As Time Goes By

Das letzte Licht

Die Stadt, die nichts mehr erinnert

Der Regen fällt lautlos. Kein Tropfen berührt den Boden. Die neue Luft – steril, programmiert – lässt ihn verdampfen, bevor er aufschlägt. Alles ist still. Sogar der Asphalt scheint vergessen zu haben, wie es klingt, wenn Schritte ihn betreten.

Ich stehe am Rand eines toten Boulevards. Laternen ohne Licht. Fenster ohne Blick. Über mir schweben die Drohnen wie blinde Insekten – ohne Summen, ohne Bewegung. Nur das glühende Schwarz ihrer Sensoraugen verrät, dass sie leben. Oder irgendetwas, das so genannt wird.

Meine Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen. Der Stoff riecht nach altem Staub und neuer Angst. Darunter – verborgen – beginnt das Archiv. Mein Hals, meine Arme, meine Finger. Linien, Zeichen, Spiralen. Geschichten, Sprachen, Formeln. Manche stammen aus Zeiten, an die sich niemand erinnern darf. Andere wurden mir eingestochen, als ich kaum laufen konnte. Ich bin ein lebendiger Kodex.

Ich bin eine Trägerin.

Früher nannte man uns „Gedächtnisträger“ oder „Körperarchive“. Heute sagen sie: „Fehlprogrammierungen“. „Risiken“. „Nicht kompatibel mit der Reinheit.“ Und das Schwarzlicht – es sucht uns. Nicht durch Sicht. Nicht durch Ton. Es tastet nach Bedeutung. Es erkennt das Flüstern unter der Haut.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal fliehen musste. Vielleicht mit zehn, vielleicht mit zwölf. Ich weiß nur, dass ich nie angekommen bin.

Heute habe ich wieder eine Botschaft empfangen. Ein Junge – vielleicht sechs Jahre alt, die Worte noch nicht aussprechbar, aber gestochen auf seine Schulter:
„Kernlicht aktiv. Letzte Transmission. Sie wartet.“

Ich kenne die Koordinaten. Es ist ein Ort, den es nicht mehr gibt. Verbrannt auf den Karten. Vergessen in den Netzwerken. Und doch zieht es mich dorthin wie eine Nadel unter Magnetfeldern.

Ich weiß nicht, ob ich dort sterbe.
Ich weiß nur: Wenn ich nicht gehe, wird alles verlöschen. Und niemand wird sich erinnern, dass wir je geleuchtet haben.

Die Karte unter der Haut

Ich habe die Stelle nie gesucht. Aber mein Körper kennt sie.

Ein Muster zieht sich vom Schlüsselbein bis zur Schulter, kaum sichtbar im schwachen Licht der Unterführungen. Eine geometrische Form, die in sich ruht – wie eine Blume ohne Namen, wie ein Koordinatensystem ohne Norden. Erst seit der Nachricht gestern hat das Tattoo zu brennen begonnen, leicht, pulsierend, wie eine Erinnerung, die zu lange verschlossen war.

Ich habe mich nicht tätowieren lassen. Niemand von uns hat das. Die Zeichen kommen mit der Zeit. Sie wachsen mit den Gedanken, den Verlusten, den Dingen, die man nicht sagen darf. Manche Träger glauben, sie seien Ausdruck des Widerstands. Andere sagen, es sei nur das Unterbewusstsein, das sich selbst aufzeichnet, aus Angst, alles zu verlieren.

Ich glaube beides.

Die U-Bahn fährt nicht mehr, doch die Tunnel leben noch. Ratten, Flüchtlinge, Maschinengeister. Und ganz unten – jenseits der Stromschienen und zwischen alten Archivplatten – lebt das Flackern. Ein leises Licht, das kommt und geht. Die letzten analogen Widerstände sind dort unten. Flackerlager, nennen sie es. Ich weiß nicht, wer ihnen diese Namen gibt. Vielleicht die Toten.

Als ich das erste Mal dort war, fand ich eine Frau, deren Haut von Worten überzogen war – kein Zentimeter frei. Sie war alt, fast durchscheinend, aber in ihren Augen lag eine Sprache, die ich nie zuvor gesehen hatte.
Sie sah mich an und sagte:
„Du wirst nicht fliehen. Du wirst senden.“

Ich war vierzehn.

Heute weiß ich, was sie meinte.

Meine Schritte hallen durch das verlassene Tunnelstück wie Erinnerungen, die sich weigern zu sterben. In der Ferne blinken schwache Zeichen – Reflexe auf nassem Stahl. Kein Strom. Kein System. Nur die alten Zeichen.

