Der vertikale Wald

Ich klettere über die verrosteten Feuerleitern des letzten Wolkenkratzers in Berlin. Der Wind zerrt an meiner Jacke, trägt den Geruch von verbranntem Plastik und verrrottenden Pflanzen mit sich. Unter mir breitet sich die Stadt aus wie ein Grab aus Beton und Stahl, überwuchert von einem grotesken Teppich aus Vegetation – keine sanften Wiesen oder majestätischen Bäume, sondern fleischfressende Pflanzen mit Blättern wie Rasierklingen und Blüten, die in der Dunkelheit leuchten wie radioaktiver Abfall.
Vierundvierzig Stockwerke habe ich bereits hinter mir. Meine Hände sind roh von den scharfkantigen Metallsprossen, meine Lunge brennt vom Smog, der wie eine giftige Suppe zwischen den Ruinen wabert. Aber ich klettere weiter, getrieben von Hunger und dem vagen Gerücht, dass in den oberen Etagen noch Menschen leben.
Die Feuerleitern enden abrupt im siebenundvierzigsten Stock. Ein Fenster klafft vor mir wie ein zerbrochenes Auge, die Glasscherben glitzern in der schmutzigen Abendsonne. Ich schwinge mich hinein, lande auf einem Teppichboden, der einst edel gewesen sein muss, jetzt aber ein Flickwerk aus Schimmelflecken und undefinierbaren Krusten ist.
„Halt!“, ertönt eine Stimme, scharf wie ein Messer.
Ich erstarre, hebe langsam die Hände. Aus dem Halbdunkel einer Ecke löst sich eine Gestalt – ein Junge, vielleicht vierzehn, sein Gesicht ein Mosaik aus Sommersprossen und Narben. In seinen Händen hält er eine primitive Armbrust, zusammengebaut aus Besenstielen und Gummibändern. Die Spitze des Pfeils zielt direkt auf mein Herz.
„Ich bin nicht bewaffnet“, sage ich, meine Stimme rau vom Klettern und der staubigen Luft. „Ich suche nur Unterschlupf für die Nacht.“
Der Junge neigt den Kopf, studiert mich mit Augen, die zu alt sind für sein Gesicht. „Alle suchen Unterschlupf“, sagt er schließlich. „Aber nicht alle bezahlen dafür.“
Ich taste nach meinem Rucksack, ziehe vorsichtig ein kleines Bündel hervor. „Ich habe Samen. Tomaten, Karotten, sogar Kaffee. Und Antibiotika.“ Die letzten Pillen, die ich vor Monaten in einer verlassenen Apotheke gefunden habe. Sie sind wahrscheinlich abgelaufen, aber in dieser Welt ist abgelaufen besser als gar nichts.
Der Junge senkt die Armbrust einen Zentimeter. „Woher kommst du?“
„Von weit weg“, antworte ich ausweichend. Die Wahrheit – dass ich aus der Antarktis komme, dass ich Dinge gesehen habe, die seinen schlimmsten Albtraum wie einen Kindergeburtstag erscheinen lassen würden – behielte ich lieber für mich.
„Zeig deine Zähne“, befiehlt er plötzlich.
Ich blinzele verwirrt, öffne dann langsam den Mund. Der Junge tritt näher, inspiziert kritisch mein Gebiss.
„Keine schwarzen Linien“, murmelt er, mehr zu sich selbst als zu mir. „Und deine Augen sind klar.“
„Warum…“, beginne ich, aber er schneidet mir das Wort ab.
„Sporen“, sagt er knapp. „Die neuen Pflanzen. Wer zu viel von ihnen einatmet, bekommt schwarze Linien im Mund. Dann im Rachen. Dann in der Lunge.“ Er zuckt mit den Schultern. „Dann ist man tot. Oder schlimmer.“
Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Schwarze Linien. Wie in der Antarktis. Wie das Öl, das unter dem Eis schlief.
„Was ist schlimmer als tot?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits ahne.
