Chiara – unter dem See

Kapitel 1 – Die Reise beginnt
Ich hab keine Lust auf Paris.
Wirklich nicht. Keine Croissants, keine blühenden Kastanien, keine Sonnenaufgänge, die sich zwischen steinerne Fassaden klemmen wie ein letzter Versuch, romantisch zu wirken. Wenn du zu lange in deinem eigenen Kopf wohnst, wird jede Stadt zu Tapete. Schön vielleicht. Aber flach.
Der Zug ruckt, als ich das Handy ausschalte. Mama hat fünfmal angerufen. Ich tu so, als hätt ich’s nicht gesehen. Die Ärztin meint, mein Kreislauf sei schwach, meine Erschöpfung psychosomatisch. Ich soll mir was Gutes tun. Was gönnen. Dabei dreht sie an dieser Goldkette mit dem Delfin dran, als wär ich noch zehn.
Also Paris.
Kuraufenthalt, sagt sie.
Flucht, denk ich.
Das Hotel riecht nach Lavendel und zu viel Reinigungsmittel. Online sah es still aus. In echt putzen sie schon vor acht. Die Frau an der Rezeption nennt mich Mademoiselle, als hätte sie das Wort irgendwo aufbewahrt. Ihr Lächeln ist glatt, die Zimmerkarte auch.
Im Aufzug: Spiegel. Ich seh aus wie eine, die nicht weiß, was sie hier soll. Trifft’s ziemlich genau.
Zimmer 4C.
Ein schmaler Balkon, schmiedeeisern, das Geländer ist kalt wie der Comer See morgens um sechs. Ich bleib draußen stehen. Unter mir tost der Verkehr. Es riecht nach warmem Asphalt, Kaffee, Spülmittel.
Ich hab nichts geplant. Kein Louvre, kein Eiffelturm. Kein Stadtplan. Ich zieh die Vorhänge zu, werf mich aufs Bett. Die Matratze ist härter als erwartet. Irgendwo läuft ein Fernseher. Männerstimme, zu laut.
Dann Stille.
Dann: mein Name.
Ich friere kurz ein.
Hab ich mir das eingebildet?
Aber es klingt, als wäre er direkt im Zimmer gefallen.
Nicht geflüstert, nicht gerufen. Einfach gesagt.
Chiara.
Klar. Ohne Fragezeichen.
Und ich weiß plötzlich nicht mehr, ob ich wirklich allein bin.
Kapitel 2 – Die fremde Stadt
Ich irre durch Paris wie jemand, der eigentlich woanders hingehört.
Nicht verloren – nur… falsch eingesetzt. Wie ein Puzzleteil aus der falschen Schachtel.
Die Straßen sind laut, aber nicht hektisch. Ein anderer Lärm als daheim. Hupen klingen hier anders. Selbst das Schreien klingt hier stilvoll. Ich laufe ohne Ziel, einfach nur geradeaus, biege ab, laufe weiter. Die Gebäude sind hoch, die Fensterläden geschlossen, als würde jeder seine Geschichten lieber für sich behalten.
Ein Café riecht nach warmem Teig und zu viel Parfüm. Ich bleib nicht stehen. Ich glaub, ich such was – nur was, das weiß ich nicht.
Mein Handy vibriert. Mama. Wieder. Ich drück sie weg. Wenn ich jetzt rangehe, holt sie mich zurück mit einem Tonfall. „Du wirkst so blass, Chiara…“ Vielleicht bin ich das. Vielleicht bin ich nur leer.
Ein Straßenmusiker spielt etwas, das wie eine kaputte Erinnerung klingt. Irgendwo hab ich das schon mal gehört. Oder geträumt. Ich steh kurz da, sehe ihm zu. Seine Finger zittern leicht beim Spielen, aber er trifft jeden Ton.
Plötzlich kommt mir der Gedanke:
Vielleicht war ich gar nicht zum ersten Mal hier.
Vielleicht hab ich’s nur vergessen.
