Das Déjà-vu im Restaurant

Ich sitze an einem Tisch am Fenster und starre auf die Speisekarte, während mir eine seltsame Gewissheit den Nacken hochkriecht. Kenn ich schon. Das gesamte Restaurant, die weinrote Tapete mit den verblassten goldenen Ornamenten, der leicht schiefe Kronleuchter, sogar der kleine Fleck auf der Tischdecke links von meinem Weinglas – all das habe ich schon einmal gesehen. Aber ich war noch nie hier. Dessen bin ich mir sicher. Oder?
Der Kellner kommt zu mir. Ein älterer Herr mit akkurat gestutztem grauem Schnurrbart und tiefen Falten um die Augen. Seine Fliege sitzt leicht schief, und sein weißes Hemd hat am rechten Ärmel einen winzigen Fleck, den er mit einer unbewussten Handbewegung zu verdecken versucht.
„Haben Sie gewählt?“, fragt er, und seine Stimme klingt genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Tief, etwas rau, mit einem leichten Akzent, den ich nicht ganz zuordnen kann.
„Einen Moment noch“, sage ich, obwohl ich innerlich schon weiß, dass ich die Spaghetti alla puttanesca bestellen werde, auch wenn ich sie noch nicht auf der Karte gefunden habe.
Er nickt und verschwindet. Ich blättere weiter, und da steht es, genau auf der dritten Seite, untere rechte Ecke, gleich unter den Risotto Gerichten. Spaghetti alla puttanesca. Die Beschreibung kenne ich auswendig, bevor ich sie lese: „Mit Tomaten, Kapern, schwarzen Oliven, Knoblauch und einem Hauch Sardelle.“ Ein vertrautes Kribbeln breitet sich in meinem Magen aus.
Durch das Fenster sehe ich Menschen vorbeihasten. Es regnet leicht, ein feiner Nieselregen, der die Straßenlaternen in verschwommene Lichtpunkte verwandelt. Eine Frau mit rotem Regenschirm bleibt kurz stehen, schaut auf ihr Handy, dann direkt zum Fenster. Unsere Blicke treffen sich für einen Moment. Ich kenne sie. Oder? Sie geht weiter, und die Gewissheit verblasst.
Der Kellner kehrt zurück. „Und? Haben Sie sich entschieden?“
„Spaghetti alla puttanesca“, sage ich, ohne nachzudenken.
Er lächelt, als hätte er meine Wahl erwartet. „Eine ausgezeichnete Wahl. Und zum Trinken?“
„Ein Glas des Haus-Rotweines, bitte.“
Wieder dieses Lächeln, das mehr weiß, als es preisgibt. „Natürlich.“
Als er geht, bemerke ich den leichten Humpelschritt seines rechten Beines. Natürlich. Er hatte einen Unfall, denke ich, vor drei Jahren auf dem Eis. Woher weiß ich das? Ich kann es mir nicht erklären, aber die Information sitzt in meinem Kopf wie eine lang vergessene Erinnerung, die plötzlich wieder aufgetaucht ist.
Das Restaurant füllt sich langsam. Die Geräuschkulisse schwillt an, ein Gemisch aus Stimmengewirr, klirrendem Geschirr und leiser Hintergrundmusik. Eine Melodie, die ich kenne. Ein altes italienisches Lied, melancholisch und süß zugleich. Ich summe unwillkürlich mit, obwohl ich den Text nicht kenne. Oder doch?
An einem Tisch in der Ecke lacht eine Frau laut auf. Ihre Lachsalve durchbricht die Geräuschkulisse wie ein Blitz, und ich weiß, noch bevor ich mich umdrehe, dass sie blondes Haar hat, zu einem lockeren Dutt hochgesteckt, mit einer einzelnen widerspenstigen Strähne, die ihr ins Gesicht fällt. Ich drehe mich um. Genauso ist es.
Mein Wein kommt. Der erste Schluck schmeckt nach Brombeeren und einem Hauch Vanille, genau wie ich es erwartet hatte. Ich nehme einen zweiten Schluck, und ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt der Kellner, der plötzlich wieder neben mir steht.
„Ja“, sage ich, obwohl nichts in Ordnung ist. Alles ist seltsam vertraut, wie ein Traum, den man schon einmal geträumt hat. „Der Wein ist ausgezeichnet.“
„Freut mich zu hören.“ Er zögert, als wolle er noch etwas sagen, entscheidet sich dann aber dagegen und geht.