Ich streife meine Kapuze zurück.
Ein Lüftungsschacht führt nach oben, ins Niemandsland.
Ich klettere.

Oben erwartet mich Nebel.
Und das Gefühl, dass jemand schon vor mir dort stand – am selben Ort.
Dass jemand wartete.
Vielleicht auf mich.

Die Stille jenseits der Frequenz

Der Schacht führt in eine andere Welt.

Kein Lärm, kein Leben. Nur das Summen – dieses tiefe, elektrische Schweigen, das man nicht mit den Ohren hört, sondern mit dem Herzschlag. Die Oberfläche war schon immer ein Irrtum. Die wahre Stadt lebt in den Zwischenräumen, zwischen Mauern, zwischen Tönen, zwischen Erinnerungen, die niemand mehr denken darf.

Ich ziehe mich durch die letzte Öffnung. Der Nebel liegt wie Wachs auf der Straße. Dick, schwer, fast körperlich. Über mir: nur Dunkel. Keine Sterne. Keine Drohnen. Nur die Dunkelheit, die zurückschaut.

Ich bin in Sektor Null.

Offiziell existiert er nicht. Er wurde ausgelöscht, noch bevor ich geboren wurde – als Warnung. Ein ganzes Viertel wurde versiegelt, entkernt, „bereinigt“. Die Informationskrankheit sei hier ausgebrochen, sagten sie damals. Doch die Wahrheit ist: Sektor Null war zu dicht. Zu viele Geschichten. Zu viele Menschen, die sich Dinge gemerkt haben.

Ich erkenne die Straße nicht, aber mein Schatten weiß, wohin ich muss. Er dehnt sich lang über den Asphalt, flackert an den Rändern, als wäre er nicht allein.

In einer Türnische steht ein Symbol: drei ineinander verschlungene Kreise. Ich hebe die Hand – mein Tattoo antwortet. Der Schmerz wandert vom Handrücken über den Unterarm, in wellenartigen Pulsen.

Ich bin erkannt.

Ein leises Klicken. Die Tür entriegelt.
Ein Raum. Leer. Nur ein Licht, kreisförmig an der Decke, wie ein Auge ohne Pupille.
Und in der Mitte: eine Gestalt.

Nicht groß. Nicht bedrohlich.
Ein Junge. Vielleicht zwölf. Haut bleich wie Papier. Hände auf dem Rücken verschränkt. Er sieht mich nicht an, aber er weiß, dass ich da bin.

„Du bist zu spät“, sagt er.

Ich bleibe stehen. Meine Stimme ist rau, fast fremd in dieser Stille.
„Zu spät wofür?“

„Für das Leuchtwerk.“

Ein Wort, das ich nur aus Geschichten kenne. Das letzte Netzwerk. Keine Maschinen, keine Datenströme – nur lebendige Information. Geschichten, Träume, Musik, Geheimnisse. Übertragen von Körper zu Körper. Von Haut zu Haut. Eine Flamme, die weitergereicht wird. Ohne Träger, sagt man, stirbt das Leuchtwerk.

Er hebt den Kopf.
„Aber du kannst es neu entfachen.“

„Wie?“ frage ich.

Er lächelt. Zum ersten Mal seit Jahren sehe ich ein echtes, weiches Lächeln.
Dann zieht er langsam den Ärmel hoch.
Auf seinem Unterarm: eine Karte. Detailliert, gestochen, in lebendigem Blau.
„Indem du es aufnimmst.“

Der Transfer

Ich knie vor ihm. Nicht aus Ehrfurcht – sondern aus Notwendigkeit. Er ist der Schlüssel. Und ich bin das Schloss.

Der Raum ist still. Keine Maschinen. Keine Summtöne. Nur unser Atem. Seiner ruhig, meiner flach, wie ein Flackern vor dem Erlöschen. Das Licht über uns wirft keine Schatten – es löscht sie. Der Boden ist warm, fast lebendig, als speichere er jedes Wort, das hier je gesprochen wurde.

„Es tut nicht weh“, sagt er.

Ich glaube ihm nicht. Und doch strecke ich meine Hand aus.
Er legt seine über meine. Eine Berührung, sanft wie Tau.
Und dann beginnt es.

