Marthe – Was bleibt

Die Stimme im Holz
Ich lebe jetzt hier.
Nicht, weil ich will.
Weil niemand mehr was dagegen sagt.
Das Haus gehört offiziell meiner Schwester. Oder gehörte. Niemand hat mir den Schlüssel gegeben, aber er steckte in der Tür, als ich ankam. Das war vor acht Tagen. Oder neun. Ich schreibe es auf, aber die Zahlen verrutschen mir immer wieder.
Das Meer liegt direkt hinter dem Haus.
Keine Promenade, keine Straße. Nur eine Düne, dann der Wind, dann Wasser.
Es rauscht. Immer. Auch wenn ich die Fenster schließe, die Vorhänge zuziehe, sogar nachts mit Musik im Ohr schlafe – das Rauschen bleibt.
Manchmal klingt es wie Atem.
Manchmal wie etwas, das sprechen will, aber keine Worte kennt.
Die Küche ist klein, aber sauber. Ich stelle morgens Tee auf, obwohl ich ihn nicht trinke. Irgendwas an der Geste beruhigt mich.
Auf dem Tisch liegt ein Zettel mit dem Wort „MONTAG“ in großen Buchstaben. Ich habe ihn nicht geschrieben.
Oben: drei Zimmer. Ich wohne im mittleren. Es riecht nach Lavendel und altem Holz.
Im Schrank hängt ein Mantel, der mir passt. Ich kann mich nicht erinnern, ihn eingepackt zu haben.
Im Spiegel neben dem Fenster sehe ich mich manchmal doppelt. Nur kurz.
Dann bin ich wieder allein.
Gestern habe ich eine Stimme gehört.
Nicht laut, nicht bedrohlich.
Weich.
„Marthe“, hat sie gesagt.
Langgezogen. Als hätte jemand das Wort im Mund behalten.
Ich habe nicht geantwortet. Nicht geschrien. Nur den Atem angehalten, bis es wieder still war.
Heute Nacht ist etwas über den Flur gegangen. Barfuß, ganz langsam. Ich habe nicht nachgesehen. Ich habe nur gewartet, bis es vorbei war.
Das Meer rauscht weiter.
Ich weiß nicht mehr, wie Stille klingt.
Die zweite Tür
Ich wache auf, bevor es hell wird.
Nicht, weil ich muss.
Weil irgendetwas… schiebt. Von innen. Als würde mich der Schlaf selbst nicht mehr halten wollen.
Das Haus ist still. Aber das Meer nicht. Es klingt heute anders. Als würde es näherkommen.
Ich gehe barfuß die Treppe hinunter. Jeder Tritt knarrt, aber nicht so, wie ich es kenne. Tiefer. Als würde jemand drunter liegen. Ich bleibe kurz stehen, horche in die Stille, dann gehe weiter.
In der Küche brennt Licht.
Ich weiß, dass ich es gestern gelöscht habe.
Auf dem Tisch: der Teekessel, feucht vom Dampf.
Daneben: eine Tasse, halb voll.
Und ein Löffel – links daneben.
Ich bin Rechtshänder.
Ich setze mich nicht.
Ich sehe lange auf das Muster der Tischdecke.
Dort, wo ein altes Wachsfleckchen ist – rund, hellgelb – da sehe ich einen kleinen schwarzen Punkt. Ich kratze daran.
Papier.
Ein eingerollter Zettel.
„Die zweite Tür ist jetzt offen.“
Ich gehe hoch.
Im Flur: drei Türen.
Meine.
Das Gästezimmer.
Und ganz hinten die Tür zum Speicher – alt, verzogen, immer abgeschlossen gewesen.
Heute steht sie offen.
Nur einen Spalt.
Dahinter: Schwarz.
Ich taste nach dem Lichtschalter. Nichts passiert.
Ich trete einen Schritt näher.
Es riecht nach Salz.
Nicht wie das Meer.
Mehr wie Blut und Eisen.
Ich rufe nicht.
Ich gehe nicht hinein.
Ich schließe die Tür.
Langsam.
Aber ich weiß, dass sie sich nicht wieder verschließen lässt.
