Zuflucht

Manchmal frage ich mich, ob es ein Geräusch gibt, das mehr irritiert als das schrille Piepen eines alten Telefons. Ich spreche nicht von Smartphones. Diese glatten, makellosen Dinger summen oder zwitschern wie ein schlecht gelaunter Wellensittich. Nein, ich meine so ein richtig altmodisches Festnetztelefon. Eins mit einem richtigen Hörer, der zu schwer ist, um ihn länger als zwei Minuten bequem in der Hand zu halten, und einem Klingelton, der sich wie ein Alarm durch die Wohnung bohrt.
Das Telefon war ein Erbstück. Von meiner Mutter. Eine jener Sachen, die man nicht wegwirft, weil sie angeblich „Geschichte“ haben. Was immer das heißen soll. Geschichte, wie die Zeit, als ich nachts von ihrem Schlafzimmerfenster hörte, wie sie heimlich mit irgendeinem Typen geredet hat. Flüstern, lachen, dieses falsche, halb erstickte Kichern. Aber darüber sprechen wir nicht. Stattdessen sitzt das Ding jetzt in meiner Küche und bringt mich zur Weißglut.
„Willst du nicht rangehen?“, fragt sie.
„Nee“, sage ich. „Ist bestimmt bloß die Vergangenheit.“
Das versteht sie nicht. Wahrscheinlich denkt sie, ich rede von irgendeinem Ex oder einem Gläubiger. Ihre Augenbraue zuckt ein bisschen hoch, aber sie sagt nichts. Sie sitzt mir gegenüber, beugt sich leicht über ihren Kaffee und rührt so langsam um, dass ich fast hypnotisiert werde. Der Löffel kratzt leise gegen den Rand der Tasse, eine rhythmische Bewegung, die irgendwie beruhigend ist. Oder wäre, wenn sie nicht diese Art hätte, mit jeder Kleinigkeit Spannung zu erzeugen.
Der Geruch von verbranntem Toast hängt immer noch in der Luft. Ich hab versucht, das Fenster zu öffnen, aber der Rahmen klemmte. Typisch für diese Wohnung. Alles klemmt. Türen, Fenster, die verdammten Schubladen. Wahrscheinlich klemmen sogar die Rohre. Ich hab mal gehört, dass die Wände in alten Häusern alles aufsaugen: Gerüche, Geräusche, Erinnerungen. Vielleicht saugt meine Wohnung auch Menschen an. Oder hält sie fest.
„Ich verstehe nicht, warum du dir so viel Mühe gibst, das zu ignorieren,“ sagt sie, und ich merke, dass sie immer noch über das Telefon spricht. Oder vielleicht auch nicht. Bei ihr weiß man nie, ob sie was Allgemeines meint oder ob sie dich einfach nur pieksen will.
„Muss man immer alles beantworten?“ frage ich zurück. „Manchmal ist nicht rangehen doch die einzige vernünftige Option.“
Sie schaut mich an, mit diesem leicht schiefen Grinsen, das sie immer aufsetzt, wenn sie glaubt, etwas Kluges gesagt zu haben. „Man könnte meinen, du hast Angst.“
„Angst?“ Ich lache, obwohl mir nicht nach Lachen zumute ist. „Wovor denn? Dass die Vergangenheit mich beißt?“
„Manchmal tut sie das“, sagt sie, und diesmal klingt es fast ernst. Aber ich hab keine Lust, das weiterzuverfolgen.
Ich stehe auf, greife nach meiner Tasse und gehe zum Fenster, obwohl ich weiß, dass der Rahmen immer noch klemmt. Ich tue so, als würde ich den Blick nach draußen genießen. Grauer Himmel, die Blätter der Bäume, die in einem müden Windstoß zittern, und irgendwo weiter unten ein Typ, der seinen Hund anschreit, weil der nicht hören will. Irgendwas an der Szene beruhigt mich trotzdem. Vielleicht, weil sie normal ist. