As Time Goes By

Das falsche Büro

Ich stehe wie jeden Morgen vor dem vertrauten grauen Betonklotz, der sich mein Arbeitsplatz nennt. Leicht verkatert, wie so oft am Dienstag, weil Montagabend immer diese bescheuerte Happy Hour im „Letzten Versuch“ ist. Vier Euro für ein Bier, das ist nicht wirklich happy, aber besser als der Rest der Woche.

Was mich heute stört, ist dieses komische Gefühl. Kennt ihr das? Wenn etwas nicht stimmt, aber ihr könnt nicht genau sagen, was es ist? Als hätte jemand eure Wohnung aufgeräumt, während ihr weg wart. Alles ist da, aber irgendwie… anders.

Das Gebäude steht wie immer da. Neun Stockwerke grauer Beton, Fenster im Schachbrettmuster, die Glastüren am Eingang. Aber irgendwas ist seltsam. Vielleicht das Licht? Es scheint schräg auf die Fassade zu fallen, als käme die Sonne aus der falschen Richtung. Unsinn, natürlich. Die Sonne kann nicht einfach beschließen, woanders aufzugehen.

„Morgen, Heinz!“ Frau Berger vom Empfang nickt mir zu, als ich durch die Tür trete. Moment mal. Heinz? Mein Name ist nicht Heinz. Nie gewesen.

„Äh, guten Morgen,“ murmle ich und gehe schnell weiter. Vielleicht habe ich mich verhört. Frau Berger ist über sechzig und trägt ein Hörgerät, das sie ständig zu niedrig einstellt, damit sie nicht alle Gespräche im Großraumbüro mitbekommt.

Die Lobby sieht… fast richtig aus. Grauer Marmorboden, die große Uhr an der Wand, die digitale Anzeigetafel mit den Stockwerken und Abteilungen. Aber die Pflanzen sind anders. Seit wann haben wir Kakteen statt dieser langweiligen Gummibäume? Und die Uhr zeigt 8:17 Uhr. Meine Armbanduhr sagt 9:23 Uhr.

Ich schüttle den Kopf und gehe zum Aufzug. Mein Zeitmesser muss falsch gehen. Ich drücke auf den Knopf und warte. Die Türen öffnen sich sofort, was nie passiert. Normalerweise wartet man mindestens drei Minuten, flucht leise vor sich hin, und wenn die Türen endlich aufgehen, ist der Aufzug so voll, dass man seinen Bauch einziehen muss, um noch reinzupassen.

Aber heute ist er leer. Komplett leer. Das ist so ungewöhnlich, dass ich zögere, einzusteigen. Ich schaue mich um, ob jemand anderes dieses Wunder bemerkt. Die Lobby ist seltsam leer für diese Uhrzeit.

Na gut. Ich steige ein und drücke auf die Sechs. Meine Etage. Marketing und Vertrieb, wo ich seit fünf Jahren die Zahlen für Produkte analysiere, die niemand braucht.

Der Aufzug rauscht nach oben, schneller als sonst. Kein Ruckeln, kein metallisches Kreischen, das einem durch Mark und Bein geht. Einfach ein sanftes Gleiten, als würde ich in einem teuren Hotel fahren und nicht in unserem Büroklotz, der vermutlich aus den Siebzigern stammt und damals schon veraltet war.

Pling! Sechster Stock. Die Türen öffnen sich, und ich trete hinaus.

„Was zum…?“ Ich bleibe wie angewurzelt stehen.

Das ist nicht meine Etage. Das kann nicht meine Etage sein. Anstelle der grauen Trennwände, der beigen Teppichböden und der endlosen Reihen von identischen Schreibtischen sehe ich einen riesigen, offenen Raum. Die Wände sind in einer warmen Terrakotta gestrichen. Große Pflanzen stehen überall herum, nicht diese traurigen vertrockneten Dinger, die bei uns den Geist aufgegeben haben, sondern prächtige, saftig grüne Gewächse. Anstelle von Neonröhren hängen stylische Lampen von der Decke, die ein warmes, goldenes Licht verströmen.

Und die Menschen. Sie tragen keine grauen Anzüge oder langweiligen Blusen. Sie sind in bunten, bequem aussehenden Klamotten, als wären sie in irgendeinem hippen Start-up und nicht in einem seelenraubenden Konzern.

Habe ich den falschen Knopf gedrückt? Ist das die Etage dieser neuen Designfirma, von der ich gehört habe? Ich drehe mich um und schaue auf die Anzeige über dem Aufzug. 6. Eindeutig die Sechs.

