie führt hinaus auf eine Straße, die durch eine Stadt verläuft, die wie aus einem Traum scheint. Die Gebäude sind unmöglich hoch und scheinen sich leicht im Wind zu biegen. Der Himmel schimmert in einem Blauton, den ich noch nie gesehen habe.

Ich stehe auf, das Buch fest in der Hand, und trete auf die Gasse zu. Das Café hinter mir verblasst, wird zu einer vagen Erinnerung.

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