Ich beobachte weiter das Treiben im Restaurant. Ein Paar mittleren Alters sitzt zwei Tische weiter und spricht leise miteinander. Sie berührt immer wieder ihr Ohrläppchen, wenn sie zuhört. Er faltet seine Serviette zu immer kleineren Quadraten, während er redet. Sie wirken vertraut miteinander, aber nicht völlig entspannt. Eine leichte Spannung liegt in der Luft zwischen ihnen, wie vor einem Gewitter.
Ich weiß, dass sie gleich aufstehen und gehen wird. Sie wird ihre Handtasche nehmen, ihm einen langen Blick zuwerfen und dann ohne ein weiteres Wort Richtung Ausgang gehen. Er wird ihr nicht sofort folgen, sondern noch einen Schluck Wein trinken, tief durchatmen und dann hastig bezahlen.
Und genau so passiert es. Sie steht auf, nimmt ihre Handtasche, dieser lange Blick, dann geht sie. Er trinkt aus, atmet tief durch, winkt den Kellner heran. Ich spüre, wie sich meine Nackenhaare aufstellen.
Meine Spaghetti kommen, der Duft von Knoblauch, Tomaten und Olivenöl steigt mir in die Nase. Der Teller ist heiß, dampfend, mit einem Hauch frischem Basilikum garniert. Ich weiß, dass die erste Gabel perfekt sein wird, die zweite leicht zu salzig, und beim dritten Bissen werde ich eine Kaper finden, die ich nicht mag, aber trotzdem essen werde.
Ich nehme die erste Gabel. Perfekt. Zweite Gabel. Zu salzig. Dritte Gabel – da ist sie, die Kaper. Ich esse sie trotzdem.
Draußen hat der Regen zugenommen. Die Tropfen perlen am Fenster herunter und verschwimmen zu kleinen Bächen. Die Straße glänzt im Licht der Laternen. Eine alte Frau mit einem winzigen Hund an der Leine geht vorbei, geschützt unter einem durchsichtigen Regenschirm.
Der Hund bleibt stehen, schaut zum Fenster herein und bellt einmal kurz. Ich wusste, dass das passieren würde. Die Frau zieht an der Leine, und sie setzen ihren Weg fort.
„Schmeckt es?“, fragt der Kellner, der wieder an meinem Tisch erschienen ist.
„Hervorragend“, antworte ich, und meine es auch so. Die Pasta ist al dente, die Sauce reich und komplex.
„Das freut mich.“ Er lächelt und ich bemerke eine goldene Zahnfüllung hinten rechts. „Möchten Sie noch etwas Wein?“
Ich nicke, obwohl ich eigentlich nicht mehr trinken wollte. Aber es fühlt sich richtig an, so als müsste ich es tun, um einer unsichtbaren Choreografie zu folgen.
Als er weggeht, bemerke ich einen Mann, der gerade das Restaurant betritt. Groß, breitschultrig, mit durchnässtem Mantel und einem ernsten Gesichtsausdruck. Er schaut sich kurz um, dann kommt er direkt auf meinen Tisch zu. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich weiß, was als nächstes passiert, und doch kann ich es nicht verhindern.
„Ist dieser Platz frei?“, fragt er und deutet auf den Stuhl mir gegenüber.
Das Restaurant ist nicht voll. Es gibt mindestens fünf andere freie Tische. Trotzdem sage ich: „Ja, bitte, setzen Sie sich.“
Er lächelt knapp, hängt seinen nassen Mantel über die Stuhllehne und setzt sich. Wasser tropft von seinem dunklen Haar auf den Tisch. Er wischt es mit seiner Serviette weg und sagt: „Schlimmes Wetter draußen.“
„Ja“, sage ich. „Der Regen soll die ganze Nacht anhalten.“
„Woher wissen Sie das?“, fragt er mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen.
Ich zucke mit den Schultern. „Hab ich gehört.“
Der Kellner bringt meinen Wein und nimmt die Bestellung des Fremden auf. Er bestellt Risotto mit Steinpilzen und einen Espresso. Ich wusste es.
„Kommen Sie oft hierher?“, fragt der Mann, nachdem der Kellner gegangen ist.
„Nein“, sage ich. „Das ist mein erstes Mal.“ Die Worte fühlen sich falsch an in meinem Mund.
„Seltsam“, sagt er, „ich hätte schwören können, dass ich Sie schon einmal hier gesehen habe.“ Er lehnt sich zurück und mustert mich intensiv. Seine Augen sind dunkel, fast schwarz, mit kleinen goldenen Flecken im linken Auge.
„Vielleicht verwechseln Sie mich“, sage ich, obwohl ich weiß, dass er recht hat. Wir waren schon einmal hier, genau an diesem Tisch, mit genau diesem Gespräch.