„Guten Morgen, Heinz! Reichlich spät heute, was?“ Eine Frau mit kurzen blauen Haaren und einer runden Brille kommt auf mich zu und reicht mir einen Becher Kaffee. „Wie üblich, schwarz mit einem Schuss Haselnuss.“

Ich hasse Haselnuss im Kaffee. Und mein Name ist immer noch nicht Heinz!

„Danke,“ sage ich automatisch und nehme den Becher. „Äh, ich glaube, da ist ein Missverständnis…“

„Natürlich, die Präsentation! Keine Sorge, ich habe schon angefangen. Die Kunden sind im Konferenzraum C. Du kannst direkt dazustoßen.“ Sie zwinkert mir zu und wirbelt davon, bevor ich protestieren kann.

Welche Präsentation? Welche Kunden? Ich habe heute nur einen Termin, und der ist intern, mit diesem Idioten aus der Buchhaltung, der immer meine Spesenabrechnungen anzweifelt.

Ich stehe da, mit dem Kaffeebecher in der Hand, und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Bin ich im falschen Gebäude? Nein, die Außenfassade ist dieselbe. Bin ich in der falschen Etage? Die Anzeige sagt nein. Bin ich verrückt geworden? Möglich.

„Hey, Heinz, kommst du?“ Ein Typ mit Vollbart und Tattoos am Arm winkt mir vom anderen Ende des Raumes zu. Vor ihm liegen mehrere aufgeklappte Laptops und bunte Mappen.

Ich beschließe, mitzuspielen. Vielleicht ist das einer dieser Träume, in denen man weiß, dass man träumt, aber nicht aufwachen kann. Ich gehe langsam durch den Raum und versuche, möglichst normal zu wirken, was schwer ist, da ich keine Ahnung habe, was hier normal sein soll.

Die Leute grüßen mich im Vorbeigehen. „Morgen, Heinz!“ – „Hey, Heinz, tolles Hemd!“ – „Wie war dein Date gestern, Heinz?“ Alle nennen mich Heinz. Und alle scheinen zu glauben, ich gehöre hierher.

Ich komme beim Typ mit dem Bart an. „Hör mal,“ flüstere ich, „ich glaube, ich bin etwas durcheinander heute. Könntest du mir kurz auf die Sprünge helfen? Worum geht’s bei dieser Präsentation?“

Er lacht. „Hat dich der Jetlag so hart erwischt? Du warst doch nur übers Wochenende in Zürich!“ Er schlägt mir auf die Schulter. „Wir präsentieren das neue Kampagnenkonzept für die Sorgel-Kette. Du weißt schon, diese Bioläden, die jetzt in ganz Deutschland expandieren wollen. Deine Idee mit dem sprechenden Kürbis hat sie total begeistert!“

Sprechender Kürbis? Was zum Teufel…?

„Ja, natürlich,“ lüge ich. „Der Kürbis. Super Sache.“

Er grinst. „Du bist echt fertig, Mann. Hier, nimm die Mappe. Alles drin, was du brauchst. Triff uns in fünf Minuten im Konferenzraum.“

Er drückt mir eine knallgrüne Mappe in die Hand und geht davon. Ich öffne sie vorsichtig. Drinnen sind bunte Ausdrucke einer Werbekampagne für „Sorgels Bio-Oasen“. Und tatsächlich: Ein großer, orangefarbener Kürbis mit Gesicht, der fröhlich über den Wert von biologischem Anbau spricht.

Diese Idee ist so dämlich, dass ich sie niemals vorgeschlagen hätte. Außerdem arbeite ich nicht im Kreativteam. Ich bin Analyst. Ich mache Excel-Tabellen, keine sprechenden Gemüse.

Ich blättere weiter durch die Mappe. Überall steht mein Name: „Konzept: Heinz Weller.“ Heinz verdammter Weller.

Der Raum um mich herum dreht sich leicht. Habe ich einen Schlaganfall? Eine Amnesie? Bin ich in einem parallelen Universum gelandet, in dem ich Heinz heiße und mir sprechende Kürbisse ausdenke?

Ich muss raus hier. Sofort. Ich lege die Mappe auf einen Tisch und gehe schnell zum Aufzug zurück. Niemand scheint meine Flucht zu bemerken; alle sind beschäftigt mit ihren hippen Kreativjobs in ihrem hippen Büro.

Ich drücke den Knopf für das Erdgeschoss. Die Türen schließen sich, und ich atme erleichtert aus. Der Aufzug fährt nach unten, wieder mit dieser unheimlichen Geschmeidigkeit.

Als die Türen sich öffnen, erwarte ich die graue Lobby mit dem Marmorboden und Frau Berger am Empfang. Stattdessen sehe ich… einen Swimmingpool. Einen verdammten Swimmingpool mitten in unserem Bürogebäude.