Ich bleibe vor einem Schaufenster stehen. Alte Bücher, verstaubt, französische Titel, dazwischen eine kleine Uhr mit römischen Ziffern. Sie läuft rückwärts. Keiner scheint das seltsam zu finden. Ich starr sie lange an. Als wär da was, was ich verstehen müsste. Aber der Moment verrutscht mir, wie ein Wort auf der Zunge, das nicht kommt.
Als ich mich umdrehe, steht da ein Mann.
Alt, grauer Mantel, stechender Blick.
„Chiara?“, sagt er.
Diesmal ist es kein Zufall.
Er meint mich.
Ich sag nichts.
Ich geh einfach weiter.
Langsamer als vorher.
Aber ich spüre seinen Blick im Rücken, noch zwei Straßenecken später.
Kapitel 3 – Zimmer 4C
Ich wache auf, weil das Licht durchs Fenster schneidet, als hätte es sich über Nacht neu erfunden.
Weiße Gardinen, flimmernd wie Wasser. Mein Kopf fühlt sich an wie durchwühlt – ich weiß nicht mehr, ob ich überhaupt geschlafen habe oder nur in irgendwelchen Bildern festgehangen bin. Immer wieder: Wasser.
Tief, kalt, lautlos.
Ich bin drin, ich sinke. Ich sehe nichts – nur einen Punkt unter mir, der heller wird.
Ich bleibe noch liegen. Das Kissen riecht nach Hotelwäsche und einem Hauch Zigarettenrauch. Ich hab gestern niemanden rauchen sehen. Trotzdem ist er da. Und was noch da ist: ein Gefühl. Als hätte ich was vergessen. Oder übersehen. Oder beides.
Ich setze mich auf, sehe mich um.
Das Zimmer wirkt fremder als gestern.
Ein Stuhl steht leicht schräg, als hätte jemand drauf gesessen. Meine Jacke liegt nicht dort, wo ich sie hingelegt habe. Und der Fernseher blinkt, obwohl ich ihn nie angeschaltet habe.
Ich öffne die Balkontür.
Der Straßenlärm schlägt mir entgegen wie ein Schwarm Stimmen. Irgendwo ruft ein Kind, irgendwo lärmt ein Moped. Paris lebt. Und ich stehe da, als wär ich versehentlich mitgebucht worden.
Mein Blick fällt auf den kleinen Tisch neben dem Bett.
Da liegt eine Postkarte.
Ich berühre sie nicht gleich.
Sie ist alt. Oder sieht nur so aus. Die Kanten leicht gewellt, vergilbt. Auf der Vorderseite: der Comer See. Von oben. Mein Haus ist zu erkennen – winzig, fast übersehen. Aber ich erkenne es.
Ich drehe sie um.
Kein Absender.
Keine Briefmarke.
Nur eine Zeile:
Komm zurück. Bevor es zu spät ist.
Ich lache kurz. Trocken.
Kitschige Drohung. Oder schlechter Witz. Oder Warnung.
Ich falte sie zusammen und stecke sie ein.
Und dann horche ich wieder.
Denn ich hab es schon wieder gehört.
Eine Stimme.
„Chiara.“
Nicht laut.
Aber zu nah, um sie zu ignorieren.
Kapitel 4 – Jardin du Luxembourg
Ich gehe raus, weil ich es drinnen nicht mehr aushalte.
Der Flur riecht nach altem Teppich und irgendwas Synthetischem. Ich nehme die Treppe statt des Aufzuges, einfach weil ich nicht noch mal meinem Spiegelbild begegnen will.
Draußen ist es warm. Die Sonne hat diesen weißen Glanz, der alles zu stark macht. Die Autos glänzen zu sehr, die Leute wirken überbelichtet. Ich laufe, ohne viel nachzudenken, Richtung Süden. Irgendjemand im Hotel hat Jardin du Luxembourg gesagt. Keine Ahnung, ob das ein Tipp war oder nur ein Ort.