„Vielleicht“, sagt er, aber sein Ton verrät, dass er mir nicht glaubt. „Ich vergesse nie ein Gesicht.“
Der Kellner bringt seinen Espresso. Der Mann trinkt ihn in einem Zug aus, ohne Zucker. Ich weiß, dass er immer so trinkt, schnell und bitter.
„Was machen Sie beruflich?“, fragt er, und wischt sich mit dem Finger einen Tropfen Espresso vom Mundwinkel.
„Ich bin…“ Ich stocke. Was mache ich beruflich? In diesem Moment weiß ich es nicht. Es ist, als hätte ich es vergessen, oder als wäre es unwichtig für die Geschichte, die sich hier abspielt. „Ich arbeite mit Büchern“, sage ich schließlich, was sich richtig anfühlt, auch wenn ich nicht genau sagen könnte, was ich damit meine.
„Interessant“ sagt er. „Ich auch, auf gewisse Weise.“
Sein Risotto kommt, dampfend und duftend. Er nimmt eine Gabel voll, pustet leicht und isst. Ein kleines Lächeln huscht über sein Gesicht.
„Gut?“, frage ich.
„Perfekt“ sagt er. „Genau wie ich es in Erinnerung hatte.“
Diese Worte lösen etwas in mir aus. Eine Welle von Déjà-vu so stark, dass mir kurz schwindelig wird. Ich greife nach meinem Weinglas, um mich zu stabilisieren.
„Alles in Ordnung?“, fragt er besorgt.
„Ja“, sage ich, „nur ein kurzer Schwindelanfall. Passiert manchmal.“
Er nickt verstehend. „Die Welt dreht sich manchmal schneller, als wir mithalten können.“
Ich esse weiter meine Pasta, er sein Risotto. Wir unterhalten uns über belanglose Dinge – das Wetter, die Stadt, Bücher, die wir gelesen haben. Mit jedem Satz verstärkt sich mein Gefühl, dass ich dieses Gespräch schon einmal geführt habe, jedes Wort, jede Pause, jede kleine Geste.
Als wir fertig sind, kommt der Kellner und räumt ab. „Dessert?“, fragt er.
Der Mann schaut mich an, ich ihn. Wir beide sagen gleichzeitig: „Tiramisu.“ Dann lachen wir, überrascht über die Synchronizität.
„Zwei Tiramisu“, bestätigt der Kellner mit einem wissenden Lächeln.
Als er weg ist, lehnt sich der Mann vor und sagt leise: „Sie spüren es auch, nicht wahr? Diese… Vertrautheit.“
Ich nicke langsam. „Als hätten wir das alles schon einmal erlebt.“
„Genau“, sagt er, „jedes Detail. Die Pasta, der Wein, sogar der Fleck auf der Tischdecke.“ Er deutet auf den kleinen Fleck neben meinem Weinglas.
„Vielleicht waren wir in einem früheren Leben hier“, sage ich halb im Scherz.
Er lacht nicht. „Oder in einem Traum.“
Das Wort „Traum“ hallt in meinem Kopf wider, als hätte er einen Gong angeschlagen. Natürlich. Ein Traum. Das würde alles erklären.
Das Tiramisu kommt, zwei identische Portionen auf weißen Tellern, mit einem Hauch Kakaopulver und einer kleinen Minzgarnitur.
Wir nehmen beide unsere Löffel und tauchen sie exakt in die gleiche Ecke des Desserts, die linke vordere. Wieder dieses Lachen, nervös jetzt.
„Was passiert als nächstes?“, fragt er, während er den Löffel absetzt, ohne zu essen.
Ich schließe kurz die Augen und lasse die Bilder kommen. „Sie werden Ihr Handy checken und feststellen, dass Sie einen wichtigen Anruf verpasst haben. Sie müssen gehen, aber Sie möchten wiederkommen. Sie fragen nach meiner Nummer, aber ich gebe sie Ihnen nicht. Stattdessen sage ich, dass wir uns wiedersehen werden, wenn die Zeit reif ist.“
Er starrt mich an, seine Augen weit. „Woher wissen Sie das?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß es einfach.“
In diesem Moment vibriert sein Handy in seiner Tasche. Er zieht es heraus, schaut auf das Display und wird blass. „Ich muss gehen“, sagt er, „ein wichtiger Anruf.“
Er winkt den Kellner heran, bezahlt für uns beide, trotz meines schwachen Protests. Als er aufsteht, zögert er.
„Können wir uns wiedersehen? Ich würde gerne… ich meine…“ Er stockt, unsicher, wie er fortfahren soll.