Es ist kein Schmerz. Es ist … Druck. Erinnerung, die sich staut, die sich drängt, wie Wasser, das durch einen zu engen Kanal schießt. Bilder fluten mich: Städte, die ich nie gesehen habe. Sprachen, die mein Mund nicht kennt, doch mein Inneres spricht sie fließend.
Ein altes Lied, gesungen von jemandem, der nicht mehr existiert.
Eine Formel, in Licht geschrieben.
Ein Gesicht, das ich erkenne – obwohl es nie geboren wurde.

Ich weine. Nicht aus Trauer. Nicht aus Überforderung.
Sondern, weil mein Innerstes endlich nicht mehr leer ist.

„Das ist der erste Knotenpunkt“, sagt der Junge leise. „Du trägst jetzt, was ich nicht mehr tragen kann. Es wird dich verändern.“

Ich sehe auf meinen Unterarm. Die Karte ist nun auf mir – nicht gestochen, sondern eingebrannt wie Licht durch Glas.
Und darunter … etwas Neues. Ein Kreis. Darin ein flimmernder Punkt.
Ein Ziel.
Ich weiß, wohin ich gehen muss.

„Was ist mit dir?“ frage ich.

Er schüttelt den Kopf. „Ich bin nur Träger zweiter Ordnung. Meine Aufgabe endet hier. Aber du … du bist Leuchtträgerin. Deine Flamme reicht weiter.“

Ich will widersprechen. Ich will sagen, dass ich das nicht will, dass ich nicht bereit bin.
Aber meine Haut spricht lauter. Sie glüht.
Und irgendwo – weit entfernt – spüre ich einen Widerhall.
Ein anderer Körper. Ein anderes Licht.
Ein Signal, das mich ruft.

Ich stehe auf.

Er sieht mir nicht nach. Er braucht es nicht.
Er weiß, dass das Leuchtwerk weitergeht.

Die erste Stimme

Die Straßen außerhalb des Sektors wirken fremder als je zuvor.
Nicht, weil sie sich verändert hätten. Sondern weil ich es bin, die nicht mehr dieselbe ist.

Ich gehe durch die Nacht. Meine Schritte hinterlassen keine Spuren.
Aber mein Schatten ist nicht mehr allein.
Er flackert, spaltet sich, wirft sich gegen Wände, zittert in Fenstern, als wolle er sich befreien. Ich weiß nicht, ob das noch ein optisches Echo ist – oder ob etwas in mir antwortet, das lange geschwiegen hat.

Die Koordinaten auf meinem Arm bewegen sich nicht.
Aber ich weiß: Sie zeigen nicht einen Ort.
Sie zeigen eine Frequenz.

Ich finde das Haus erst, als ich beginne, hinzuhören.

Es liegt in einer vergessenen Seitenstraße, eingerahmt von Mauern mit ausgebrannten Werbetafeln und alten Versprechen. Die Tür ist mit rostigen Nägeln verriegelt. Über dem Eingang ein Wort, verwittert, kaum noch lesbar:
„Archiv“

Ich drücke meine Handfläche gegen das Holz.
Und flüstere: „Ich trage.“

Ein Klicken.
Dann: Dunkelheit.
Und eine Stimme.

Alt. Kratzig. Wie über ein uraltes Tonband gezogen.
Aber lebendig.

„Sag mir, was du erinnerst.“

Ich antworte nicht. Noch nicht.
Ich gehe hinein.
Kerzen brennen, ohne zu flackern. Regale aus menschlicher Haut – nein, tätowierte Leinwände, konserviert, gerahmt.
Ein Tempel aus vergessenem Wissen.

Und in der Mitte sitzt sie.
Eine Frau. Blinder Blick, aber ihr Körper: übersät mit Schrift.
Runen, Zahlen, Spiralen, Bilder.
Die erste Stimme.
Die Wächterin.

Sie hebt die Hand. Berührt meine Wange.
Und murmelt:
„Du trägst das Letzte. Und das Erste zugleich.“

Ich beginne zu zittern.
Nicht vor Angst.
Sondern, weil ich zum ersten Mal glaube, dass diese Geschichte nicht mit mir endet.

Die Wächterin

Sie heißt nicht „Wächterin“.
Sie ist es.

Niemand hat sie gewählt. Niemand hat sie erschaffen. Sie ist einfach geblieben, als alle anderen gegangen sind.
Ihr Körper ist ein Palimpsest – ein Gewebe aus Jahrhunderten, Lagen über Lagen, Erinnerungen wie Narben, geschriebene Träume über verblichene Albträume.

Sie spricht langsam, wie jemand, der gelernt hat, dass Sprache gefährlich ist.