Nicht wirklich.
Ich drehe mich um.
Und sehe meinen Schatten an der Wand.
Er steht noch da, auch als ich weitergehe.
Der Tag ohne Himmel
Der Morgen beginnt grau. Kein Nebel, kein Regen, einfach nur… kein Himmel.
Ich stehe am Fenster und versuche, einen Horizont zu finden.
Es gibt keinen.
Das Meer und der Himmel haben sich aufgelöst in einem einzigen, tonlosen Grau.
Kein Licht, keine Tiefe.
Nur das Rauschen bleibt.
Ich gehe nicht hinaus.
Ich frühstücke nicht.
Ich setze mich in den Flur, auf die unterste Stufe der Treppe, und lausche dem Haus. Es hat eigene Geräusche. Die Wände atmen. Die Balken knacken, als würde jemand über sie gehen.
Aber es ist niemand hier.
Nur ich.
Und vielleicht… die Erinnerung von jemandem.
Ich denke an meine Schwester.
Wie sie die Tür hinter sich zuzog, ohne etwas zu sagen. Kein Zettel, kein Anruf, kein Wort.
Sie war einfach weg.
Vielleicht ist sie noch da.
Nur… woanders im Haus.
Ich gehe ins Schlafzimmer zurück.
Der Spiegel am Fenster zeigt mich.
Aber nicht mich jetzt.
Mich – von früher. Lächelnd.
In einem Kleid, das ich nie besessen habe.
Ich blinzle.
Der Spiegel ist leer.
Ich sehe nur mich.
Ich finde ein Fotoalbum. Unten im Wohnzimmer, zwischen zwei Atlanten.
Es ist beschriftet mit meinem Namen.
„Marthe. 1999–2007“
Ich schlage es auf.
Alle Bilder zeigen mich.
Aber ich erinnere mich an keines.
Auf einem Bild stehe ich vor dem Haus. Dieses Haus.
Doch die Fensterläden sind anders. Die Fassade heller.
Und neben mir steht jemand.
Die Person ist ausgeschnitten worden.
Nicht unscharf. Nicht verblasst.
Rausgeschnitten.
Mit einer Schere.
Nur mein Blick ist geblieben – in die Richtung, wo jemand war.
Ich lächle.
Ich klappe das Album zu.
Ich weiß nicht, ob ich allein bin.
Oder ob jemand sehr gut darin ist, sich aus meiner Erinnerung zu entfernen.
Das Geräusch hinter der Wand
Nachts schläft das Meer nicht.
Es verändert nur seinen Ton.
Jetzt klingt es wie etwas, das kratzt.
Nicht weit draußen – direkt hinter der Wand.
Ich liege im Bett, starre an die Decke.
Der Regen hat eingesetzt, aber das macht keinen Unterschied. Das Rauschen bleibt gleich. Gleichgültig.
Wie ein Atem, der nichts mit mir zu tun hat.
Dann höre ich es wieder.
Ein Geräusch hinter der Wand.
Nicht laut.
Eher wie… Papier.
Seiten, die umgeblättert werden.
Aber langsam.
Vorsichtig.
Wie jemand, der etwas liest, das nicht für ihn gedacht ist.
Ich stehe auf.
Die Wand hinter meinem Bett ist die Innenwand zum Flur.
Ich klopfe leicht dagegen.
Das Geräusch verstummt.
Ich warte.
Dann klopft es zurück.
Dreimal.
Langsam.
Nicht aggressiv.
Fast… traurig.
Ich bleibe stehen, die Hand auf der Tapete.
Sie ist rau. Kalt.
Ich taste sie ab – bis ich etwas spüre.
Eine Einkerbung.
Ein kleiner, fast unsichtbarer Riss in der Tapete. Ich ziehe daran.
Ein Stück löst sich. Dahinter: Holz.
Alt.
Dunkel.
Mit eingeritzten Zeichen.
Buchstaben.
E L S A
Der Name meiner Schwester.
Nur dieser Name.
Ich fahre mit dem Finger über die Buchstaben.
Sie sind nicht alt.
Nicht verwittert.
Frisch.
Vielleicht von letzter Woche.