Der Park ist groß, sauber, geometrisch. Kies knirscht unter meinen Schuhen. Statuen schauen in den Himmel, als hätten sie was gehört.
Ich setze mich auf eine grüne Eisenbank. Um mich herum: Kinder mit Segelbooten, alte Männer mit Schachbrettern, Frauen mit aufgeschlagenen Romanen, die nie umblättern.
Und dann –
kommt er.
Langsam, mit einem Stock. Dünn wie eine alte Birke, die noch steht, aber knackt. Er bleibt direkt vor mir stehen. Kein Lächeln, kein Zögern.
„Chiara Emilia“, sagt er.
Mein zweiter Vorname. Den kennt keiner.
Ich friere.
„Sie haben es nicht vergessen, oder?“
Er wirkt nicht verwirrt. Auch nicht verrückt.
Nur ruhig.
So ruhig, dass es laut wird in meinem Kopf.
Ich schüttel den Kopf, sag irgendwas wie „Verzeihung, Sie verwechseln mich“ – aber es klingt falsch.
Ich steh auf, geh weiter. Nicht schnell. Nur weg.
Der Kies unter meinen Füßen schluckt meine Schritte.
Ich dreh mich nicht um.
Aber ich weiß, er sieht mir nach.
Wie jemand, der einen kennt.
Noch bevor man sich selbst erkennt.
Kapitel 5 – Rue des Échos
Ich gehe ohne Ziel, laufe durch Straßen, die sich alle gleich anfühlen und doch nie wiederkehren.
Irgendwo hinter Saint-Germain verlaufen sich die Touristen, und Paris wird leiser, schmaler, dichter. Ich biege in eine Gasse ab, die ich nicht auf der Karte finde – Rue des Échos steht auf dem emaillierten Schild. Straße des Echos.
Klingt poetisch. Oder übertrieben.
Die Gasse ist eng, gerade mal breit genug für ein Moped. Hohe Mauern, alles ist schattig, kühl. Die Fensterläden sind geschlossen, keiner schaut raus. Ich gehe langsam. Jeder Schritt hallt nach, als wäre jemand direkt hinter mir. Ich bleibe stehen. Nichts. Kein Mensch. Nur mein Atem, mein Puls.
Dann hör ich’s.
Meine eigene Stimme.
Nicht laut. Nicht direkt.
Wie aus einem Lautsprecher, irgendwo versteckt.
„Ich weiß nicht, wer ich bin.“
Die Worte kommen bruchstückhaft, dumpf.
„Ich erinnere mich nicht.“
Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Noch ein Satz.
„Sie weiß es nicht.“
Ich dreh mich im Kreis. Suche den Ursprung. Kein Lautsprecher, keine Kamera, nichts. Nur eine alte Tür, halb offen, dahinter Dunkelheit. Ich trete näher, aber gehe nicht hinein. Mein Herz schlägt mir bis in die Schläfen.
Dann – Stille.
Die Gasse ist wieder leer.
Der Klang versiegt, als hätte ihn jemand abgeschaltet.
Ich geh zurück. Langsam. Fühle mich, als hätte ich mich selbst kurz getroffen – in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit. Oder in einem Tonband, das nicht von mir aufgenommen wurde.
Als ich wieder auf der Hauptstraße bin, spüre ich, wie etwas in mir kippt.
Nicht plötzlich, sondern schräg.
Ein bisschen, als hätte man mein Inneres verstellt. Nur leicht. Gerade genug, dass ich’s merke.
Kapitel 6 – Die Frau mit der Brosche
Am nächsten Morgen hängt meine Jacke nicht mehr an der Garderobe. Ich finde sie später – gefaltet über dem Stuhl, mit dem Zettel in der Tasche, den ich gestern doch weggeworfen habe.
Komm zurück. Bevor es zu spät ist.
Gleiche Handschrift. Nur die Karte ist nicht dieselbe. Dieses Mal kein Foto. Nur grau, fast silbern. Kein Absender. Ich falte sie langsam, stecke sie wieder ein. Sie gehört jetzt zu mir.