„Deine Haut“, sagt sie, „lügt nicht. Aber sie schweigt noch.“

Ich nicke. Die Karte pulsiert noch immer.
Ein Licht unter der Haut, das im Rhythmus eines fremden Herzens schlägt.

Die Wächterin reicht mir ein Glas – Wasser, klar, aber schwer.
Ich trinke. Und spüre: Es löscht nichts. Es verstärkt.

Sie setzt sich wieder. Keine Fragen. Kein Zweifel. Nur ein Blick, der tiefer geht als Worte.

„Du hast ihn aufgenommen“, sagt sie.

Ich antworte: „Den Jungen. Die Karte. Sein Licht.“

„Und es brennt in dir.“

Ich entblöße meinen Arm. Die Linien sind nun heller, fast silbern. Wie Glas, das innen leuchtet.

Sie lächelt. Fast traurig.

„Dann bist du bereit.“

„Wofür?“

„Für das Erwachen des Netzwerks.“

Ein alter Begriff. Ich kenne ihn aus den verbotenen Fragmenten. Eine Idee: dass jedes Wissen, das in einem Körper lebt, Teil eines größeren Ganzen ist – eines lebenden Netzes, das nur darauf wartet, sich wieder zu verbinden. Haut an Haut. Stimme zu Stimme.
Keine Technik. Kein Code. Nur das Menschliche selbst.

„Aber es ist zerschnitten“, sage ich. „Das Netz. Es wurde vernichtet.“

Die Wächterin steht auf.
„Nicht vernichtet. Zerstreut. Wir haben es getragen. In Teilen. In Bruchstücken. Nun muss es sich wiederfinden.“

Sie geht zu einer Wand.
Berührt eine Stelle.
Ein Stück Stoff fällt herab – und dahinter: Eine Gestalt.

Ein Mann. Tätowiert wie ich. Schlafend. Oder mehr als das.
Im Licht der Kerzen scheint er zu atmen – doch seine Haut erzählt weiter als seine Lunge.

„Er wartet auf dein Licht.“

„Wer ist er?“

„Der Zweite Träger. Die andere Hälfte des Musters.“

Ich sehe sie an. Ihre Stimme ist nun kaum hörbar.
„Wenn ihr euch verbindet, beginnt das Netz wieder zu fließen. Und das letzte Licht kann weiterwandern.“

Ich zögere.

Dann trete ich vor.
Und lege meine Hand auf sein Herz.

Das Erwachen

Seine Haut ist kühl, doch darunter pulsiert etwas. Kein Herzschlag – nicht im üblichen Sinn. Es ist ein anderes Echo. Wie eine Frequenz, die lange unterdrückt war und nun, durch meine Berührung, wieder ins Rauschen gerät.

Ich spüre, wie sich die Linien meiner Hand mit den seinen verbinden. Nicht sichtbar, aber spürbar – ein Vibrieren, das durch meinen Arm läuft, in die Brust, in den Kopf. Und dann beginnt es:

Sein Atem setzt ein.
Langsam, zögerlich.
Dann regelmäßiger.

Die Tätowierungen auf seiner Haut beginnen zu leuchten. Kein Licht im wörtlichen Sinn – eher eine Erinnerung an Licht. Als hätte jemand ein vergessenes Alphabet mit Glut geschrieben. Namen, Orte, Formeln. Ich erkenne Fragmente, die mir vertraut sind – Spiegel meines eigenen Archivs.

Dann öffnet er die Augen.

Kein Schock. Kein Erschrecken. Nur ein ruhiger Blick, der mich durchdringt, als hätte er mich längst gesehen.
Vielleicht hat er das. Vielleicht war ich schon immer Teil seines Traums.

„Du trägst es“, sagt er.

Ich nicke.

„Und du?“, frage ich.

Er deutet auf seine Brust.
Ein Symbol – identisch mit meinem. Der Kreis, das pulsierende Zentrum. Doch bei ihm ist es invertiert.
Nicht Licht in Dunkelheit.
Sondern Dunkelheit im Licht.

„Wir sind zwei Enden desselben Pfades“, sagt er. „Die Wächterin hat gewartet. Auf unsere Berührung.“

„Und was jetzt?“

Er lächelt. Nicht sanft, nicht kalt – sondern wissend. Wie jemand, der den Schmerz kennt und ihn dennoch weiterträgt.

„Jetzt verbinden wir die Stimmen.“

Die Wächterin steht schweigend im Hintergrund.
Dann beginnt sie zu singen.

