Neonherz

Vorwort
Was, wenn du dich selbst verlieren musst, um herauszufinden, wer du bist?
Diese Geschichte ist eine Reise in Zwischenräume – zwischen Erinnerung und Gegenwart, Licht und Schatten, Traum und Wirklichkeit. Lia sucht nicht nach einer Wahrheit, die sich beweisen lässt, sondern nach einer, die sich anfühlt. Vielleicht ist das dasselbe. Vielleicht ist es mehr.
Dies ist kein Roman der großen Antworten, sondern einer der leisen Rückkehr. Und manchmal reicht das – um wieder atmen zu können.
Kapitel 1 – Neonherz
Die Nacht begann nicht mit einem Sonnenuntergang, sondern mit einem flackernden Licht.
Ein weißblaues Leuchten zitterte über die regennasse Straße wie ein elektrischer Herzschlag. Lia stand einen Moment still, als würde sie der Stadt erlauben, sie zu erkennen – oder zu übersehen. Ihre Haare hingen schwer auf den Schultern, vom Nebel durchtränkt. Ihr Blick war geradeaus gerichtet, doch in ihren Augen spiegelte sich etwas, das nicht da war: Erinnerung oder Vorahnung – vielleicht beides.
Der Club war kein Ort, sondern ein Zustand. Keine Adresse, sondern ein Gefühl. Man fand ihn nicht – er fand dich.
Drinnen war die Musik wie ein Stromstoß. Menschen wie Schatten, flüchtig, ohne Gewicht. Lia schob sich durch sie hindurch, unberührt, unbewegt. Sie war nicht gekommen, um zu tanzen. Sie war gekommen, um sich zu vergessen.
Das Neon war überall. Es färbte Haut, verwischte Konturen, machte aus jedem Gesicht eine Maske. Lia trug Schwarz wie eine zweite Haut. Ihre Schultern lagen frei, die Kette an ihrem Hals wirkte wie ein zarter Käfig. Sie war schön – nicht wie eine Statue, sondern wie eine offene Wunde, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie heilen oder bluten wollte.
An der Bar wartete ein Mann mit Zigarettenfingern und einem Blick, der mehr wusste, als er sollte.
„Erkennst du mich?“, fragte er, obwohl sie sich noch nie gesehen hatten.
Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Vielleicht warst du in einem meiner Träume.“
Sein Lächeln war langsam, beinahe traurig. „Dann war ich also wirklich da.“
Später – viel später, als die Musik ihren Höhepunkt überschritten hatte und die Gespräche zu Murmeln zerfielen – küsste sie ihn. Nicht aus Sehnsucht, sondern weil es etwas war, das sie noch nicht getan hatte.
Dann ging sie. Ohne sich umzudrehen. Ohne etwas zu hinterlassen.
Und draußen, im dämmernden Zwielicht der beginnenden Morgendämmerung, wusste sie:
Diese Nacht war der Anfang.
Und sie war noch lange nicht vorbei.
Kapitel 2 – Echo
Der Morgen war ein Feind, gegen den es keine Waffen gab.
Lia saß auf dem Boden ihres Zimmers, die Beine angewinkelt, der Rücken an die Wand gelehnt. Durch das halb geöffnete Fenster drang das matte Grau eines neuen Tages – steril, gnadenlos. Auf dem Boden neben ihr lag die zerschlagene Hülle eines Glases. Wasser. Keine Spuren von Alkohol. Kein Rausch, auf den sie sich hätte berufen können.
Nur sie. Wach. Und leer.
Sie zog eine Linie mit dem Finger über den Boden, als würde sie damit ein Gedankenmuster nachzeichnen, das ihr entglitten war. Im Raum: der Geruch von Nacht – Haut, Metall, Regen, Rauch. Alles schien noch da, nur sie selbst fehlte.
Das Handy vibrierte. Kein Name. Nur eine Nummer. Kein Ton. Nur ein leises Zittern.
Unbekannt:
Du erinnerst dich nicht, oder?
Sie starrte auf die Nachricht. Löschte sie nicht. Antwortete nicht. Atmete nur einmal tief ein, als hätte ihr jemand kurz die Luft entzogen.
Später.
Das Café lag in einer dieser Straßen, in denen niemand lebt, aber viele vorbeigehen. Lia kannte es kaum, doch etwas an dem Namen „Echo“ hatte sie angezogen. Vielleicht, weil sie sich wünschte, ein Echo zu sein – nicht Ursprung, nur Widerhall.
Er wartete bereits.
Nicht der Mann aus der Nacht. Jemand anderes. Jemand aus der Vergangenheit. Einer von denen, die in alten Träumen auftauchen, wenn man sich sicher ist, dass man sie längst vergessen hat.