„Wir sehen uns wieder“, sage ich mit einer Sicherheit, die mich selbst überrascht, „wenn die Zeit reif ist.“
Er nickt, als hätte er keine andere Antwort erwartet, zieht seinen noch feuchten Mantel an und geht. An der Tür dreht er sich noch einmal um und wirft mir einen letzten Blick zu, dann verschwindet er in die regnerische Nacht.
Ich sitze allein am Tisch, das halb gegessene Tiramisu vor mir, und spüre, wie das Déjà-vu langsam abklingt. Die Welt wird wieder solider, weniger traumhaft. Ich esse mein Dessert zu Ende, trinke den letzten Schluck Wein.
Der Kellner kommt ein letztes Mal. „War alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Perfekt“, sage ich. „Als wäre ich wieder zu Hause.“
Er lächelt, ein echtes, warmes Lächeln diesmal. „Das höre ich gerne. Kommen Sie wieder?“
„Das weiß ich noch nicht“, sage ich ehrlich.
Er nickt verstehend. „Manchmal“ sagt er langsam, „müssen wir einen Traum mehrmals träumen, bevor wir seine Botschaft verstehen.“
Diese Worte treffen mich wie ein elektrischer Schlag. „Was meinen Sie damit?“, frage ich, plötzlich hellwach.
Der Kellner lächelt nur geheimnisvoll. „Gute Nacht. Träumen Sie süß.“
Er geht, und sein leichtes Humpeln scheint jetzt deutlicher. Ich bleibe noch einen Moment sitzen, beobachte, wie der Regen gegen die Scheibe prasselt. Die Frau mit dem roten Regenschirm geht wieder vorbei, in die andere Richtung diesmal. Sie bleibt nicht stehen, schaut nicht herein.
Ich stehe auf und gehe zur Tür. Als ich sie öffne, fühlt sich die kühle, regnerische Luft seltsam unwirklich an. Ich trete hinaus, ohne Schirm, und lasse den Regen auf mein Gesicht fallen. Die Tropfen sind warm, fast körperwarm.
Plötzlich weiß ich, dass ich träume. Die Erkenntnis kommt nicht als Schock, sondern als sanfte Gewissheit. Natürlich träume ich. Das erklärt das Déjà-vu, die seltsame Vertrautheit, das Wissen um Dinge, die ich nicht wissen kann.
Ich gehe die Straße entlang, der Regen wird stärker, aber ich werde nicht nass. Die Lichter der Stadt verschwimmen zu bunten Schlieren. In der Ferne höre ich eine Stimme, die meinen Namen ruft. Ich folge ihr, durch Straßen, die ich kenne und doch noch nie gesehen habe.
Die Stimme wird lauter. Es ist die Stimme des Mannes aus dem Restaurant. Er steht unter einer Straßenlaterne, trocken trotz des Regens, und winkt mir zu.
„Du hast es endlich verstanden“, sagt er. „Es war immer ein Traum.“
„Unser Traum?“, frage ich.
„Dein Traum“, sagt er lächelnd. „Ich bin nur ein Teil davon.“
„Und was passiert jetzt?“, frage ich.
„Das“, sagt er, „entscheidest du.“
Der Regen hört abrupt auf. Die Straße, die Laternen, der Mann – alles beginnt zu verblassen, wie ein Foto, das zu lange in der Sonne lag. Ich spüre, wie ich leichter werde, als würde ich schweben.
„Warte“, rufe ich, „ich habe noch Fragen!“
Aber es ist zu spät. Die Welt löst sich auf, und ich spüre, wie ich nach oben gezogen werde, weg von der Traumwelt, zurück in die Realität.
Das letzte, was ich sehe, ist das Restaurant, jetzt von außen, mit seinem warmen Licht, das durch die Fenster scheint. In einem der Fenster sitze ich selbst am Tisch, blättere in der Speisekarte und schaue kurz auf, direkt in meine eigenen Augen.
Dann ist alles weg, und ich öffne meine Augen in der Dunkelheit meines Schlafzimmers, mit dem seltsamen Nachgeschmack von Wein und Tiramisu auf der Zunge und dem Gefühl, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe, etwas, das in dem Restaurant gesagt wurde, das ich jetzt nicht mehr erreichen kann.
Ich strecke mich aus und taste nach dem Notizblock, den ich immer neben dem Bett habe. Ich schreibe im Dunkeln, ohne zu sehen, was ich schreibe: „Restaurant. Mann. Traum im Traum.“ Dann falle ich zurück in den Schlaf, diesmal ohne Träume – oder zumindest keine, an die ich mich am Morgen erinnern werde.