Oder von letzter Nacht.
Ich lasse die Tapete offen.
Gehe zurück ins Bett.
Aber ich schlafe nicht.
Weil ich weiß:
Wenn es wieder klopft –
werde ich diesmal antworten.
Das Notizbuch
Am Morgen liegt ein Buch auf dem Küchentisch.
Ich habe es nicht dort hingelegt.
Es ist rot, Leinen, abgegriffen. Kein Titel. Kein Einband. Nur das Gewicht von etwas, das zu lange geschwiegen hat.
Ich setze mich. Schlage es auf.
Die Handschrift ist schmal, aufrecht, fast zu ordentlich.
Ich erkenne sie.
Elsa.
Sie hat nie Tagebuch geführt. Zumindest hat sie das behauptet.
Aber hier sind Seiten voller Sätze, voll von… mir.
Marthe isst nicht mehr richtig. Sie zählt die Geräusche im Haus. Sie sieht Dinge, die ich nicht sehe.
Ich frage mich, ob sie sich an früher erinnert. Ich tue es nicht. Nur bruchstückhaft. Vielleicht war ich gar nicht da.
Ich blättere. Die Einträge haben keine Daten. Nur Überschriften.
„Montag.“
„Der Tag ohne Himmel.“
„Zweite Tür.“
Ich kenne diese Worte. Ich habe sie selbst gedacht.
Oder gelesen?
In der Mitte des Buchs steckt ein Stück Papier.
Eine Skizze vom Haus.
Grundriss.
Doch da ist ein Raum, den ich nicht kenne.
Zwischen Küche und Treppe, wo eigentlich nichts ist.
Ein kleiner, fensterloser Raum.
„Das Zimmer, das nicht sein darf.“
steht darunter, in anderer Handschrift.
Ich stehe auf, das Buch in der Hand. Gehe dorthin. Zwischen Küche und Treppe – da ist tatsächlich eine Wandnische. Kaum mehr als ein Schatten zwischen Möbeln.
Ich klopfe.
Dumpf.
Aber nicht massiv.
Ich spüre es.
Da ist etwas dahinter.
Etwas, das verborgen wurde.
Vielleicht aus Angst.
Vielleicht aus Notwendigkeit.
Ich lege das Buch zurück auf den Tisch.
Öffne das Fenster.
Das Meer ist aufgewühlt. Graugrün. Es peitscht gegen die Steine, als wolle es mich erinnern.
An was?
Ich flüstere den Namen.
„Elsa.“
Und der Wind antwortet.
Nicht mit Worten.
Sondern mit dem Geräusch von Papier.
Das sich selbst umblättert.
Das Zimmer, das nicht sein darf
Ich träume, dass das Haus atmet.
Langsam, wie unter einer Decke. Jeder Atemzug macht die Wände weicher, die Fenster milchig, die Türrahmen krumm.
Ich träume, dass ich durch einen Gang gehe, der dort beginnt, wo die Küche endet.
Und ich wache auf mit dem Geschmack von Salz auf der Zunge.
Noch vor dem ersten Licht stehe ich an der Wand.
Die Nische.
Kein Zweifel mehr: dahinter ist Raum.
Ich schiebe das Regal beiseite. Es ist schwer, aber nicht verschraubt.
Als ob es nur darauf gewartet hätte, bewegt zu werden.
Dahinter: Holz.
Eine schmale Tür, lackiert wie die anderen.
Aber der Griff fehlt.
Nur ein Loch.
Ich stecke die Finger hinein, ziehe.
Die Tür öffnet sich lautlos.
Der Raum ist nicht groß.
Dunkel.
Leer.
Und doch fühlt es sich an, als wäre er voll.
Nicht mit Dingen.
Mit etwas, das sich staut.
Wie angestaute Erinnerung.
An der Wand: eine Matratze.
Ohne Laken.
Darauf: ein Kissen, alt, zerdrückt.
Daneben: ein Becher mit eingetrocknetem Tee.
Und ein Buch.
Ich gehe hinein. Der Boden knarzt unter mir, aber nicht wie Holz.
Mehr wie etwas, das sich bewegt.
Ich hebe das Buch auf.