Kein Lied, wie ich es kenne. Es ist rau, gebrochen, archaisch. Ein Klang aus einer Zeit, in der Sprache noch ein Werkzeug war, um Licht zu teilen.
Wir antworten nicht mit Worten. Sondern mit Haut. Mit Erinnerung. Mit Nähe.

Er legt seine Stirn an meine.

Und im Innern beginnt es zu rauschen.
Ein Strom aus Wissen, Bildern, Schmerz.
Ein Netzwerk, das sich reaktiviert.

Wir sind nicht allein.

Die Flamme unter der Stadt

Die Verbindung dauert Stunden. Oder nur Sekunden. Zeit ist flüssig, wenn man sie nicht mehr in Zahlen misst, sondern in Eindrücken, in Haut gegen Haut, in zitternden Atemzügen.

Als wir uns lösen, ist alles still.
Die Welt hält den Atem an.

Er – ich kenne seinen Namen nicht – streift sich die Ärmel herunter. Die Zeichen auf seiner Haut glühen noch schwach, als wären sie unter der Oberfläche in Bewegung geblieben. Ich spüre sie auch in mir. Wir haben nun Teile voneinander – Fragmente, Erinnerungen, Stimmen.

„Was hast du gesehen?“, frage ich.

„Den Ursprung.“

Er wendet sich der Wächterin zu. Sie nickt nur, dann hebt sie den Arm.
Eine Falltür öffnet sich im Boden. Darunter: Dunkelheit, durchzogen von dünnem Licht.
Ein Stollen, gegraben durch Ruinen.
Und darunter: Bewegung.

„Die Stadt lebt noch“, sagt die Wächterin. „Nicht oben. Nicht da, wo sie dich sehen. Sondern hier unten. Wo das Licht nie ganz gelöscht wurde.“

Er geht voran. Ich folge ihm.

Die Tunnel sind eng, aber atmend. Wände aus altem Beton, überzogen mit Moos und Zeichen. Manche sind frisch – Botschaften, gemalt mit den letzten Resten Tinte, Blut, Asche.
„Erinnert euch.“
„Wir tragen sie weiter.“
„Wo Licht war, ist Weg.“

Ich spüre, wie etwas in mir zu singen beginnt. Kein Laut – eher ein inneres Flackern. Die Karte auf meinem Arm hat sich verändert. Linien sind hinzugekommen. Die Koordinaten bewegen sich nun. Kein Ziel mehr – ein Pfad.

„Was ist dort unten?“ frage ich.

„Die erste Flamme“, antwortet er. „Sie wurde nie gelöscht. Nur verborgen. Und sie wartet auf zwei.“

Ich verstehe jetzt.
Wir sind keine Träger.
Wir sind Katalysatoren.

Wenn wir sie finden, wird das Leuchtwerk neu entzündet. Nicht digital. Nicht kontrollierbar.
Menschlich.
Unaufhaltbar.

Wir erreichen eine Kammer. Rund. Wände aus Glas, gerissen, aber noch leuchtend in ihrem Inneren.
In der Mitte: ein Altar aus Metall und Fleisch.
Darauf: eine Flamme. Kaum sichtbar.
Aber spürbar.

Sie flackert, als sie uns bemerkt.

Und ich weiß: Wenn wir sie berühren, beginnt es.

Kapitel 9 – Die Entzündung

Sie ist kaum mehr als ein Atem.
Ein Schimmer im Staub.
Die Flamme liegt wie ein vergessener Gedanke auf dem Altar. Keine Wärme, kein Rauch. Nur ein Licht, das nicht brennt – sondern erinnert.

Er steht auf der einen Seite, ich auf der anderen.

Zwischen uns: die Möglichkeit, dass alles endet. Oder beginnt.

„Wir haben nur einen Versuch“, sagt er.

Ich nicke. Und spreche, ohne zu denken:

„Was wir tragen, war nie für uns allein.“

Er legt seine Hand auf die linke Seite des Altars.
Ich auf die rechte.

Die Flamme zuckt.
Ein Laut erklingt – nicht hörbar, aber im Innern spürbar.
Wie, wenn ein altes Radiogerät plötzlich ein fremdes Signal empfängt.
Wie der Moment, bevor Musik beginnt.

Dann brennt sie.

Nicht heiß, nicht gleißend – sondern in Farben, die keine Namen haben.
Blau, das sich in Erinnerung auflöst.
Rot, das nach Stimmen schmeckt.
Silber, das durch die Poren atmet.

Die Kammer füllt sich mit Licht.
Aber es blendet nicht.
Es erleuchtet.