Alex.
Er trug Grau. Das hatte er schon immer getan. Selbst als Kind. Als würde er nicht auffallen wollen in einer Welt, die zu viel wollte. Seine Stimme war ruhig, aber er sprach, als müsse jedes Wort durch einen Filter aus Bedacht.
„Du hast dich verändert“, sagte er.
„Ich bin mir da nicht so sicher“, antwortete Lia.
Sie bestellte schwarzen Kaffee. Kein Zucker. Kein Smalltalk.
„Warum jetzt?“ fragte sie.
Alex sah sie an, als könnte sein Blick etwas freilegen, das sie unter Beton begraben hatte.
„Weil du bald nicht mehr weißt, was wahr ist.“
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen – nicht warm, nicht kalt. Nur kurz.
„Vielleicht ist das der Punkt.“
Er schwieg. Sie auch. Draußen ging die Stadt weiter. Doch hier drinnen war alles eingefroren.
Und irgendwo tief in ihr begann etwas zu kribbeln.
Ein Vorbeben.
Ein Echo dessen, was noch kommen sollte.
Kapitel 3 – Splitter
Am nächsten Morgen war das Spiegelbild nicht ganz ihrs.
Es sah aus wie sie, ja. Dasselbe lange Haar, dieselben Schatten unter den Augen, dieselbe scharfe Linie des Schlüsselbeins. Aber etwas stimmte nicht. Etwas war zu ruhig. Zu aufgeräumt.
Lia blinzelte – und das Spiegelbild blieb einen Atemzug zu lange unbewegt.
Sie trat zurück, als hätte der Fliesenboden unter ihren Füßen nachgegeben. Ein winziges Klirren ließ sie aufhorchen. Am Waschbeckenrand lag ein Splitter Glas. Sie hob ihn auf. Kalt. Scharf. Sauber.
War der Spiegel zerbrochen?
Nein. Keine Risse. Keine Brüche. Nur der Splitter. Als hätte jemand ein Stück ihrer Reflexion ausgeschnitten und zurückgelassen.
Am Nachmittag
Der Club war verschwunden.
Nicht geschlossen. Nicht stillgelegt. Einfach – weg.
Lia stand in der Gasse, wo in der Nacht zuvor noch Lichter gebrannt, Bass gewummert, Stimmen gelacht hatten. Jetzt: Beton, Taubendreck, ein vergilbtes Werbeschild für einen Copyshop, der sonntags nie geöffnet war.
Keine Tür. Kein Logo. Kein Eingang.
Sie lief die Straße dreimal ab, prüfte jede Mauer, jeden Schatten. Nichts. Nicht mal der Geruch war geblieben.
Sie rief Alex an.
„Der Club“, sagte sie. „Er ist weg.“
„Welcher Club?“ Er klang ruhig. Zu ruhig.
„Du weißt genau welchen.“
Stille. Dann:
„Ich erinnere mich nur an den Kaffee.“
Abends, in ihrer Wohnung.
Die Nachricht war wieder da.
Unbekannt:
Du erinnerst dich nicht, oder?
Darunter: ein Bild. Unscharf. Neonlicht. Eine Silhouette – vielleicht ihre eigene. Vielleicht nicht.
Ein weiterer Text:
„Das war der Moment, bevor du gegangen bist. Nicht aus dem Club. Aus dir selbst.“
Lia ließ das Handy fallen.
Das Neon war zurück. Es flackerte in ihren Augenwinkeln, obwohl alle Lichter aus waren. Und irgendwo, tief in ihrer Brust, spürte sie wieder diesen Schlag. Kein Herz. Kein Rhythmus.
Ein Echo. Ein Splitter.
Ein Anfang.
Kapitel 4 – Zwischenräume
Sie schlief ein, ohne sich hinzulegen.
Ein Sekundenschlaf. Oder ein Absturz. Vielleicht beides. Der Moment dazwischen – wenn das Herz kurz stockt, der Körper zuckt, als falle man in ein Loch – genau dort begann es.
Zuerst: ein Gang.
Lang. Leer. Zu hell.
Lia ging barfuß. Die Kacheln unter ihren Füßen waren warm, wie von einer Sonne, die nie geschienen hatte. An den Wänden hingen Bilder, doch sie waren verkehrt herum. Ihre Rückseiten zeigten nur Zahlen, eingeritzt in das Holz: 3:17, 8:42, 0:00.
Sie hörte Wasser. Tropfen. Ein langsames, regelmäßiges Tropfen, das tiefer klang, als es sollte.
Am Ende des Gangs: eine Tür.