Ich frühstücke nicht. Mein Magen spielt nicht mit. Stattdessen streife ich wieder durch die Straßen, will irgendwas tun, was mich zurück in die Wirklichkeit bringt. Ich lande in einer kleinen Galerie, versteckt in einer Seitenstraße. Moderne Kunst. Linien, die sich selbst nicht verstehen. Eine Leinwand ganz in Weiß, nur ein einziger roter Punkt in der Ecke.
Ich starre ihn lange an.
Dann merke ich sie.
Sie steht zwei Meter neben mir. Mitte sechzig, vielleicht älter. Dunkler Mantel, weißes Haar zu einem festen Knoten. Und an der Brust: eine auffällige Brosche. Ein Auge. Metallisch, alt, irisierend. Es wirkt fast lebendig.
„Sie mögen rote Punkte?“, fragt sie, ohne mich anzusehen. Ihre Stimme klingt wie samtiger Staub.
Ich antworte nicht sofort.
„Kommt drauf an“, murmele ich dann.
Sie dreht sich langsam zu mir. Ihre Augen sind hell. Viel zu hell.
„Sie sind doch die junge Frau aus Zimmer 4C, oder?“
Mir bleibt die Luft weg.
Ich hab nie darüber gesprochen. Nirgendwo.
„Ich kenn das Zimmer“, sagt sie ruhig. „Ich war vor Jahren dort. Man vergisst es nicht.“
Dann geht sie einfach. Kein Blick zurück. Ihre Absätze hallen auf dem Galerieboden wie Tropfen auf Metall.
Ich will ihr folgen, aber draußen ist sie verschwunden. Die Straße ist leer. Nur der rote Punkt auf der Leinwand bleibt.
Und die Brosche in meinem Kopf.
Das Auge.
Ich bin mir sicher, es hat geblinzelt.
Kapitel 7 – Postkarte ohne Absender
Ich traue mich abends kaum ins Zimmer zurück.
Im Flur läuft das Licht flackernd mit mir mit. Der Teppich hat ein neues Muster – eins, das gestern noch nicht da war. Oder ich hab’s nicht gesehen. Ich sperre auf. Zimmer 4C. Alles wie immer, alles irgendwie falsch.
Ich hänge meine Jacke ordentlich an den Haken, kontrolliere die Schubladen, ziehe sogar das Bett ab. Nichts. Keine Zettel, keine Karten.
Ich dusche lange. Heiß. So heiß, dass der Spiegel komplett beschlägt und ich mich eine Weile nicht sehen muss. Ich steh nackt vor dem Spiegel, fahr mit der Hand einmal über das Glas – aber mein Spiegelbild ist nicht sofort da. Nur schemenhaft, dann langsam schärfer.
Ich glaub, ich seh mich lachen.
Aber ich lach nicht.
Ich schlafe nicht sofort ein. Hör wieder den Fernseher im Nebenzimmer, obwohl ich dachte, das Zimmer daneben sei leer. Keine Stimme diesmal. Nur Geräusche. Schritte, ganz langsam. Dann wieder Stille. Dann – ein Knarzen. An meiner Tür?
Ich warte.
Nichts.
Morgens liegt eine Postkarte auf meinem Kissen.
Nicht auf dem Nachttisch.
Nicht unter der Tür durchgeschoben.
Auf meinem Kopfkissen.
Ich spring fast aus dem Bett. Der Puls hämmert mir bis in die Handflächen. Ich heb die Karte vorsichtig hoch. Schwarzweißfoto – ein Steg, der in einen nebligen See führt. Kein Text auf der Vorderseite. Ich dreh sie um.
Wieder keine Briefmarke. Keine Adresse. Nur ein Satz, handgeschrieben:
Du warst schon einmal hier.
Ich lasse sie fallen.