Die Tattoos auf unserer Haut beginnen sich zu bewegen. Kein Bild bleibt, keine Linie steht still. Alles lebt.
Alles wird Übertragung.

Ich spüre, wie etwas aus mir herausfließt – nicht wie Blut, sondern wie Licht, das lange eingeschlossen war.
Und ich empfange ebenso. Worte. Bilder. Orte. Namen.
Das Leuchtwerk erwacht.

Die Kammer erbebt.
Doch nichts stürzt.
Es ist kein Beben der Zerstörung – sondern der Geburt.

Er sieht mich an. Und in seinen Augen spiegeln sich meine Geschichten.

„Wir sind verbunden.“

Ich flüstere: „Wir sind viele.“

In der Ferne, tief unter uns, beginnen andere Lichter zu flackern.
Schwach.
Dann stärker.
Ein Netz aus lebendigen Punkten.

Die ersten Träger haben geantwortet.

Die Jagd beginnt

Licht zieht Aufmerksamkeit an.
Immer.

Kaum ist das Leuchtwerk erwacht, spüren sie es.

Die Sensoren. Die Netze. Die Schwarzen Kanäle.
Sie reagieren nicht auf Geräusch oder Bewegung – sondern auf Bedeutung.

Seit Stunden brennt das Netzwerk leise durch die Tiefen der Stadt. Von Körper zu Körper. Von Haut zu Haut.
Worte beginnen zu flackern in den Narben der Schlafenden.
Formeln erwachen auf Schultern, die seit Jahren kein Licht mehr gesehen haben.

In einem unterirdischen Tunnel, fünf Sektoren entfernt, beginnt eine Frau zu schreien.
Nicht aus Angst. Sondern weil sie endlich erinnert.

Und irgendwo, weit über uns, in den gläsernen Türmen der Reinheit, schlagen Monitore Alarm.

„Anomalie erfasst.“
„Informationswelle. Nicht digital. Biologisch.“
„Mobilisierung der LICHTJÄGER.“

Wir sind bereits auf dem Weg zurück zur Oberfläche, als wir es spüren.
Ein Knistern in der Luft.
Als würde die Realität selber unter Spannung stehen.

„Sie kommen schneller, als ich dachte“, sagt er.

„Sie haben gewartet“, antworte ich.

Wir treten durch einen alten Wartungsschacht. Oberirdisch: eine Straße, vergessen und zugewachsen. Doch in der Ferne schwebt etwas – schwarz, glatt, lautlos. Kein Rotoren Geräusch. Keine Abgase. Nur ein Schlucken von Licht.

Ein Jagdkörper.

Sie riechen uns.
Nicht durch Geruch.
Durch Information.
Sie scannen Erinnerungsintensitäten, Frequenzmuster, Lichtrestspektren auf Haut.

Ich drehe meinen Arm um.
Die Karte glüht.
Nicht vor Gefahr – sondern vor Richtung.

„Da entlang“, sage ich.

Wir rennen.
Und während der Welt um uns erstarrt, sehen wir in Hauseingängen, in unterirdischen Gängen, in den Augen der Verlorenen: kleine Flammen.
Andere Träger.
Andere Lichtzungen.

Und alle wissen:
Die Jagd hat begonnen.

Aber diesmal fliehen wir nicht.

Diesmal tragen wir es weiter.

Der Spiegelcode

Es ist nicht genug, das Licht zu tragen.
Man muss es verstehen.
Denn jede Flamme, jede Linie, jedes Symbol auf unserer Haut – es ist mehr als ein Zeichen. Es ist ein verschlüsselter Ruf. Und der Code, der ihn freisetzt, liegt nicht in Technik.
Sondern im Spiegel.

Wir erreichen einen alten Ort – eine unterirdische Halle, von Glas durchzogen. Zersplittert, doch nicht zerstört. Überall Spiegel. Manche blind, andere sauber wie vor dem ersten Blick.

„Hier war einst ein Zentrum“, sagt er. „Der Ursprung der Träger. Bevor man sie gelöscht hat.“

Ich sehe mein Spiegelbild.
Aber es ist nicht ich.
Es ist … eine andere Möglichkeit. Eine andere Version.
Ohne Narben. Ohne Licht.
Leer.

„Was du hier siehst“, sagt er, „ist das, was sie aus dir gemacht hätten.“

Ich zögere. Dann hebe ich die Hand.
Berühre das kalte Glas.
Und sehe, wie mein Spiegelbild zu flackern beginnt.
Wie ein Programm, das abstürzt.
Und darunter: die erste Botschaft.