Nicht groß. Nicht besonders. Doch sie wusste: Diese Tür hatte etwas mit der Nacht zu tun. Mit dieser Nacht. Mit dem, was verloren gegangen war, als das Licht in ihrer Brust zu flackern begann.
Sie legte die Hand an die Klinke. Spürte Puls. Nicht ihren. Einen fremden. Die Tür atmete.
Dann flackerte das Licht.
—
Sie war zurück. In ihrer Wohnung.
Der Boden war kalt. Das Fenster stand offen. Und auf dem Tisch: eine schwarze Karte, die vorher nicht dort gelegen hatte.
Kein Absender. Keine Schrift.
Nur ein Umriss.
Ein Symbol.
Ein Herz – aber nicht rund. Kantig, geometrisch, zerschnitten in drei Teile. Darunter: ein dünner, fast unsichtbarer Satz.
„Du hast das Fragment berührt.“
Lia schluckte. Das war kein Traum, der sich verflüchtigte. Das war etwas, das sich festbiss. In Gedanken. In Bildern. In ihr.
Sie nahm die Karte. Drehte sie um. Leer.
Und dann, ganz leise, wie aus einem anderen Raum, hörte sie eine Stimme. Ihre eigene.
Flüsternd.
„Was, wenn du nie aufgewacht bist?“
Kapitel 5 – Die Rückkehr
Der Tag war farblos.
Lia ging ohne Ziel, doch ihre Schritte wussten mehr als sie. Die Karte – schwarz, glatt, stumm – steckte in ihrer Jackentasche. Sie hatte sie viermal wegwerfen wollen, doch jedes Mal war sie wieder da gewesen. Als hätte sie sich an ihre Hand gewöhnt.
Der Weg führte sie aus der Stadt. Hin zu den Rändern. Zu jenen Zonen, die auf keinem Stadtplan verzeichnet sind, weil niemand sie je genau betrachtet. Alte Industrieviertel, leerstehende Lagerhallen, bröckelnder Asphalt – und dazwischen: etwas, das sich wie Erinnerung anfühlte.
Ein Geruch. Ein Klang. Ein Wind, der falsch war.
Am Rande eines umzäunten Geländes blieb sie stehen. Die Gitter waren rostig, das Tor verriegelt – aber dahinter: ein Gebäude, das genauso aussah wie die Silhouette auf dem Bild von letzter Nacht.
Flach. Fensterlos. Als hätte jemand vergessen, es fertigzubauen.
Sie kletterte über das Tor, riss sich die Jacke auf. Ihre Hände zitterten nicht. Nur ihr Atem war zu laut.
Das Gebäude schien sie zu erwarten.
Drinnen: Stille. Keine Vögel. Kein Wind. Nur das Echo ihrer Schritte auf Beton.
Und dann – wie ein Riss in der Zeit – erkannte sie den Gang.
Lang. Leer. Zu hell.
Genauso wie im Traum.
Nur die Bilder fehlten.
Stattdessen standen Worte an den Wänden, mit Kreide geschrieben, verwischt von Zeit und Staub:
„Du bist nicht hier.“ „Erinnere dich nicht zu schnell.“ „Nimm nur das Fragment mit.“
Sie ging weiter. Zählte Schritte. Hörte Tropfen.
Am Ende des Gangs: dieselbe Tür. Jetzt echt. Jetzt da.
Lia legte die Hand an die Klinke.
Sie war kalt. Leblos.
Kein Puls.
Sie drückte sie trotzdem.
Das, was dahinter lag, war kein Raum.
Es war ein Gefühl.
Ein Geruch nach alter Haut, nach Nachtluft und verbrannten Sekunden. Licht flackerte, als wäre es Wasser. Und mitten darin stand – sie selbst. Oder eine Version. Oder etwas, das wie sie war, aber nie gewesen ist.
Und sie sprach. Mit ihrer eigenen Stimme. Ruhig. Unendlich fern:
„Du hast begonnen, dich zu erinnern.“
„Aber erinnerst du dich an das Richtige?“
Kapitel 6 – Fototrop
Sie kehrte zurück, ohne zu wissen, was sie gefunden hatte.
In ihrer Wohnung herrschte das Licht einer Stunde, die es nie gab – nicht ganz Morgen, nicht ganz Abend. Wie durch milchiges Wasser fiel es über den Tisch, auf dem nun Dinge lagen, an die sie sich nicht erinnern konnte, sie dort hingelegt zu haben.
Ein Stapel Fotografien. Ein Skizzenbuch. Eine Kassette ohne Beschriftung. Und die schwarze Karte.
Sie setzte sich. Langsam, vorsichtig, als könnte eine plötzliche Bewegung alles verschwinden lassen.