Lauf ins Bad. Kaltes Wasser. Ich spritze es mir ins Gesicht, atme durch. Aber es ändert nichts. Ich bin hier.
Und offenbar… war ich das schon mal.
Nur – wann?
Ich kehre ins Zimmer zurück, bücke mich, um die Karte wieder aufzuheben.
Aber sie ist weg.
Nur mein Kissen ist noch leicht warm.
So, als hätte jemand dort gesessen.
Oder gelegen.
Kapitel 8 – Der See in Paris
Ich meide das Hotel heute. Laufe früh los, noch bevor der Frühstücksraum öffnet. Ich brauche Luft, große Räume, Dinge, die sich nicht ändern, wenn man blinzelt. Die Straßen sind leer, Paris schläft noch. Ich laufe Richtung Bastille, dann einfach weiter. Orientierung ist mir egal. Ich will nur… nicht denken.
Irgendwann lande ich in einem kleinen Park. Nichts Besonderes, kein Schild, keine Touristen. Nur Bäume, ein paar Bänke, und in der Mitte: ein längliches Wasserbecken. Oval, steinumrandet, ruhig. Der Wind kräuselt die Oberfläche kaum.
Ich bleibe stehen.
Der See.
Er ist es nicht. Kann er nicht sein. Zu klein, zu flach, mitten in Paris. Und doch – irgendwas zieht mich hin.
Ich setze mich auf den Rand, beuge mich vor.
Sehe mein Gesicht im Wasser.
Aber es ist nicht mein Ausdruck.
Nicht mein Blick.
Er ist älter. Müder.
Und dann: ein Flackern.
Ganz kurz – ein anderes Gesicht. Nicht meins. Jemand, der mir ähnlichsieht, aber… nicht ich. Ich zucke zurück, sehe nur noch das kräuselnde Wasser.
Ich bleibe lange dort sitzen. Um mich herum tobt das Stadtleben langsam wieder an. Kinder rennen, ein Paar streitet halblaut, irgendwo klappert Geschirr. Und ich… starre aufs Wasser.
Dann sehe ich sie.
Die Frau mit der Brosche.
Sie steht am anderen Ende des Beckens, bewegt sich nicht. Sie sieht nicht mich an, sondern das Wasser. Ihr Mantel flattert leicht im Wind, aber sonst wirkt sie wie eingefroren.
Ich rufe nicht.
Ich winke nicht.
Ich bleibe einfach sitzen.
Und dann blinzle ich –
und sie ist weg.
Keine Schritte, kein Geräusch.
Einfach verschwunden.
Ich gehe langsam zurück.
Im Hotel sagt die Rezeptionistin, ich sei heute früh schon mal dort gewesen.
„Gleiche Kleidung“, sagt sie. „Sie haben Ihre Karte genommen und sind wieder gegangen.“
Ich sage nichts.
Ich war nicht da.
Oder?
Kapitel 9 – Verlorene Tage
Ich sitze auf dem Bett und zähle.
Kalender-App. Uhr. Check-in-Datum. Ich gehe alles durch, mehrfach.
Da fehlt was.
Zwei Tage.
Weg.
Keine Fotos, keine Notizen, keine Erinnerung.
Ich frage unten, wie lange ich noch bleibe. Die Frau an der Rezeption schaut mich seltsam an.
„Sie haben sich gestern für drei weitere Nächte entschieden.“
„Gestern?“
„Natürlich.“
Sie schiebt mir das Formular rüber. Meine Unterschrift.
Ich erkenne sie.
Aber ich weiß, dass ich sie nicht gesetzt habe.
Ich gehe hoch, durchwühle meine Tasche. Zwei Kassenzettel vom Supermarkt, aber nicht aus Paris. Einer ist aus Bellagio. Der andere aus Lecco.
Beide auf meinen Namen. Beide datiert auf die zwei Tage, die ich nicht mehr finde. Ich war also… am See?
