As Time Goes By

Das Missverständnis

Ich stehe an der Ampel und warte. Mein linker Schuh ist nass. Eine Pfütze hat mich erwischt, als ich zu schnell um die Ecke bog. Der Himmel hängt tief und grau über der Stadt, als hätte jemand einen feuchten Lappen ausgewrungen. Die Menschen um mich herum starren auf ihre Telefone oder ins Nichts. Keiner spricht. Nur das gleichmäßige Rauschen der vorbeifahrenden Autos und das Klacken der Ampel, die auf Grün springt.

Ich gehe weiter, den nassen Schuh vergessen. In meinem Kopf drehen sich die Gedanken um den Termin, den ich in einer Stunde habe. Ein Kaffee vorher wäre gut. Ich biege in eine Seitenstraße ein, wo ein kleines Café liegt, das ich noch nie besucht habe. Irgendwas mit „Bohne“ im Namen. Die Tür knarzt, als ich sie aufdrücke. Drinnen ist es warm und riecht nach frisch gemahlenem Kaffee und Zimt. Der Boden ist aus dunklem Holz, abgetreten von tausenden Schritten. An den Wänden hängen vergilbte Poster von Jazzkonzerten.

Eine Frau hinter der Theke blickt auf. Sie hat graumeliertes Haar, zu einem unordentlichen Dutt gebunden, und trägt eine Brille, die ihr ständig die Nase hinunterrutscht. Sie schiebt sie mit dem Finger wieder hoch, während sie mich ansieht.

„Was darf’s sein?“

„Ein Kaffee, schwarz.“

Sie nickt und greift nach einer Tasse. Neben mir steht ein Mann mit einem dichten Bart, der seine halbe Brust bedeckt. Er trägt ein kariertes Hemd und Hosenträger, als wäre er einem Holzfäller-Kalender entsprungen.

„Zum Mitnehmen?“, fragt die Frau.

„Nein, ich trinke ihn hier.“

Der Bart-Mann wirft mir einen Blick zu. „Gute Entscheidung. Leben im Moment und so.“

Ich nicke nur. Es ist zu früh für Lebensweisheiten von Fremden. Die Frau stellt meinen Kaffee auf die Theke. Die Tasse ist dick und weiß, mit einem kleinen Sprung am Henkel. Der Kaffee darin ist so dunkel, dass ich mein Spiegelbild darin sehen kann.

„Drei fünfzig.“

Ich greife in meine Tasche und hole mein Portemonnaie heraus. Als ich es öffne, fällt ein kleiner Zettel heraus und segelt zu Boden. Ich bücke mich, um ihn aufzuheben. Es ist ein Kassenbon von gestern. Ich stecke ihn zurück und gebe der Frau einen Fünf-Euro-Schein.

„Behalten Sie den Rest.“

Sie lächelt kurz. „Danke. Setzen Sie sich doch.“

Ich nehme meinen Kaffee und suche mir einen Platz am Fenster. Der Stuhl knarzt unter meinem Gewicht. Draußen gehen Menschen vorbei, eingehüllt in Mäntel und Schals, die Köpfe gegen den Wind gesenkt. Ich trinke einen Schluck. Der Kaffee ist stark und heiß, brennt mir fast die Zunge. Gut so.

Mein Handy vibriert in meiner Tasche. Eine Nachricht. Ich nehme es heraus und entsperre den Bildschirm. Die Nachricht ist von einer Nummer, die nicht in meinen Kontakten gespeichert ist.

„Bin gleich da. Hoffe, du wartest noch. Entschuldige die Verspätung.“

Ich starre auf die Nachricht. Sie muss falsch sein. Ich erwarte niemanden. Der Termin ist erst in einer Stunde, und das ist ein Bewerbungsgespräch in einem Bürogebäude drei Straßen weiter. Ich tippe eine Antwort.

„Ich glaube, Sie haben sich verwählt.“

Drei Punkte erscheinen, verschwinden, erscheinen wieder. Dann kommt die Antwort.

„Sehr witzig. Ich bin in fünf Minuten da.“

Ich runzele die Stirn und lege das Handy auf den Tisch. Vielleicht sollte ich noch einmal antworten, klarer machen, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Aber andererseits, was geht es mich an? Nicht mein Problem, wenn jemand auf die falsche Person wartet.

Ich trinke noch einen Schluck Kaffee und schaue aus dem Fenster. Der Himmel hat sich etwas aufgehellt, ein blasser Sonnenstrahl bricht durch die Wolken und lässt die nassen Straßen glänzen. Die Welt sieht plötzlich weniger grau aus.

Die Tür des Cafés öffnet sich mit einem Klingeln. Eine Frau tritt ein, schüttelt einen Regenschirm aus und sieht sich suchend um. Sie ist etwa in meinem Alter, trägt einen blauen Mantel und hat dunkles, lockiges Haar, das vom Regen feucht glänzt. Unsere Blicke treffen sich. Sie lächelt und kommt auf mich zu.

„Da bist du ja. Entschuldige die Verspätung.“ Sie zieht den Stuhl mir gegenüber zurück und setzt sich, ohne auf eine Einladung zu warten. „Der Bus steckte im Verkehr fest, und dann fing es auch noch an zu regnen.“

Ich öffne den Mund, um ihr zu erklären, dass sie mich verwechselt, aber sie spricht schon weiter.

„Hast du schon lange gewartet? Du siehst anders aus als auf dem Foto.“ Sie legt den Kopf schief und mustert mich. „Aber das ist okay. Fotos lügen immer ein bisschen, oder?“

Ich sollte etwas sagen, aber etwas an der Situation macht mich neugierig. Wer ist diese Frau? Wen erwartet sie? Und warum fühlt es sich nicht seltsam an, dass sie mit mir spricht, als würde sie mich kennen?

„Nicht so lange“, höre ich mich sagen. „Gerade genug Zeit für einen Kaffee.“

Sie lächelt erleichtert. „Gut. Ich hole mir auch einen. Schwarz, nehme ich an?“

Ich nicke, überrascht. Sie steht auf und geht zur Theke. Ich beobachte, wie sie mit der grauhaarigen Frau spricht, lacht und dann mit einer Tasse zurückkommt, die genauso aussieht wie meine.

„Also“, sagt sie und setzt sich wieder. „Wie läuft es mit deinem Projekt? Du hast in deiner letzten Nachricht erwähnt, dass du Schwierigkeiten hast, den Abschluss zu finden.“

Mein Projekt? Ich habe kein Projekt. Außer vielleicht, einen Job zu finden, weshalb ich gleich zum Vorstellungsgespräch muss. Aber etwas an ihrem offenen Blick, der Art, wie sie an ihrer Tasse nippt und auf meine Antwort wartet, lässt mich weiterspielen.

„Es ist kompliziert“, sage ich vage. „Manchmal weiß ich nicht, wohin die Geschichte gehen soll.“

Sie nickt verständnisvoll. „Das kenne ich. Bei meinem letzten Roman habe ich drei verschiedene Enden geschrieben, bevor ich mich entscheiden konnte. Aber manchmal muss man die Figuren einfach machen lassen, was sie wollen. Sie wissen es oft besser als wir.“

Eine Schriftstellerin. Sie denkt, ich bin auch einer. Jemand, mit dem sie sich online zum Kaffee verabredet hat, um über das Schreiben zu reden. Die Ironie ist nicht zu übersehen – ich, der ich seit Jahren davon träume, einen Roman zu schreiben, aber nie über die erste Seite hinauskomme.

„Du hast recht“, sage ich. „Manchmal überraschen sie einen.“

Sie lächelt und nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee. „Genau. Wie deine Hauptfigur – ich mag, wie du sie entwickelt hast. Diese Mischung aus Verletzlichkeit und Stärke. Fast, als würde sie zwischen zwei Welten leben.“

Ich nicke langsam, überlege mir eine passende Antwort. „Das war die Idee. Jemand, der nicht ganz hier ist, aber auch nirgendwo sonst.“

„Wie ein Träumer“, sagt sie und ihre Augen leuchten auf. „Jemand, der in seiner eigenen Realität lebt, parallel zu unserer. Das ist faszinierend.“

Ein Träumer. Ja, das passt. Ich bin ein Träumer, immer gewesen. Jemand, der sich Geschichten ausdenkt, anstatt sie zu leben. Der beobachtet, anstatt teilzunehmen. Bis jetzt.

„Genau das“, sage ich und merke, wie meine Stimme fester wird. „Ein Träumer, der versucht, in der realen Welt zurechtzukommen.“

Sie lehnt sich vor, ihre Augen fixieren mich mit einer Intensität, die fast körperlich spürbar ist. „Und was passiert, wenn die Träume zu real werden? Wenn die Grenzen verschwimmen?“

Die Frage trifft etwas in mir, einen Nerv, von dem ich nicht wusste, dass er existiert. Was passiert dann? Was passiert, wenn man plötzlich in der Geschichte eines anderen ist, eine Rolle spielt, die nicht für einen geschrieben wurde?