Der Junge blickt zum Fenster, wo die ersten Sterne am verqualmten Himmel erscheinen. „Lebend zu sein, aber nicht mehr… du selbst. Als würde etwas anderes in deiner Haut wohnen.“
Er wendet sich ab, deutet mir mit einer knappen Geste, ihm zu folgen. „Komm. Die Nacht ist bald da. Dann kommen die Kletterer.“
Ich folge ihm durch verwinkelte Gänge, vorbei an luxuriösen Apartments, die nun zu grotesken Parodien ihrer selbst verkommen sind. Marmorbäder, in denen Pilze in allen Regenbogenfarben wuchern. Designerküchen, deren Arbeitsflächen von säureähnlichen Substanzen zerfressen sind. Und überall Moos – an den Wänden, der Decke, dem Boden, ein dichter Teppich, der jeden Schritt dämpft und einen seltsam süßlichen Geruch verströmt.
Wir erreichen eine massive Stahltür, die ursprünglich zu einer Luxussuite gehört haben muss. Der Junge klopft in einem komplizierten Rhythmus, wartet, klopft wieder. Ein Schloss klickt, und die Tür öffnet sich ein Spaltbreit.
„Finderlohn“, sagt eine Stimme von innen.
Der Junge seufzt. „Er hat Samen und Medizin, Großmutter. Das reicht für eine Nacht.“
„Und Geschichten?“, fragt die Stimme hoffnungsvoll. „Hat er Geschichten?“
Der Junge sieht mich fragend an. Ich nicke. „Ja, ich habe Geschichten. Von weit her.“
Die Tür öffnet sich weiter, gibt den Blick frei auf eine alte Frau mit silberweißem Haar, das ihr bis zur Taille reicht. Ihr Gesicht ist ein Netz aus Falten, aber ihre Augen sind klar und scharf wie Glasscherben.
„Dann komm herein, Wanderer“, sagt sie und tritt beiseite. „Die Nacht wird lang sein.“
Das Apartment dahinter ist ein Wunder inmitten des Verfalls. Die Fenster sind mit dicken Platten aus Stein verschlossen, nur schmale Schlitze lassen Licht hinein. An den Wänden wachsen Pflanzen in kunstvoll arrangieren Töpfen – nicht die monströsen Mutationen von draußen, sondern gesunde, saftig grüne Exemplare. Tomaten, Petersilie, sogar ein kleiner Zitronenbaum in der Ecke. Solarpanels, die offenbar tagsüber in Position gebracht und abends wieder hereingeholt werden, stehen an einer Wand, verbunden mit einem komplexen System aus Batterien.
Und Menschen. Vier weitere Personen sitzen um einen niedrigen Tisch – ein Mann mittleren Alters mit einem zerfurchten Gesicht und Händen wie Baumrinde, eine junge Frau, deren rechter Arm unter dem Ellbogen fehlt, ersetzt durch eine filigrane Prothese aus Draht und Plastik. Zwei Kinder, die mir mit großen, ernsten Augen mustern, als wäre ich ein Wesen von einem anderen Stern.
„Das ist… unsere Familie“, sagt der Junge, plötzlich unsicher. „Ich bin Einar. Das ist meine Großmutter Hilda.“
Die alte Frau nickt mir zu. „Der mit dem Holzgesicht ist Gerhardt, unser Ingenieur. Anna ist unsere Ärztin – verlier nichts wichtiges, sie hat nur begrenzt Ersatzteile.“ Sie kichert, ein überraschend jugendliches Geräusch aus ihrer alten Kehle. „Und das sind Paz und Liebe, die Zwillinge.“
Er deutet auf sich selbst. „Sieh mich an. Ich war einst wie du – ein Mensch, isoliert in seinem eigenen Bewusstsein, gefangen in einem einzigen Körper, einer einzigen Perspektive. Jetzt bin ich mehr. Ich bin verbunden mit allem Lebenden. Ich fühle den Puls des Planeten, die Gedanken aller verbundenen Wesen. Ich bin nicht weniger ich selbst – ich bin mehr.“
Ich betrachte ihn, versuche zu verstehen, was er mir sagt. Seine Worte klingen verlockend, fast spirituell. Eine Transzendenz, eine Erleuchtung. Aber ich sehe auch die Kletterer am Rand der Lichtung, ihre verzerrten Körper, ihre leeren, milchigen Augen. Sind sie auch noch sie selbst?