„Was zum…?“ Ich reibe mir die Augen. Der Pool ist immer noch da. Türkisblaues Wasser, das leicht im Licht schimmert, umgeben von Liegestühlen und Palmen. Mehrere Leute plantschen im Wasser oder sonnen sich auf den Stühlen.

„Heinz! Da bist du endlich!“ Eine Frau in einem roten Bikini winkt mir zu. Sie kommt näher, und ich erkenne mit Schrecken unsere Finanzchefin, Frau Dr. Schmidt. Die strenge, ältere Dame, die normalerweise aussieht, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt, lächelt mich an und trägt nichts als diesen winzigen roten Bikini.

„Wir warten schon auf dich für das Wasserball-Match! Management gegen Kreativ, wie jeden Dienstagmorgen!“

Wasserball? Am Dienstagmorgen? In unserem Bürogebäude?

„Ich… äh… habe meine Badehose vergessen,“ stammle ich.

Frau Dr. Schmidt – oder diese bizarre Version von ihr – lacht. „Oh Heinz, du und deine Witze! Deine Sachen liegen wie immer in deinem Spind.“ Sie deutet auf eine Reihe von Holzspinden an der Wand. „Beeil dich, wir wollen anfangen!“

Ich nicke mechanisch und gehe zu den Spinden. Auf einem steht tatsächlich „H. Weller“. Ich öffne ihn vorsichtig. Drinnen hängt eine knallgrüne Badehose mit Kaktusprint, ein Handtuch und ein T-Shirt mit dem Logo „Kreativ-Team“ darauf.

Das ist zu viel. Definitiv zu viel. Ich schließe den Spind und renne zurück zum Aufzug. Keiner der Schwimmer scheint meine Panik zu bemerken.

Im Aufzug drücke ich wild auf alle Knöpfe. Irgendwo in diesem verrückten Gebäude muss es doch einen normalen Stock geben! Einen mit langweiligen Büros, grauen Wänden und Menschen, die wissen, wer ich wirklich bin!

Der Aufzug fährt nach oben, hält im dritten Stock. Die Türen öffnen sich zu einem…Dschungel. Ein verdammter Dschungel, komplett mit hohen Bäumen, exotischen Blumen und dem Geräusch von Vogelgezwitscher und fernen Wasserfall.

„Heinz! Endlich! Die Affen sind wieder ausgebrochen!“ Ein Mann in Tropenkleidung und Safarihut rennt auf mich zu. „Wir brauchen deine Affenfänger-Fähigkeiten!“

Ich drücke panisch auf den Knopf, um die Türen zu schließen, und wähle den siebten Stock. Der Aufzug bewegt sich wieder.

Siebter Stock: Eine Zirkusmanege. Achter Stock: Ein mittelalterlicher Bankettsaal mit einem laufenden Festmahl. Neunter Stock: Ein futuristisches Labor mit blinkenden Lichtern und summenden Maschinen.

Ich kehre schließlich zum Erdgeschoss zurück, nicht zum Pool, sondern zur Lobby. Frau Berger sitzt am Empfang, als wäre nichts passiert.

„Schon wieder runter, Herr Schmidt?“ fragt sie, ohne aufzublicken.

Schmidt? Jetzt bin ich Schmidt?

„Ja,“ sage ich schwach. „Ich… ich glaube, ich gehe nach Hause. Fühle mich nicht so gut.“

„Natürlich, Herr Schmidt. Soll ich einen Arzt rufen?“

„Nein, danke.“ Ich stolpere zur Tür und trete hinaus in die Morgensonne, die immer noch aus der falschen Richtung zu kommen scheint.

Draußen setze ich mich auf eine Bank und versuche, meinen rasenden Puls zu beruhigen. Was zum Teufel ist hier los? Bin ich verrückt geworden? Träume ich? Ist dies ein besonders ausgefeilter Streich meiner Kollegen?

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Vielleicht kann ich jemanden anrufen, der mir sagt, dass ich nicht den Verstand verliere. Ich entsperre es – und stöhne. Das Hintergrundbild zeigt nicht meine Katze, sondern einen sprechenden Kürbis. Und die Kontakte… lauter Namen, die ich nicht kenne. Kein einziger meiner Freunde oder Familienmitglieder.

Ich spüre, wie mir die Panik die Kehle zuschnürt. Ich muss zurück in meine Welt, in mein langweiliges, normales Leben mit meinem langweiligen, normalen Job und meinem langweiligen, normalen Namen.