Ich rufe niemanden an. Ich will nicht hören, was man mir sagen würde. Vielleicht: „Du brauchst Ruhe.“ Vielleicht: „Du musst mal runterkommen.“ Vielleicht: „Du bist überarbeitet.“
Ich gehe stattdessen raus. Wieder die Rue des Échos. Vielleicht auch eine andere. Ich erkenne langsam, dass Paris für mich ein Irrgarten ist. Nicht wie für andere. Keine Stadt. Mehr ein Zustand.
Ein Traum mit Öffnungszeiten.
Ich finde eine Buchhandlung. Alt, staubig, keine Musik. Ich blättere durch alte Bände, suche nichts Bestimmtes. Auf einer Seite klebt ein Zettel.
Willkommen zurück, Chiara.
Ich klappe das Buch zu, stelle es zurück.
Die Verkäuferin beobachtet mich.
Ich drehe mich nicht um.
Ich gehe.
Auf dem Heimweg kaufe ich Brot, obwohl ich keinen Hunger habe. Im Zimmer esse ich es trocken, scheibe für scheibe. Wie etwas, das mich im Jetzt verankern soll.
Aber das Jetzt ist durchlässig geworden.
Und ich frage mich, wie viele Versionen von mir gerade unterwegs sind.
Und welche davon weiß, wo ich wirklich war.
Kapitel 10 – Der Spiegelraum
Ich wache mitten in der Nacht auf. Kein Geräusch, keine Bewegung. Einfach nur… wach. Wie ausgespuckt aus einem Traum, der keinen Anfang hatte. Ich trinke einen Schluck Wasser, ziehe mich an, als würde ich gleich losmüssen – wohin, weiß ich nicht.
Draußen ist es still, ungewöhnlich still. Selbst Paris scheint zu schlafen. Ich laufe ziellos los. Nicht schnell, aber entschlossen. Die Straßen wirken anders bei Nacht – tiefer, schwerer, als würde etwas unter dem Asphalt atmen. Ich überquere eine kleine Brücke am Kanal Saint-Martin. Und dann sehe ich es.
Ein Gebäude. Leerstehend, fensterlos. Nur ein breites Portal mit Glastür, offen. Kein Schild, keine Lichter. Nur ein Flackern dahinter, wie Kerzenschein. Ich trete ein.
Der Boden knarzt nicht. Es riecht nach Staub und kaltem Eisen.
Ich gehe weiter, durch einen engen Gang – dann plötzlich: ein Saal. Groß. Leer.
Und voller Spiegel.
Hunderte.
An Wänden, an Säulen, sogar von der Decke hängen sie. Ich sehe mich tausendfach.
Aber nicht immer gleich.
Manche Spiegel zeigen mich, wie ich jetzt bin.
Andere – mit nassem Haar, mit Blutflecken am Kragen, mit einem Lächeln, das ich nie geübt habe.
Ich friere.
In der Mitte des Raumes steht ein Stuhl. Und darauf: ich.
Oder jemand, der aussieht wie ich.
Sie hebt den Kopf.
Unsere Blicke treffen sich.
Ich will etwas sagen, aber mein Mund bleibt still.
Sie steht auf.
Geht auf mich zu – langsam, fast zärtlich.
Und kurz bevor sie mich berührt, flackert das Licht.
Alle Spiegel springen gleichzeitig auf Schwarz.
Nur noch ich.
Allein.
Der Stuhl ist leer.
Ich renne raus, die Straßen sind wieder laut. Ein Taxi rauscht vorbei, ein Bus, ein Mann flucht am Fenster.
Als ich zurück im Hotel bin, trage ich fremden Staub an meinen Schuhen. Und meine Augen…
sehen anders aus.
Als hätten sie etwas erkannt, dass ich nicht erklären kann.
Kapitel 11 – Rückkehr nach Italien
Ich buche den Nachtzug, ohne groß zu überlegen. Es ist, als würde mir Paris langsam die Haut abziehen. Alles ist zu nah, zu flüchtig, zu falsch vertraut. Ich packe leise. Kein großes Verabschieden. Ich hinterlasse keine Nachricht, nehme die Karten mit, den roten Punkt aus dem Katalog, die Erinnerung an das Wasser, das kein Wasser war.