„Was geschieht jetzt?“, frage ich. „Was erwartest du von mir?“
Der Botschafter tritt zurück, deutet auf den Boden vor dem Pylon. „Knie nieder. Berühre den Samen. Erfahre die volle Wahrheit – nicht gefiltert durch die Zwillinge, nicht gedämpft durch deine eigene Angst. Sieh, was das Netzwerk wirklich ist. Dann entscheide.“
Ich zögere, spüre, wie mein Herz rast. Das ist der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wenn ich den Samen berühre, das Öl, das unter dem Eis schlief, werde ich nie wieder derselbe sein. Aber ist das nicht genau, warum ich hier bin? Um zu verstehen, völlig und komplett?
Langsam knie ich nieder, strecke meine Hand aus. Die schwarze Substanz im Gefäß bewegt sich, als würde sie mich erkennen, als würde sie auf mich warten. Meine Fingerspitzen schweben Millimeter über der Oberfläche.
„Es wird nicht schmerzen“, sagt der Botschafter sanft. „Es ist wie nach Hause kommen.“
Ich schließe die Augen, hole tief Luft, und tauche meine Finger in das Öl.
Die Welt explodiert in meinem Kopf.
Ich bin überall und nirgendwo zugleich. Ich bin ein Einzeller im Urmeer, ich bin ein Pilznetzwerk, das sich über Kontinente erstreckt, ich bin ein Baum, dessen Wurzeln mit tausend anderen verflochten sind. Ich bin ein Dinosaurier, der unter der Sonne jagt, ich bin ein Vogelschwarm, der als ein Geist fliegt, ich bin ein Wal, der mit seinen Artgenossen über Ozeane hinweg singt.
Und ich sehe die Geschichte – nicht wie sie in Büchern steht, sondern wie die Erde sie erlebte. Ich sehe die erste große Verbindung, als alles Leben noch ein zusammenhängendes Netzwerk war, ein einziger Organismus mit milliarden Zellen, der den gesamten Planeten umspannte. Ich sehe die langsame Trennung, die Isolation, als Lebensformen begannen, sich zu spezialisieren, zu individualisieren.
Ich sehe die Schönheit der Vielfalt, die daraus entstand – aber auch den Preis. Die Einsamkeit. Die Konkurrenz. Der Kampf aller gegen alle, der schließlich in der menschlichen Zivilisation seinen Höhepunkt fand – einer Spezies so isoliert in ihren einzelnen Bewusstseinen, so abgetrennt von allem anderen Leben, dass sie den Planeten selbst an den Rand der Zerstörung brachte.
Und ich sehe die Vision des Netzwerks – eine Welt, in der Verbindung und Individualität koexistieren. Eine Welt, in der jedes Wesen seinen eigenen Geist behält, aber gleichzeitig Teil eines größeren Bewusstseins ist. Ein Planet, auf dem Bäume und Tiere und Menschen in ständigem Dialog stehen, in dem kein Wesen mehr allein leidet oder kämpft.
Es ist wunderschön. Es ist erschreckend. Es ist das Ende einer Welt und der Beginn einer anderen.
Ich ziehe meine Hand zurück, taumle, falle auf meinen Rücken. Der Nachthimmel über mir scheint zu pulsieren, die Sterne zu tanzen. Mein Körper fühlt sich fremd an, als hätte sich etwas in mir verändert, umgeordnet, neu kalibriert.
Der Botschafter kniet neben mir, sein Gesicht eine Maske aus Mitgefühl und Erwartung. „Jetzt verstehst du.“
Ich nicke langsam, Tränen laufen über meine Wangen. „Es ist nicht böse. Es ist nicht invasiv. Es ist nur… anders. So grundlegend anders.“
„Und doch so vertraut“, ergänzt er. „Denn tief in euch, in euren ältesten Erinnerungen, in eurer DNA, wisst ihr Menschen noch, was es heißt, verbunden zu sein. Ihr sehnt euch danach, nennt es Religion, Spiritualität, Liebe. Ihr baut Technologien, um es zu simulieren – eure Telefone, eure sozialen Netzwerke, eure künstlichen Intelligenzen. Aber es sind blasse Schatten dessen, was einst war und wieder sein könnte.“
Ich setze mich auf, mein Kopf schwimmt noch immer von den Visionen. „Die Kontinentalen“, sage ich plötzlich. „Sie versuchen, das Netzwerk zu kontrollieren, zu nutzen. Sie verstehen nicht, womit sie spielen.“
„Nein“, stimmt der Botschafter zu. „Sie sehen nur eine Ressource, eine Waffe, ein Werkzeug. Sie wollen das Öl extrahieren, seine verbindenden Eigenschaften nutzen, aber isoliert, kontrolliert. Ein unmögliches Unterfangen.“
„Sie werden es zerstören“, erkenne ich. „Oder es wird sie zerstören. Es gibt keinen Mittelweg, wenn sie nicht verstehen.“
Der Botschafter nickt traurig. „Deshalb brauchen wir dich. Einen Übersetzer. Einen, der beide Seiten kennt und versteht. Der die Botschaft tragen kann, dass es einen anderen Weg gibt – nicht Krieg, nicht Unterwerfung, sondern Symbiose.“
Ich stehe langsam auf, meine Beine zittern noch. Die Kletterer am Rand der Lichtung haben sich nicht bewegt, aber ich spüre sie nun anders – nicht als bedrohliche Fremde, sondern als Teile eines größeren Ganzen, wie Zellen in einem Körper.