Die Fotografien waren alt – und doch nicht vergilbt. Sie zeigten Orte, an denen sie nie war, aber sie wusste, wie sie rochen. Eine Straße im Nebel. Ein leerer Kinderspielplatz bei Nacht. Ein Hotelzimmer, in dem das Licht der Stadt durch rote Vorhänge sickerte.
Und auf einem der Bilder: Sie selbst. Oder jemand, der sie spielen wollte. Nur der Blick stimmte nicht. Zu leer. Zu still.
Sie wandte sich dem Skizzenbuch zu. Die ersten Seiten waren leer. Dann kamen Linien. Spiralen. Räume ohne Türen. Gesichter ohne Augen. Worte in einer Schrift, die sie kannte, aber nicht lesen konnte. Am unteren Rand einer Seite stand, in anderer Tinte:
„Nicht das, woran du dich erinnerst, ist wahr – sondern das, was sich weigert, vergessen zu werden.“
Sie schloss das Buch.
Die Kassette drehte sich noch. Ob sie sie eingelegt hatte, wusste sie nicht. Aus den Lautsprechern kam kein Ton – nur das leise Summen eines Bandes, das sich langsam zurückspult. Rückwärts.
Sie hörte zu.
Und plötzlich war da Musik. Leise. Bekannt. Wie aus einer Kindheit, die nicht ihre war.
Tränen liefen ihr über die Wange, ohne dass sie es bemerkte. Kein Schluchzen. Nur ein stilles, tiefes Erkennen.
Irgendetwas in ihr erinnerte sich. Nicht an Fakten. An Gefühl.
Sie blickte zum Fenster. Dort draußen lag die Stadt. Und irgendwo darin – verborgen, leuchtend, wartend – lag das nächste Fragment.
Kapitel 7 – Verdeckte Negative
Er rief nicht an. Er stand einfach vor der Tür.
Lia öffnete, ohne zu fragen. Ohne zu zögern. Alex trat ein, als hätte er es schon einmal getan – oder nie aufgehört.
Sein Blick fiel auf den Tisch. Auf die Fotos. Die Kassette. Das Skizzenbuch.
„Du hast sie gefunden“, sagte er. Kein Erstaunen. Nur leise Feststellung.
„Ich weiß nicht, woher sie kommen“, sagte sie.
„Du hast sie dir selbst geschickt.“
Sie wollte widersprechen, doch die Worte waren zu schwer.
Alex legte eine Karte auf den Tisch. Nicht schwarz. Dieses Mal: durchscheinend. Wie ein Dia.
Darauf: der Spielplatz bei Nacht.
„Ich zeig’s dir“, sagte er. Und sie ging mit ihm, ohne Tasche, ohne Ziel – nur mit den Bildern im Kopf.
—
Der Spielplatz war genau wie auf dem Foto.
Verrostete Schaukeln, die im Wind klangen wie alte Metallvögel. Der Sand darunter hart, vereist, obwohl es Frühling war. Ein Karussell, das sich langsam drehte, obwohl niemand es bewegte.
„Du warst oft hier“, sagte Alex.
„Wann?“
„Damals. Vor dem Bruch.“
„Welcher Bruch?“
Er antwortete nicht. Er trat zum Karussell, legte eine Hand darauf, hielt es an.
„Hier hast du das erste Fragment gezeichnet.“
Lia setzte sich auf eine Bank. Die Bretter waren morsch. Etwas in ihrem Kopf pochte – nicht Schmerz, eher ein Öffnen.
„Du meinst das Skizzenbuch?“
„Nein. Das erste Fragment war kein Bild. Es war eine Entscheidung.“
Stille.
Der Wind roch nach kalter Erinnerung. Sie hob den Blick. In der Ferne blitzte das Licht einer Straßenbahn auf – und für einen Moment glaubte sie, das Neonlicht aus dem Club zu sehen, zitternd über den Baumwipfeln.
Alex trat zu ihr.
„Ich kann dir die Orte zeigen“, sagte er. „Aber was du dort findest, musst du selbst erkennen.“
Er reichte ihr die durchscheinende Karte zurück.
„Nächste Station?“
„Das Hotel“, flüsterte Lia. Ohne zu wissen, wo es war. Nur dass es rot leuchtete, wenn man sich erinnerte.
Kapitel 8 – Zwischen den Straßen
Sie gingen zu Fuß.
Nicht, weil sie mussten. Sondern weil es anders nicht ging.
Der Weg zum Hotel war nicht auf Karten verzeichnet. Kein Taxi kannte den Namen, kein Navi kannte die Koordinaten. Nur Lia. Und nicht einmal sie ganz. Nur ihr Körper wusste es. Ein Muskelgedächtnis des Traums.