„Dann“, sage ich langsam, „muss man die Geschichte neu schreiben.“

Sie lächelt, ein tiefes, zufriedenes Lächeln. „Das ist gut. Sehr gut. Darüber solltest du schreiben.“

Und plötzlich will ich das. Ich will schreiben. Über Träumer und Realitäten, die ineinander übergehen, über zufällige Begegnungen, die das Leben verändern. Über diesen Moment hier.

Wir reden weiter, über Bücher und Autoren, über Schreibblockaden und Inspiration. Sie erzählt von ihrem Roman, einer Geschichte über eine Frau, die durch die Zeit reist, indem sie in die Träume anderer Menschen eintaucht. Ich erzähle von meinen fragmentierten Ideen, die plötzlich Form annehmen, während ich spreche. Die Zeit verfliegt. Der Kaffee wird kalt. Draußen hört es auf zu regnen, und die Sonne bricht vollständig durch die Wolken.

Mein Handy vibriert erneut. Eine Erinnerung an meinen Termin. Das Bewerbungsgespräch. In fünfzehn Minuten. Ich sollte gehen, jetzt sofort, wenn ich pünktlich sein will. Aber ich will nicht gehen. Ich will hierbleiben, in diesem seltsamen Zwischenraum, den wir geschaffen haben.

Sie bemerkt meinen Blick auf das Handy. „Du musst los?“

Ich zögere. „Eigentlich ja. Ein wichtiger Termin.“

„Schade.“ Sie nippt an ihrem Kaffee, der inzwischen kalt sein muss. „Es war… überraschend angenehm.“

Ich lächle. „Ja, das war es.“

Eine Pause entsteht, gefüllt mit unausgesprochenen Fragen. Wer bist du wirklich? Wen hast du erwartet? Willst du die Wahrheit wissen?

Sie greift in ihre Tasche und holt ein kleines, abgegriffenes Notizbuch heraus. Sie schlägt es auf, reißt eine Seite heraus und schreibt etwas darauf. Dann schiebt sie sie über den Tisch zu mir.

„Meine Nummer. Falls du reden willst. Über das Schreiben oder… was auch immer.“

Ich nehme das Papier und stecke es in meine Tasche, neben den vergessenen Kassenbon. „Danke.“

Wir stehen gleichzeitig auf. Das Knarzen der Stühle mischt sich mit dem Klappern von Tassen und dem gedämpften Gespräch der anderen Gäste. An der Tür bleiben wir stehen, unschlüssig, wie man sich verabschiedet, wenn man sich nicht richtig kennengelernt hat und doch mehr voneinander weiß, als man sollte.

„War schön, dich kennenzulernen“, sagt sie schließlich und streckt ihre Hand aus.

Ich nehme sie. Ihre Haut ist warm, ihre Finger schlank und stark, die Hand einer Person, die viel schreibt. „Gleichfalls.“

Wir treten hinaus auf die Straße. Die Luft riecht frisch nach Regen, und das Licht hat diese besondere Qualität, die es nur nach einem Gewitter hat, klar und golden. Sie blickt nach links, ich nach rechts. Unsere Wege trennen sich hier.

„Viel Glück bei deinem Termin“, sagt sie und lächelt ein letztes Mal.

„Danke. Und dir mit deinem Roman.“

Sie nickt, dreht sich um und geht. Ich sehe ihr nach, wie sie in der Menge verschwindet, ihr blauer Mantel ein leuchtender Fleck zwischen all den grauen und schwarzen Gestalten. Dann schaue ich auf meine Uhr. Zehn Minuten bis zum Bewerbungsgespräch. Wenn ich renne, könnte ich es noch schaffen.

Aber ich renne nicht. Stattdessen gehe ich langsam in die entgegengesetzte Richtung, weg vom Bürogebäude, in dem man auf mich wartet. In meiner Tasche spüre ich das Stück Papier mit ihrer Nummer, eine greifbare Erinnerung daran, dass manchmal die besten Geschichten, die sind, die man nicht plant.

Ich biege um eine Ecke und sehe eine Bank unter einem blühenden Baum. Ich setze mich, hole mein Handy heraus und rufe die Nummer des Unternehmens an. Eine Sekretärin nimmt ab.

„Es tut mir leid“, sage ich, „aber ich muss den Termin absagen. Etwas Wichtiges ist dazwischengekommen.“

Sie klingt nicht erfreut, aber das ist mir egal. Ich beende das Gespräch und stecke das Handy weg. Dann hole ich das Notizbuch aus meiner Tasche, dass ich immer bei mir trage, aber selten benutze. Ich schlage eine leere Seite auf und beginne zu schreiben.

„Ich stehe an der Ampel und warte. Mein linker Schuh ist nass…“

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