Es ist dasselbe wie oben in der Küche.
Oder fast.
Ein Zwilling.
Gleiche Farbe. Gleiches Format.
Aber andere Worte.
Ich habe Marthe nie verstanden. Ich glaube, sie erinnert sich nicht an den Anfang. Aber vielleicht war ich es, die vergessen sollte.
Manchmal glaube ich, sie war nie weg. Nur anders. Nur… tiefer.
Auf der letzten Seite steht mein Name.
Groß.
In Druckbuchstaben.
Dreimal.
MARTHE
MARTHE
MARTHE
Ich lasse das Buch fallen.
Und höre hinter mir, wie sich die Tür schließt.
Langsam.
Mit einem leisen Klicken.
Nicht endgültig.
Nur… absichtsvoll.
Die andere Stimme
Ich bleibe lange in dem Raum.
Nicht aus Angst.
Aus einer Art Schwindel. Als hätte sich etwas verschoben, und mein Körper versucht nachzukommen.
Es ist still.
Kein Meeresrauschen. Kein Wind.
Nicht einmal mein Atem klingt wie sonst.
Der Raum verschluckt Geräusche.
Oder filtert sie.
Ich setze mich auf die Matratze. Die Federn geben kaum nach.
Ich sehe mich um.
Keine Fenster. Keine Uhren. Keine Schatten.
Nur die Tür.
Geschlossen.
Aber nicht abgeschlossen.
Ich weiß, ich könnte gehen.
Aber ich bleibe.
Und dann:
Die Stimme.
Nicht wie vorher.
Nicht das Flüstern durch Wände.
Nicht mein Name.
Ein Satz.
Klar.
Fast sachlich.
„Du bist sie nicht.“
Ich friere.
Nicht körperlich – in den Gedanken.
Wie wenn man plötzlich weiß, dass man sich selbst belogen hat. Und es aus fremdem Mund hört.
Ich stehe auf.
„Wer bist du?“, frage ich.
Meine Stimme klingt fremd, als würde sie aus einem anderen Raum kommen.
Keine Antwort.
Nur ein leises Kratzen an der Wand.
Ich trete näher.
Fahre mit den Fingern darüber.
Und da ist es:
Eine Linie.
Dann noch eine.
Ein eingeritztes Gitter.
Wie bei Strichlisten.
Zählungen.
Zehnergruppen.
Viele.
Und darunter:
„Es gibt kein Danach.“
Ich trete zurück.
Der Raum atmet.
Einmal.
Tief.
Wie etwas, das lange geschlafen hat und jetzt erwacht.
Ich öffne die Tür.
Der Flur ist leer.
Das Meer rauscht wieder.
Aber es klingt anders.
Als würde es jetzt meinen Namen kennen.
Und wissen, wo ich wohne.
Das Geräusch des Meeres
Das Meer hat in der Nacht den Rhythmus gewechselt.
Es klingt jetzt langsamer.
Wie eine Erinnerung, die man unter Wasser erzählt bekommt – kaum verständlich, aber eindringlich.
Ich sitze auf der Holzbank vor dem Haus. Der Wind trägt Sand, Salz, Fragen.
Und in meinem Kopf: das Gitter. Die eingeritzten Striche.
Jemand hat hier gelebt.
Gezählt.
Gewartet.
Ich weiß nicht, ob es Elsa war.
Oder jemand, der vorgab, sie zu sein.
Im Wohnzimmer liegt das rote Notizbuch auf dem Tisch. Offen.
Ich hab es geschlossen hinterlassen.
Heute hat sie mich gesehen. Ich war nicht vorbereitet. Ich glaube, sie erkennt mich nicht mehr. Vielleicht ist das besser so.
Ich setze mich.
Blättere zurück.
Die Einträge sind nicht chronologisch. Nicht mal logisch.
Aber sie sprechen.
Nicht über Elsa.
Über mich.
Marthe war früher anders. Still, aber nicht leer. Jetzt wirkt sie wie etwas, das aufgegeben wurde. Vielleicht hab ich sie zurückgelassen. Vielleicht ist sie nur übrig geblieben.
Ich schließe das Buch.