„Warum ist alles so… still?“ fragte sie irgendwann.
Alex blieb stehen. Sie hörten nichts. Kein Auto. Kein Vogel. Nicht einmal Wind.
„Manchmal muss die Welt den Atem anhalten, damit du sie hören kannst“, sagte er.
Sie bogen um eine Ecke, die gestern noch nicht existiert hatte – eine schmale Gasse, eng wie ein Gedanke, der sich versteckt hält. An den Wänden: Plakate, halb abgerissen, in Sprachen, die Lia nicht kannte. Eine roch nach Lavendel. Eine andere nach Staub. Manche schienen zu flüstern, sobald man wegsah.
„Was war der Bruch, Alex?“ fragte sie leise.
Er sah sie nicht an, nur weiter in die Gasse.
„Du hast ihn gewählt. Du hast dich geteilt, weil du es sonst nicht ertragen hättest.“
„Was denn?“
„Alles.“
—
Die Gasse öffnete sich. Kein Platz. Kein Platz im städtischen Sinn. Sondern ein Raum zwischen den Dingen. Ein vergessener Hinterhof vielleicht, oder ein früherer Bahnhof, zugedeckt von Asphalt und Erinnerung. Und in der Mitte: ein Eingang.
Ein Hotelleuchtschild flackerte über der Tür: HOTEL MIRROIR. Spiegelverkehrt geschrieben.
Lia stockte. Alles in ihr zog sich zusammen. Nicht aus Angst. Aus Wissen.
„Ich war schon mal hier“, sagte sie.
„Oft“ antwortete Alex. „Du hast dich hier das erste Mal verloren.“
—
Sie traten ein.
Der Geruch von altem Parfüm und nassem Samt. Der Teppich schluckte ihre Schritte. Kein Empfang. Nur ein langer Flur mit rotem Licht, das flackerte wie Erinnerungen.
Die Wände atmeten. Die Tapeten bewegten sich, als würden sie flüstern. Und wieder war da dieses Gefühl – dass nicht sie ging, sondern der Ort sich ihr näherte.
„Welches Zimmer war es?“ fragte sie.
Alex blieb stehen.
„Deines.“
Und dann war er nicht mehr da.
—
Sie war allein. Aber nicht verloren.
Nur auf dem Weg. Und irgendwo hinter einer Tür wartete das nächste Fragment.
Kapitel 9 – Zimmerlicht
Der Flur war zu lang.
Jeder Schritt schien den Korridor nur zu dehnen. Türen reihten sich an Türen, manche nummeriert, andere nicht. Einige flüsterten, andere blieben stumm. Lia streifte mit den Fingern über die Tapete. Sie fühlte warm. Pulsierend. Fast lebendig.
Sie blieb vor einer Tür stehen. Keine Zahl. Nur ein feiner Riss im Holz. Sie wusste: Hier.
Als sie öffnete, roch der Raum nach ihrer Kindheit. Nach Zitronenlimo und Bleistiften. Nach Staub auf alten Büchern. Das Licht war weich, golden, fast freundlich – und doch… Etwas war falsch.
In der Mitte des Zimmers saß jemand auf dem Bett.
Rücken zu ihr. Dunkles Haar. Schwarze Kleidung. Die Haltung vertraut.
Lia trat ein. Die Tür fiel lautlos zu.
„Hallo?“ flüsterte sie.
Die Gestalt drehte sich langsam um.
Und sah sie an. Mit ihren eigenen Augen.
Nur war da kein Erkennen. Nur Beobachtung. Wie ein Spiegel, der nicht zurückgibt, sondern aufnimmt.
„Du bist also weitergegangen“, sagte das andere Lia.
Die Stimme war tiefer. Als käme sie aus einem stillen See.
„Was… bist du?“
„Ich bin das, was du zurückgelassen hast. Die Version, die blieb, als du dich geteilt hast.“
„Warum bist du hier?“
Die Andere lächelte. Kein Hohn. Kein Trost. Nur Präsenz.
„Damit du nicht vergisst, dass du einmal ganz warst.“
Lia setzte sich langsam. Ihr Blick glitt durch das Zimmer – Fotos an den Wänden, die sich bewegten. Ein Tagebuch, das sich selbst schrieb. Ein Fenster, durch das nicht die Stadt, sondern eine andere Erinnerung zu sehen war: sie selbst, am Rand einer Brücke, über sich das flackernde Neonherz.
„Ich erinnere mich nicht an alles“, flüsterte sie.
„Weil du es nicht willst“, sagte die Andere.
„Kann ich zurück?“ fragte Lia.