„Was muss ich tun?“, frage ich, plötzlich entschlossen.
Der Botschafter lächelt, sein pflanzliches Gesicht leuchtet sanft in der Dunkelheit. „Du musst reisen. In die Zitadelle der Kontinentalen, im Norden. Du musst ihnen zeigen, was du gesehen hast. Sie werden dir zuhören, weil du noch menschlich bist, noch wie sie. Aber du trägst nun auch die Wahrheit des Netzwerks in dir.“
„Und wenn sie nicht zuhören wollen?“, frage ich leise.
Sein Lächeln verblasst. „Dann wird die Veränderung weitergehen, mit oder ohne ihr Einverständnis. Das Netzwerk ist geduldig – es hat Jahrmillionen geschlafen. Aber es wird nicht zulassen, dass der Planet stirbt, dass alles Leben erlischt in einer letzten, großen Isolation.“
Ich verstehe die Drohung, die in seinen Worten mitschwingt. Das Netzwerk ist kein Aggressor, aber es wird sich verteidigen. Es wird überleben. Die Frage ist nur, ob die Menschheit mit ihm überlebt oder gegen es untergeht.
„Ich werde gehen“, sage ich schließlich. „Ich werde versuchen, sie zu überzeugen.“
Der Botschafter nickt, berührt meine Stirn mit seiner wurzelartigen Hand. Ein warmes Gefühl durchströmt mich, als würde etwas in mir versiegelt, gefestigt.
„Du bist nun verbunden, aber geschützt“, sagt er. „Du wirst das Netzwerk immer spüren, immer hören, aber es wird dich nicht überwältigen. Du bleibst du selbst – und doch bist du mehr.“
Er tritt zurück, hebt beide Arme. Die Kletterer am Rand der Lichtung bewegen sich, bilden einen Pfad nach Norden.
„Sie werden dich führen, bis zur Grenze ihres Territoriums“, erklärt der Botschafter. „Danach musst du allein weitergehen. Die Kontinentalen haben Technologien, die das Netzwerk spüren und angreifen können. Es wäre zu gefährlich für meine Brüder und Schwestern.“
Ich nicke verstehend. „Und die Gruppe im Wolkenkratzer? Hilda und die anderen?“
„Sie sind sicher, solange sie nicht gegen uns kämpfen“, versichert er. „Die Zwillinge werden sie weiter beschützen, werden ihnen helfen zu verstehen. Vielleicht werden auch sie eines Tages bereit sein, sich zu verbinden.“
Er legt eine Hand auf meine Schulter, eine überraschend menschliche Geste für ein Wesen, das so wenig menschlich scheint. „Reise sicher, Übersetzer. Die Zukunft aller hängt von dir ab.“
Mit diesen Worten tritt er zurück, versinkt im Schatten der umgebenden Pflanzen, bis nur noch seine Augen sichtbar sind – zwei leuchtende Punkte in der Dunkelheit. Dann sind auch sie verschwunden.
Ich stehe allein in der Mitte der Lichtung, nur der Pylon mit dem schwarzen Öl neben mir. Am Rand warten die Kletterer, geduldig, still, verbunden in einem Geist, der größer ist als sie.
Meine Reise hat gerade erst begonnen.