Nicht weil ich es nicht lesen will.
Sondern weil ich weiß: Ich habe es geschrieben.
Irgendwann.
Irgendwo.
In einem Zustand, der nicht ganz mein eigener war.
Ich gehe wieder raus.
Setze mich auf die Treppe.
Das Meer liegt da, endlos, und tut so, als wäre es nur Wasser.
Aber ich höre es.
Ein anderes Rauschen unter dem Rauschen.
Eine Stimme, die sich tarnt.
Nicht menschlich.
Nicht eindeutig.
Aber nah.
Und dann höre ich es.
Ein einziges Wort.
Mitten im Wind, mitten aus dem Wasser.
„Zurück.“
Ich sehe hinaus, aber da ist nichts.
Kein Boot, kein Mensch.
Nur das ewige Grau.
Ich flüstere:
„Wohin?“
Und das Meer schweigt.
Weil es die Antwort längst kennt.
Das Fenster im Boden
Ich habe in der Nacht nicht geschlafen.
Nicht im klassischen Sinn.
Vielleicht war ich weg. Vielleicht war ich einfach… nicht hier.
Als ich aufwache – oder auftauche –, liege ich auf dem Holzboden im oberen Flur. Die Tür zu meinem Zimmer ist zu.
Die zu dem anderen Raum ebenfalls.
Alles ist still.
Nur mein Rücken tut weh, als hätte ich lange auf etwas Hartem gelegen.
Oder jemand hätte mich getragen.
Und abgelegt.
Ich stehe auf. Trinke ein Glas Wasser, das abgestanden schmeckt.
Als ich den Blick hebe, sehe ich es:
Etwas spiegelt sich.
Nicht im Spiegel – auf dem Boden.
Ein Schimmer.
Ein milchiges Rechteck.
Ich knie mich hin.
Ein Fenster.
Im Boden.
Ich habe es nie gesehen.
Oder es war nie da.
Es ist etwa einen halben Meter breit, aus dickem Glas. Und darunter:
Ein Raum.
Kein Keller.
Etwas anderes.
Tiefer.
Ich sehe eine Lampe.
Einen Tisch.
Ein Stuhl.
Und…
eine Person.
Sitzend.
Still.
Kopf gesenkt.
Lange Haare.
Ich klopfe gegen das Glas.
Keine Reaktion.
Ich laufe nach unten, suche den Zugang. Doch da ist nichts. Kein weiterer Raum, kein versteckter Eingang. Nur das Geräusch meiner Schritte und das ferne, unruhige Atmen des Meeres.
Ich kehre zurück.
Zum Flur.
Zum Fenster im Boden.
Sie ist noch da.
Bewegt sich nicht.
Ich setze mich daneben.
Und warte.
Irgendwann hebt sie den Kopf.
Ganz langsam.
Und ich sehe –
sie sieht aus wie ich.
Nur älter.
Müder.
Und mit einem Ausdruck, den ich nicht verstehe.
Noch nicht.
Die Übereinandergelegten
Ich verlasse das Haus den ganzen Tag nicht.
Nicht aus Angst.
Ich glaube, ich will dem Haus nicht den Rücken zukehren.
Nicht mehr, seit ich weiß, dass da unten jemand ist.
Ich.
Oder jemand, der so aussieht.
Ich laufe die Räume ab, kontrolliere die Türen, berühre die Wände wie eine Blinde, die ein vertrautes Gesicht abtastet.
Aber nichts antwortet mir.
Keine Stimme.
Kein Echo.
Nur das Meer.
Es ist heute laut.
Klopft an die Scheiben, obwohl sie nicht zum Wasser zeigen.
Ich höre es unter dem Boden, in den Wänden, in der Luft.
Ich gehe nach oben, setze mich an den Rand des Glases.
Sie sitzt immer noch da.
Aber diesmal sieht sie mich an.
Ich hebe die Hand.
Sie auch.
Gleichzeitig.
Ich spreche.
„Wer bist du?“
Sie bewegt den Mund.
Ich kann es nicht hören.