Die Gestalt auf dem Bett stand auf. Kam näher. Berührte Lias Stirn mit zwei Fingern – kühl, sanft, vertraut.
„Du kannst zurück zu dir. Aber nicht zu dem, was du warst. Nur zu dem, was du bist – wenn du bereit bist, alles zu sehen.“
Dann war sie weg. Kein Verschwinden. Nur: nicht mehr da.
Und Lia saß da, in einem Raum, der sich langsam in Licht auflöste. Kein Geräusch. Kein Schmerz. Nur ein Gedanke:
Ich bin mehr, als ich behalten habe.
Kapitel 10 – Der Brief im Licht
Der Flur war zu lang.
Jeder Schritt schien den Korridor nur zu dehnen. Türen reihten sich an Türen, manche nummeriert, andere nicht. Einige flüsterten, andere blieben stumm. Lia streifte mit den Fingern über die Tapete. Sie fühlte warm. Pulsierend. Fast lebendig.
Sie blieb vor einer Tür stehen. Keine Zahl. Nur ein feiner Riss im Holz. Sie wusste: Hier.
Als sie öffnete, roch der Raum nach ihrer Kindheit. Nach Zitronenlimo und Bleistiften. Nach Staub auf alten Büchern. Das Licht war weich, golden, fast freundlich – und doch… Etwas war falsch.
In der Mitte des Zimmers saß jemand auf dem Bett.
Rücken zu ihr. Dunkles Haar. Schwarze Kleidung. Die Haltung vertraut.
Lia trat ein. Die Tür fiel lautlos zu.
„Hallo?“ flüsterte sie.
Die Gestalt drehte sich langsam um.
Und sah sie an. Mit ihren eigenen Augen.
Nur war da kein Erkennen. Nur Beobachtung. Wie ein Spiegel, der nicht zurückgibt, sondern aufnimmt.
„Du bist also weitergegangen“, sagte das andere Lia.
Die Stimme war tiefer. Als käme sie aus einem stillen See.
„Was… bist du?“
„Ich bin das, was du zurückgelassen hast. Die Version, die blieb, als du dich geteilt hast.“
„Warum bist du hier?“
Die Andere lächelte. Kein Hohn. Kein Trost. Nur Präsenz.
„Damit du nicht vergisst, dass du einmal ganz warst.“
Lia setzte sich langsam. Ihr Blick glitt durch das Zimmer – Fotos an den Wänden, die sich bewegten. Ein Tagebuch, das sich selbst schrieb. Ein Fenster, durch das nicht die Stadt, sondern eine andere Erinnerung zu sehen war: sie selbst, am Rand einer Brücke, über sich das flackernde Neonherz.
„Ich erinnere mich nicht an alles“, flüsterte sie.
„Weil du es nicht willst“, sagte die Andere.
„Kann ich zurück?“ fragte Lia.
Die Gestalt auf dem Bett stand auf. Kam näher. Berührte Lias Stirn mit zwei Fingern – kühl, sanft, vertraut.
„Du kannst zurück zu dir. Aber nicht zu dem, was du warst. Nur zu dem, was du bist – wenn du bereit bist, alles zu sehen.“
Dann war sie weg. Kein Verschwinden. Nur: nicht mehr da.
Und Lia saß da, in einem Raum, der sich langsam in Licht auflöste. Kein Geräusch. Kein Schmerz. Nur ein Gedanke:
Ich bin mehr, als ich behalten habe.
Kapitel 11 – Das Buch aus Licht und Staub
Das Café Halbschatten war anders.
Nicht retro, nicht hip, nicht „gemütlich“. Es wirkte wie ein Ort, der sich selbst nicht ganz traute – als könnte er jederzeit verschwinden. Die Wände waren holzvertäfelt, aber vergilbt. Pflanzen standen da, die längst hätten vertrocknet sein müssen, aber noch blühten. Überall Kerzen, die nicht rußten.
Alex ließ sie am Fenster sitzen, während er zwei schwarze Tees bestellte. Kein Zucker, kein Milch. „So wie früher“, sagte er.
„Wann war früher?“ fragte sie.
„Vielleicht gleich“, sagte er.
Dann kam die Bedienung. Eine Frau mit stillen Augen. Sie trug ein Tablett – aber darauf lag kein Tee. Nur ein Buch.
Sie stellte es wortlos vor Lia ab.
Der Umschlag war aus grauem Leinen, ohne Titel. Aber als Lia es berührte, durchfuhr sie etwas wie Strom – nicht schmerzhaft, sondern tief. Als würde das Buch sie erinnern, nicht umgekehrt.
Sie schlug es auf.
Die erste Seite zeigte eine Zeichnung: Ein Herz. Kantig. Zerbrochen. Wie auf der Karte. Darunter: ihr Name. Handschriftlich.