Der Zug fährt spät. Im Abteil riecht es nach Seife und Müdigkeit. Ich döse, aber ich schlafe nicht. Immer wieder das Gefühl, jemand sitzt mir gegenüber. Eine Bewegung, ein Atemzug zu viel. Aber der Platz bleibt leer.
Als ich in Como ankomme, ist es früher Morgen. Der See liegt flach und still, als würde er mich beobachten. Ich gehe die Uferstraße entlang, die ich kenne, seit ich laufen kann. Und doch… irgendwas ist anders.
Mein Haus steht da wie immer. Und doch wirkt es jünger. Die Fensterläden sind heller, die Treppe nicht mehr morsch, selbst der Putz an der Rückwand fehlt nicht mehr.
Ich bleibe eine Weile davor stehen, starre es an, wie ein Tier, das prüft, ob der Bau noch derselbe ist.
Dann schließe ich auf.
Drinnen ist alles am Platz. Und nichts stimmt.
Die Uhr über der Küchenzeile tickt nicht mehr. Ich erinnere mich genau – sie war stehengeblieben, irgendwann im Februar. Jetzt läuft sie.
Und zeigt eine andere Zeit. Keine vergangene. Keine jetzige. Irgendetwas dazwischen.
Ich gehe durchs Haus, prüfe jeden Raum. Als würde ich Beweise sammeln müssen, dass ich nicht verrückt bin.
Dann bleibe ich vor der Treppe zum Dachgeschoss stehen.
Da ist eine Tür.
Früher war da keine.
Nur Wand.
Jetzt: Tür.
Weiß gestrichen. Alt.
Ein Schlüssel steckt schon.
Ich lege die Hand auf die Klinke.
Drücke sie nicht runter.
Noch nicht.
Kapitel 12 – Das verschlossene Zimmer
Die Tür hat etwas an sich, das mir bekannt vorkommt. Nicht äußerlich – die Farbe, der Rahmen, das Schloss, das alles sagt mir nichts. Aber das Gefühl beim Anblick. Als hätte ich sie schon einmal geöffnet. Oder sie geschlossen.
Vielleicht beides.
Ich fasse die Klinke an.
Sie ist kalt.
Nicht metallisch, sondern… alt. Wie Kellerluft.
Ich drücke.
Die Tür öffnet sich lautlos. Kein Knarzen, kein Widerstand.
Dahinter: ein kleiner Raum. Quadratisch, staubig. Ein Fenster, schmal wie ein Briefschlitz. Tageslicht fällt schräg auf den Boden, wo ein Teppich liegt. Grau, fadenscheinig, mit einem Muster, das sich zu bewegen scheint, wenn ich nicht direkt hinschaue.
In der Ecke: ein Stuhl.
Darauf – ein Mantel. Dunkelblau. Zu groß für mich. Zu schwer für den Sommer.
Ich gehe langsam hinein. Der Boden federt leicht, als wäre etwas darunter. Ich schaue nicht hin. Noch nicht.
Auf dem Fensterbrett liegt etwas.
Eine Brosche.
Ein Auge, metallisch, irisierend.
Genau wie die, die die Frau in Paris getragen hat.
Ich berühre sie nicht. Ich will sie nicht berühren.
Aber ich kann auch nicht wegsehen.
Dann höre ich es.
Nicht laut.
Ein Atemzug. Hinter mir.
Ich drehe mich um.
Der Stuhl ist leer.
Der Mantel liegt jetzt auf dem Boden.
Und auf dem Stuhl: eine Karte.
Ich weiß, was draufsteht, bevor ich sie lese.
Du warst nicht weg. Du bist zurück.
Mein Blick fällt auf das Muster am Boden.
Es bewegt sich jetzt wirklich.
Wellen.
Kreisende Linien.