Aber ich verstehe:
„Ich war du.“
Ich will mehr. Stehe auf, laufe wieder durchs Haus. Ich finde das rote Notizbuch, blättere es durch, als würde ich darin eine Anleitung finden.
Dann fällt etwas heraus.
Ein Foto.
Zerschnitten.
Zwei Hälften – meine Schwester und ich.
Nur dass beide Gesichter mein eigenes sind.
Ich lege die Hälften übereinander.
Sie passen.
Wie zwei Versionen.
Wie etwas, das getrennt wurde, damit es sich selbst besser beobachten kann.
Ich höre wieder etwas.
Oben.
Ich renne die Treppe hoch, knie mich hin.
Das Fenster im Boden ist leer.
Der Stuhl – leer.
Die Lampe aus.
Kein Licht mehr darunter.
Nur Schatten.
Und das Meer.
Rückt näher.
Ich höre es jetzt atmen.
Nicht draußen.
Hier drin.
Die Rückkehr der Schwester
Es ist Nacht, als ich die Tür öffne.
Nicht, weil jemand klopft.
Nicht, weil ich es will.
Weil ich es muss.
Draußen steht niemand.
Aber die Luft hat sich verändert.
Sie trägt etwas mit sich.
Ein Geruch.
Wie Lavendel, vermischt mit nassem Holz.
Ich lasse die Tür offenstehen.
Setze mich in den Flur.
Warte.
Und dann –
sehe ich sie.
Nicht mit den Augen zuerst.
Mit etwas Tieferem.
Ein Schatten auf der Treppe.
Die Bewegung einer Erinnerung, die noch nicht stattgefunden hat.
Elsa.
Sie steht da, als wäre sie nie weg gewesen.
Blass.
Dünner als früher.
Ihre Haare sind kürzer, nass.
Als wäre sie gerade aus dem Meer gestiegen.
Sie sagt nichts.
Ich auch nicht.
Wir sehen uns nur an.
Dann:
„Du hast mich gerufen“, sagt sie.
Die Stimme ist leise, wie durch ein Tuch.
Ich will sagen: Ich weiß es nicht.
Aber ich sage stattdessen: „Wo warst du?“
Sie lächelt nicht.
„Hier.“
Und zeigt auf den Boden.
Dort, wo das Fenster war.
Aber es ist nicht mehr da.
Nur Dielen.
Ununterbrochenes Holz.
Keine Spur.
Ich spüre, wie mein Herz langsamer wird.
Wie mein Atem flacher wird.
Als würde mein Körper anfangen zu verstehen, was mein Verstand noch abwehrt.
Elsa tritt näher.
Berührt meinen Arm.
Kalt.
Aber nicht tot.
„Es ist Zeit“, sagt sie.
„Du weißt, was du bist.“
Ich will widersprechen.
Aber ich finde keinen Satz.
Nur das Meer, das gegen die Wände drückt.
Von innen.
Der Spiegel im Wasser
Ich folge ihr.
Nicht wie jemand, der geführt wird.
Mehr wie jemand, der endlich weiß, wohin die Schritte gehören.
Elsa geht langsam.
Barfuß.
Der Boden unter uns ist kühl, feucht.
Obwohl das Haus nicht undicht ist.
Obwohl kein Fenster offensteht.
Wir durchqueren das Wohnzimmer, die Küche, dann den Flur.
Ich kenne jeden dieser Räume.
Und doch wirken sie heute anders.
Als hätten sie endlich beschlossen, sich nicht mehr zu verstellen.
Sie bleibt vor der Kellertür stehen.
Ich habe nie einen Keller betreten.
Nicht in diesem Haus.
Nicht einmal in meiner Erinnerung.
„Hier beginnt es“, sagt Elsa.
Dann öffnet sie die Tür.
Dahinter: kein Treppenhaus.
Kein Lagerraum.
Nur Dunkelheit.
Und Wasser.
Ich sehe die Oberfläche.
Still.
Klar.
Wie ein Spiegel.
Und darin: mein Gesicht.
Aber nicht so, wie es ist.
So, wie es war.
Oder wie es geworden wäre, wenn…
wenn ich nie aufgewacht wäre.
„Was ist das?“, flüstere ich.