Blätternd erkannte sie Skizzen. Fragmente. Szenen. Der Club. Der Spielplatz. Das Hotel. Jede Seite ein Bild aus einem anderen Winkel, einem anderen Licht.
Und dann – plötzlich – eine Seite mit einem Datum: 22. März Und einer Überschrift: „Der Tag, an dem ich mich entschied, zu gehen.“
„Ich habe das geschrieben“, flüsterte Lia.
Alex nickte.
„Aber ich erinnere mich nicht.“
„Noch nicht.“
Auf der nächsten Seite war ein Brief. Nicht an sie. Von ihr.
„Wenn du das hier liest, hast du dich selbst wiedergefunden. Oder wenigstens angefangen, es zu versuchen. Ich bin nicht weg. Ich bin nur dort, wo du mich hingelegt hast. Und vielleicht – nur vielleicht – kannst du mich wieder zusammensetzen.“
Lia schloss das Buch. Ihre Hände zitterten leicht.
„Was ist das?“ fragte sie.
„Dein Archiv“, sagte Alex. „Oder dein Schatten. Vielleicht beides.“
Draußen ging die Sonne unter. Das Licht fiel schräg durch die Fensterscheiben. Und für einen Moment sah Lia im Spiegelbild der Scheibe nicht sich – sondern die andere. Die aus dem Hotelzimmer. Lächelnd. Und dann verschwunden.
Kapitel 12 – Zeilenwandler
Sie saß allein im Café.
Alex war gegangen. Nicht abrupt, nicht seltsam – einfach so, als hätte seine Aufgabe für diesen Moment geendet. Draußen wurde die Stadt weich, golden, entrückt. Aber in Lia brannte ein neues Licht. Kein Neon mehr. Eher wie der Schein einer Taschenlampe unter einer alten Decke: privat, geheim, notwendig.
Sie schlug das Buch wieder auf.
Zuerst schien alles wie zuvor. Die bekannten Zeichnungen, die vertrauten Fragmente, die Einträge mit ihrer Handschrift. Aber dann fiel ihr Blick auf eine neue Seite – eine, die vorher leer gewesen war.
Jetzt stand dort ein Text. Frisch. Die Tinte noch glänzend.
„Du liest es zur richtigen Zeit. Deshalb darfst du jetzt weitergehen. Nicht nach vorn. Nicht zurück. Sondern tiefer.“
Darunter: eine Linie. Ein Pfeil. Er zeigte zur unteren Ecke der Seite, wo sich ein Dreieck abzeichnete – kaum sichtbar. Sie berührte es.
Das Papier wurde warm. Und dann verwandelte sich die Seite. Die Schrift begann sich zu verändern – als würde jemand sie in Echtzeit überschreiben.
Neuer Text:
„Lia – du bist nicht die Einzige, die sucht. Nicht die Einzige, die Fragmente trägt. Ich schreibe dir aus dem Zwischenraum. Du warst hier. Du wirst wieder hier sein. Aber um weiterzugehen, musst du dich erinnern: Was hast du verloren, bevor du dich geteilt hast?“
Sie las es drei Mal. Dann ein viertes Mal. Beim fünften Lesen stand dort plötzlich etwas anderes.
„Du erinnerst dich nicht an den Klang deines Namens in der Nacht. Finde ihn wieder.“
Sie blätterte zurück. Doch die Seite war leer. Nur ein Wort war geblieben – mitten auf der weißen Fläche:
„Zimmer 217“
Sie wusste nicht, wo dieses Zimmer war. Aber sie wusste, sie würde es finden.
Und diesmal würde sie nicht nur suchen. Sie würde fragen.
—
Am Rand des Cafés flackerte kurz ein Licht. Nicht grell. Nicht laut. Nur: ein Echo.
Ein neues Fragment war aufgetaucht.
Und es wartete.
Kapitel 13 – Zimmer 217
Zahlen verfolgten sie.
Seit sie das Café verlassen hatte, tauchten sie überall auf:
Ein Aufkleber an einer Ampel mit „217Hz“,
ein zerknittertes Ticket auf dem Boden – „Platz 217“,
ein alter Ziegelstein mit eingravierter Ziffer 2•1•7.
Zufall?
Nein.
Nicht mehr.
Sie begann, eine Karte zu zeichnen.
Nicht der Stadt. Sondern der Hinweise.
Linien zwischen den Zahlen. Orte, an denen sie auftauchten.
Und irgendwann sah sie es:
Ein Dreieck.
Drei Punkte.
Drei Wege.
Im Zentrum: ein Gebäude, das nicht beschriftet war.