Ein Kreis. In ihm ein Zeichen. Eine Silbe. Kein Wort. Sondern eine Richtung.

„Das ist der Spiegelcode“, sagt er. „Die alten Träger haben ihre letzten Routen in Reflexionen versteckt. Nur wer sich selbst erkennt, kann sie lesen.“

Ich drehe mich um.
Die Halle ist ein Labyrinth aus Licht und Irrtum.
Doch der Weg ist sichtbar – nur dort, wo ich mich nicht erkenne.

Ich gehe weiter. An jedem Spiegel prüfe ich mein Bild.
Und immer dort, wo etwas nicht stimmt, wo das Lächeln fehlt, die Narbe nicht sitzt, die Augen zu hell sind – dort öffnet sich eine Tür.

Am Ende des Pfades: ein Spiegel, der nichts zeigt. Kein Bild. Keine Reflexion. Nur dunkle Tiefe.
Ich strecke die Hand aus.

Und das Glas gibt nach.

Ich falle.

Keine Angst.
Nur Übergang.
Ich lande in einem Raum ohne Decke. Ohne Boden. Ohne Schwerkraft.
Vor mir: ein leuchtender Kreis.
Wie das Zeichen auf meiner Haut.
Darin: Linien, tanzend, vibrierend.
Ein neues Fragment.

Ich berühre es.
Und das Licht schießt in meine Augen.

Ich sehe Städte, die noch nicht gebaut sind.
Namen, die noch nicht gesprochen wurden.
Eine Welt, die noch nicht erinnert wird.

Doch sie kommt.
Wenn wir das letzte Licht weitertragen.

Die Kartographen des Vergessens

Als ich die Augen wieder öffne, ist er fort.
Nicht verschwunden – weitergezogen.
Denn der Weg ist nun fragmentiert, geteilt wie Wissen in Zeiten der Kontrolle.
Wir Träger sind nie lange beieinander. Wir verlaufen uns absichtlich – damit niemand alles zugleich finden kann.

Ich bin allein, aber nicht verloren.
Denn auf meiner Haut hat sich ein neuer Pfad eingeschrieben.
Er zieht sich über den Schlüsselbeinbogen bis zur Rippe – ein Netz aus Linien, verästelt wie eine Stadt, die man nie besucht, aber oft geträumt hat.

Ich folge ihm.

Er führt mich durch Ruinen, in denen die Luft selbst noch Geschichten flüstert. Alte Bahnhöfe, in denen keine Züge mehr fahren, aber jedes Gleis noch den Lärm einer Flucht kennt.
Verlassene Schulen, in denen Kreidetafeln mit Namen gefüllt sind, die nicht mehr gesprochen werden dürfen.
Und schließlich: eine Tür aus Kupfer.

Sie öffnet sich nicht.
Sie fragt.

Ein leiser Impuls geht durch meinen Arm.
Die Linien auf meiner Haut leuchten auf – und die Tür erkennt mich.

Hinter ihr liegt kein Raum.
Sondern ein Archiv.

Eine Halle, so alt, dass selbst der Staub sich nicht mehr bewegt.
An den Wänden: Menschen.
Sitzend. Ruhend.
Jeder von ihnen trägt eine Karte.
Jeder ein Fragment.
Sie sprechen nicht.
Doch ihre Körper erzählen.

Ich bin in der Versammlung der Kartographen.

Nicht Schriftgelehrte. Nicht Zeichner.
Sondern Erinnerungsbewahrer.

Sie kartographieren nicht Orte.
Sondern das, was verloren wurde.

Eine Frau tritt aus der Reihe.
Ihre Stimme ist heiser wie alter Wind.
„Du trägst das letzte Licht. Und damit: die Schuld. Und die Möglichkeit.“

Ich senke den Blick.
„Was muss ich tun?“

Sie hebt die Hand.
Ein Muster wird sichtbar. Auf ihrer Brust.
Ein Teil, das meinem entspricht – aber gespiegelt, verzerrt, wie eine Wahrheit, die sich windet.

„Du musst uns wieder zusammensetzen“, sagt sie.

Und ich verstehe:

Dies ist kein Buch. Kein Netz. Kein Lied.

Es ist ein Körper.
Zerschnitten.
Verstreut.
Und ich bin die Flamme, die ihn wieder näht.

Das Nadellicht

Die Kartographen haben keinen Plan.
Sie sind der Plan.

Jeder Körper – eine Linie.
Jede Narbe – ein Grenzverlauf.
Jedes Tattoo – ein verlorener Ort, der durch sie weiterlebt.