Meine Stimme klingt, als käme sie durch Glas.
„Der andere Ort“, sagt Elsa.
„Der, aus dem du kommst. Der, aus dem ich verschwunden bin.“
Ich will zurückweichen.
Aber meine Füße stehen schon im Wasser.
Und es ist warm.
Wie Haut.
Ich sehe mich an.
Mein Spiegelbild lächelt.
Ich tue es nicht.
Elsa sagt:
„Du musst dich entscheiden. Jetzt.“
Und ich weiß –
es geht nicht um Leben und Tod.
Es geht darum, wer ich gewesen bin.
Und wer ich bereit bin zu werden.
Wenn ich die Hand ausstrecke.
Und mich selbst berühre.
Die Entscheidung
Das Wasser reicht mir jetzt bis zur Hüfte.
Ich weiß nicht, wann ich den Schritt gemacht habe.
Vielleicht war es gar kein Schritt.
Vielleicht hat das Haus mich geschoben.
Elsa steht am Rand.
Nicht näher, nicht weiter weg.
Still.
Fast friedlich.
Aber ihre Augen sagen etwas anderes.
Etwas Drängendes.
Etwas, das nicht warten kann.
Das Wasser unter mir beginnt sich zu bewegen.
Nicht stürmisch.
Zielgerichtet.
Wie ein Gedanke, der endlich ausgesprochen werden will.
Ich sehe mein Spiegelbild –
und es spricht.
Die Lippen bewegen sich.
Lautlos.
Aber ich verstehe jedes Wort.
„Du bist nicht, wer du warst.
Und nicht, wer du dachtest zu sein.
Du bist, was übrig blieb.“
Ich will antworten.
Aber es ist zu spät.
Etwas zieht mich.
Nicht mit Gewalt.
Mit Erinnerung.
Ich sehe Szenen –
ein anderes Haus,
eine andere Frau,
ein Kinderlachen,
ein Sturz,
ein Krankenhausflur,
weißes Licht,
Röhren, Stimmen.
Dann: Stille.
Und plötzlich weiß ich:
Ich bin nie zurückgekehrt.
Nicht ganz.
Ich bin das, was blieb.
Ein Echo.
Ein Abdruck.
Eine Marthe, die sich in ein verlassenes Haus geschrieben hat, weil sonst niemand sie lesen wollte.
Elsa reicht mir die Hand.
Ich zögere.
Wenn ich sie nehme –
verlasse ich das Ufer endgültig.
Nicht das aus Stein.
Das innere.
Aber wenn ich bleibe…
weiß ich nicht, was ich bin.
Nur, dass es nicht reicht.
Ich greife zu.
Ihre Hand ist kalt.
Und sie lächelt.
Das, was bleibt
Ich wache auf.
Nicht plötzlich.
Mehr wie ein Übergang.
Ein leises Hinübergleiten in eine andere Art von Wachsein.
Das Haus ist still.
Die Wände atmen nicht mehr.
Der Flur ist leer.
Die Tür zum verborgenen Raum steht offen –
dahinter: nur Wand.
Ich gehe barfuß durch die Zimmer.
Der Boden ist trocken.
Das Wasser ist weg.
Auch Elsa.
Auch ich?
Ich bleibe vor dem Spiegel stehen.
Sehe mich an.
Ich bin da.
Aber anders.
Nicht älter.
Nicht jünger.
Nur… sortierter.
Der Blick, der mir begegnet, ist ruhig.
Nicht gelöst.
Aber bereit.
Ich öffne die Tür zum Meer.
Der Wind trägt den Geruch von Tang, Salz, einem Anfang.
Die Wellen sind heute träge, fast freundlich.
Ich gehe hinaus.
Setze mich auf die Stufen.
Das Haus hinter mir atmet wieder – aber ganz leicht, wie im Schlaf.
Ich sehe hinaus.
Auf das, was nie still ist.
Und ich weiß:
Ich werde bleiben.
Nicht, weil ich warten muss.
Nicht, weil ich vergessen will.
Sondern weil ich jetzt weiß,
dass ich wirklich hier bin.
Nicht vollständig.
Aber genug.
Und das reicht.