Ich schaue zum Bürogebäude hoch. Von außen sieht es völlig normal aus. Aber ich weiß jetzt, was sich darin verbirgt: eine Art Wahnsinn, eine verdrehte Realität, in der nichts ist, wie es sein sollte.

Durch die Glastüren kann ich Frau Berger am Empfang sehen. Sie blickt kurz auf, direkt zu mir, und – lächelt sie? Nicht freundlich, sondern… wissend?

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Hat sie etwas damit zu tun? Weiß sie, was hier vor sich geht?

Ein Mann setzt sich neben mich auf die Bank. Ich zucke zusammen und rutsche weg.

„Keine Sorge,“ sagt er ruhig. „Ich bin auch gerade erst angekommen.“

Ich starre ihn an. Er trägt einen normalen grauen Anzug, wie die Leute in meinem Büro. Er sieht völlig durchschnittlich aus, mit schütterem Haar und einer leicht schiefen Brille.

„Sind Sie… sind Sie auch… verwirrt?“ frage ich vorsichtig.

Er lächelt müde. „Das erste Mal ist immer am schlimmsten. Man gewöhnt sich daran.“

„Das erste Mal? Wovon reden Sie?“

Er deutet auf das Gebäude. „Es passiert jeden Dienstag. Manchmal auch donnerstags. Das Gebäude… verändert sich. Und wir mit ihm.“

Ich starre ihn ungläubig an. „Und niemand tut etwas dagegen?“

Er zuckt mit den Schultern. „Was soll man tun? Zur Polizei gehen? ‚Entschuldigen Sie, Officer, aber mein Bürogebäude verwandelt sich in einen Dschungel, und alle nennen mich Heinrich‘?“ Er schüttelt den Kopf. „Sie würden uns einweisen.“

„Aber… aber warum? Warum passiert das?“

Er seufzt. „Keine Ahnung. Vielleicht ist es das Gebäude selbst. Vielleicht will es nicht, dass wir jeden Tag dasselbe tun, dieselben langweiligen Leben führen. Vielleicht ist es seine Art, uns aufzuwecken.“

„Das ist Wahnsinn,“ flüstere ich.

„Ist es das?“ Er schaut mich ernst an. „Was ist wahnsinniger – ein Gebäude, das sich gelegentlich verändert, oder Menschen, die ihr ganzes Leben in grauen Kisten verbringen, dieselben sinnlosen Aufgaben erledigen und so tun, als wäre das normal?“

Ich habe keine Antwort darauf.

„Der Trick ist,“ fährt er fort, „mitzuspielen. Für ein paar Stunden. Sei dieser Heinz, der sprechende Kürbisse erfindet. Oder dieser Schmidt, der Wasserball spielt. Am Ende des Tages wird alles wieder normal sein. Oder zumindest das, was wir für normal halten.“

„Und wenn nicht?“

Er steht auf und klopft mir auf die Schulter. „Dann hast du ein viel interessanteres Leben als zuvor.“ Er geht auf das Gebäude zu, dreht sich noch einmal um. „Kommst du?“

Ich zögere. Die Vorstellung, wieder in dieses verrückte Gebäude zu gehen, jagt mir Angst ein. Aber gleichzeitig… ist da nicht auch Neugier? Ein kleiner Teil von mir will wissen, was sich hinter den anderen Türen verbirgt. Welche anderen Leben ich dort leben könnte.

„Na gut,“ sage ich schließlich und stehe auf. „Aber nur für heute.“

Er lächelt. „Das sage ich auch immer.“

Gemeinsam gehen wir auf das Gebäude zu, dessen Fassade jetzt in der Morgensonne zu schimmern scheint, als wäre sie lebendig. Als wäre das Gebäude selbst erfreut über unsere Entscheidung.

Frau Berger grüßt uns am Eingang. „Willkommen zurück, Herr Schmidt. Und Herr…?“ Sie blickt fragend auf meinen neuen Bekannten.

„Heinz,“ sagt er und zwinkert mir zu. „Heinz Weller.“

Wir steigen in den Aufzug, und ich drücke auf die Sechs. Zeit, einem sprechenden Kürbis Leben einzuhauchen. Zumindest für heute.

Der Aufzug setzt sich in Bewegung, und ich spüre, wie sich etwas in mir entspannt. Vielleicht hat der Mann Recht. Vielleicht ist ein bisschen Wahnsinn genau das, was mein langweiliges Leben braucht.

Die Türen öffnen sich zum sechsten Stock, und mir schlägt warmes, goldenes Licht entgegen. Ich trete hinaus, bereit für was auch immer mich erwartet. Immerhin ist es nur ein Traum. Ein wundersamer, verrückter Traum, aus dem ich irgendwann aufwachen werde.

Oder?

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