Und nun soll ich sie verbinden.

Die Frau mit dem Spiegelmuster führt mich in den innersten Kreis. Dort steht eine Vorrichtung: filigran, aus Glas und feinem Draht, in der Mitte eine Nadel, so dünn wie Licht selbst. Kein Metall. Kein Kunststoff.
Sie besteht aus Erinnerung.
Sie zittert, wenn ich sie ansehe.

„Du wirst sie führen“, sagt sie.
„Doch nicht mit der Hand – mit dem Herz.“

Ich lege meine Finger auf das Lichtfeld.
Es ist warm. Nicht heiß – wissend.
Dann beginnt die Arbeit.


Die Nadel bewegt sich von Körper zu Körper.

Sie sticht nicht.
Sie berührt.
Sie folgt den Linien, die verborgen sind – unter der sichtbaren Haut, unter der Angst, unter dem Schweigen.

Ein alter Mann mit leeren Augen.
Eine Jugendliche mit einer Uhr statt Herz.
Ein Zwilling, der allein geblieben ist.

Ich berühre sie.
Und ihr Licht fließt.
In mich.
Durch mich.
In die Nadel.

Jedes Fragment schreibt sich weiter.
Die Linien dehnen sich aus, beginnen sich zu überlagern.
Der Raum selbst beginnt zu vibrieren – als würde die Architektur dem Druck der Wahrheit nicht standhalten.

Ich weiß, was nun kommt.

Das Leuchtwerk war nie nur ein Netzwerk.

Es war ein Körper.
Ein einziger.
Verstreut über Jahrhunderte.
Nun kehrt er zurück.

Als ich das letzte Fragment verbinde – ein Kind mit einer einzigen Linie auf dem Rücken: ein Kreis mit einem Punkt darin –, schließt sich das Muster.

Ein Lichtstrahl fährt durch den Raum.

Alle Kartographen schließen gleichzeitig die Augen.
Und atmen aus.

Nicht tot.
Entlassen.

Sie sind nicht mehr Träger.
Ich bin es nun.
Allein.
Mit allem.


Ich falle auf die Knie.
Nicht aus Schwäche – aus Gewicht.
Das Licht pulsiert unter meiner Haut wie ein zweiter Blutstrom.
Und ich weiß:
Es bleibt nur ein Schritt.

Die Sendung.

Die letzte.

Die Stimme aus Licht

Der Ort ist nicht spektakulär.
Ein Dach.
Ein rostendes Stahlgerüst.
Darüber nur Himmel – und darin: das Flimmern.

Ich stehe allein.
Er ist nicht mehr bei mir.
Die Kartographen sind fort.
Was bleibt, bin ich.
Und das, was ich trage.

Meine Haut ist Licht.
Kein metaphorisches.
Echtes.
Pulsierend.
Es strömt aus mir wie Dampf aus alten Schornsteinen – kein Feuer, aber Erinnerung an Glut.

Der Himmel über mir beginnt zu reagieren.
Wolken, die sich wie Muster legen.
Sterne, die sich bewegen, als formten sie Schriftzüge aus Vergangenheit.

Ich nehme das alte Gerät aus meinem Mantel.
Kein Sender. Kein Empfänger.
Ein Relikt.
Aber es reicht.

Denn das Leuchtwerk braucht keine Technik mehr.
Nur eine Stimme.

Ich setze mich.
Und beginne zu sprechen.

„Wir waren viele.
Wir wurden getrennt.
Man hat uns ausgelöscht – nicht durch Gewalt,
sondern durch das Löschen unserer Worte.
Aber wir erinnern uns.
Unsere Körper erinnern sich.
Unsere Narben.
Unsere Zeichen.

Was du vergisst, wird nicht verschwinden,
solange jemand es weiterträgt.

Ich trage es.

Und wenn du mich hörst –
wenn du das Licht spürst auf deiner Haut –
dann weißt du:
Du trägst es jetzt auch.

Und du wirst es weitergeben.

So wird das Leuchtwerk nie verlöschen.“

Ich schließe die Augen.

Überall, in den Schatten der Stadt, beginnen Menschen zu erwachen.
Nicht wie aus Schlaf.
Sondern wie aus Stille.

Ein Flackern hier.
Ein Wispern dort.

Und dann: Flammen.
Auf Händen.
Auf Rücken.
Auf Stirnen.

Kein Feuer der Zerstörung.
Sondern das Feuer der Erinnerung.

Ich bin nicht mehr allein.

Und ich weiß:

Das letzte Licht
war nur
der Anfang.

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