Wie Wasser.
Ich gehe rückwärts aus dem Raum. Schließe die Tür.
Lehne mich dagegen.
Und spüre, wie das Haus unter mir atmet.
Langsam.
Tief.
Kapitel 13 – Unter dem See
Es regnet nicht, aber ich nehme trotzdem den Umhang mit. Ich laufe hinunter zum Ufer. Der See ist still, glatt wie eine Spiegelplatte. Die Lichter der Häuser spiegeln sich wie flüchtige Gedanken darin. Ich stehe eine Weile nur da, barfuß auf den flachen Steinen, als müsste ich mir erst die Erlaubnis holen.
Dann gehe ich ins Wasser.
Erst bis zu den Knöcheln, dann weiter. Kalt, klar, nicht feindlich. Kein Wind, keine Boote. Nur ich.
Und unter mir: der Grund.
Ich weiß, wo ich hinmuss.
Ich war schon einmal dort.
Oder träume es zumindest oft genug.
Ich tauche.
Einfach so.
Ohne zu zögern. Ohne zu atmen.
Die Welt wird dumpf.
Kein Ton, kein Licht, nur das Vibrieren des Bluts in meinen Ohren. Ich sinke. Es geht tiefer, als es sollte.
Die Steine unter mir verschwinden.
Stattdessen: Stufen.
Alte, moosige Treppenstufen, die hinabführen.
Wohin, weiß ich nicht.
Ich setze die Füße darauf. Die Schwerkraft fühlt sich plötzlich falsch an. Oder aufgehoben. Ich gehe.
Immer tiefer.
Um mich herum Wasser, aber ich spüre keinen Druck mehr, keinen Mangel an Luft. Nur dieses leise Singen – wie von Glas.
Dann: ein Tor.
Es besteht aus Licht. Und aus nichts. Und es ist offen.
Dahinter: ein Raum.
Oder eine Erinnerung.
Oder ich.
Denn ich sehe mich.
In der Mitte.
Sitzend.
Wie damals im Spiegelraum.
Nur dass sie – ich – jetzt aufsteht.
Mir die Hand reicht.
Ich nehme sie.
Unsere Finger berühren sich.
Ein Schlag.
Wie ein Rückstoß.
Licht.
Kälte.
Und dann: Dunkelheit.
Kapitel 14 – Wiederauftauchen
Ich schlage die Augen auf.
Weiß. Über mir eine Decke, glattgestrichen.
Keine Geräusche, nur das entfernte Ticken einer Uhr.
Ich liege in einem Bett. Frische Laken. Eine Wasserflasche auf dem Nachttisch.
Das Fenster steht offen, Wind bewegt die Gardine.
Ich setze mich auf. Langsam.
Der Boden unter meinen Füßen ist kühl. Ich gehe ans Fenster. Schaue hinaus.
Kein See.
Kein Paris.
Nur eine Stadt, die ich nicht erkenne.
Flache Dächer, matte Fassaden, kaum Menschen.
Ein Ort, der nicht entschieden hat, ob er alt oder neu ist.
Auf dem Fensterbrett liegt ein Zettel.
Du bist angekommen.
Die Richtung spielt keine Rolle mehr.
Ich falte ihn, stecke ihn in die Tasche.
In meiner Jacke: die Brosche.
Ich weiß nicht, wie sie dorthin gekommen ist. Ich weiß nicht einmal mehr, wem sie gehört.
Ich gehe hinaus.
Die Tür fällt leise hinter mir ins Schloss. Der Flur ist leer, aber nicht fremd. Ich nehme die Treppe, nicht den Aufzug. Draußen blendet das Licht. Ich atme tief ein.
Jemand ruft meinen Namen.
Ich drehe mich nicht um.
Ich gehe weiter.
Der Boden fühlt sich fest an, aber auch weich, wie Wasser.
Vielleicht ist das hier die Oberfläche.
Oder ich bin noch immer darunter.
Und träume mich nur nach oben.