Leer auf jedem Plan.
Aber sie erinnerte sich – ein altes Hotel, längst geschlossen.
Abgedeckt mit Werbebannern. Keine Fenster mehr.
Dort würde sie suchen.
—
Sie ging zu Fuß. Kein Taxi. Kein Bus.
Der Weg führte durch verlassene Straßen, an denen der Asphalt bröckelte und die Laternenflammen flackerten, als atmeten sie. Die Stadt war nicht leer – aber sie war schweigsam. Wie jemand, der gerade zuhört.
Das Gebäude stand da wie ein vergessenes Lied.
Fassaden eingerüstet, Tür vernagelt.
Aber an der Seite – ein Spalt. Kaum sichtbar.
Sie schob sich hindurch.
Drinnen: Staub. Licht, das in Schlieren fiel.
Und dann: Stille.
Sie folgte dem Klang ihrer Schritte.
Zählte Türen.
Sie hielt den Atem an.
Die Tür war leicht geöffnet.
Keine Klinke. Nur ein Riss im Holz.
Wie damals.
Sie stieß sie auf.
Der Raum war nicht leer.
Nicht verfallen.
Nicht verstaubt.
Er war warm.
Beleuchtet.
Als hätte ihn jemand vorbereitet.
In der Mitte: ein Stuhl.
Darauf: ein Tonbandgerät.
Daneben: eine Notiz.
„Drücke Play, wenn du bereit bist.“
Lia trat ein.
Setzte sich.
Schaute kurz nach draußen –
und sah sich selbst im Fenster.
Nur für einen Moment.
Dann war das Bild fort.
Sie drückte Play.
Und dann hörte sie eine Stimme.
Ihre eigene.
Jünger. Sanfter.
Und sie sagte nur:
„Hier beginnt das Erinnern.“
Kapitel 14 – Was blieb
Das Band knisterte. Ein leises Rauschen, wie Wind durch ein Telefonkabel. Dann: ihre Stimme.
Nicht so, wie sie jetzt klang. Jünger. Glatter. Aber am Rand zitterte sie, als würde sie sich selbst kaum ertragen.
„Wenn du das hörst, dann bist du zurück. Dann hast du es gewagt. Ich hoffe, du bist bereit. Denn du wirst gleich sehen, was ich nie mehr sehen wollte.“
Ein weiteres Klicken. Dann wurde es still. Aber in ihrem Kopf… da begann etwas zu rauschen. Nicht von außen. Von innen.
—
Sie stand plötzlich auf einer Straße.
Nicht im Hotel. Nicht in der Gegenwart.
Eine Erinnerung, so echt wie ein Ort.
Sie trug einen Rucksack. Jeans. Kopfhörer. Es war Herbst. Laub lag auf dem Asphalt, golden und tot.
Vor ihr: ein Krankenhaus. Klinik Lichtquell. Das Schild war grau, wie ausgelöscht. Nur das Wort „Quell“ leuchtete noch.
Sie wusste sofort: Sie war hier gewesen. An diesem Tag. Mit dieser Kälte im Bauch.
Die Tür schwang auf. Sie trat ein.
—
Drinnen: ein Flur. Kalte Neonröhren. Geruch nach Desinfektion und Dingen, die nicht mehr werden.
Ein Mädchen saß auf einem Stuhl. Zehn Jahre alt. Braunes Haar. Blauer Pullover mit Planetenmuster.
Es war Lia.
Sie hatte vergessen, dass sie einmal so still sein konnte.
Neben ihr: eine Frau. Die Hände faltet sie fest um ein Telefon. Tränen auf der Wange. Aber kein Laut.
Lia trat näher.
Der Ton des Bandes kehrte zurück. Doch jetzt kam er aus dem Raum selbst.
„Hier hast du dich geteilt.“, flüsterte die junge Stimme.
„Weil du es nicht mehr aushalten konntest. Weil du nie erfahren solltest, was hinter der Tür 3B lag.“
Und plötzlich öffnete sich die Tür.
Lia zitterte. Sie wollte weg. Aber ihre Füße blieben stehen.
Im Raum: ein Bett. Eine Gestalt darunter. Leise Maschinen. Ein leeres Gesicht.
Ihre Schwester.
—
Ein Ruck durchfuhr sie. Licht flackerte. Das Band klickte.
Sie war wieder im Zimmer 217. Der Stuhl. Das Fenster. Das Band war zu Ende.
Nur eine letzte Zeile flackerte auf dem Display:
„Jetzt weißt du, warum du dich geteilt hast.“
Und Lia begann zu weinen. Nicht laut. Nicht zerstört. Sondern ehrlich. Zum ersten Mal seit Jahren.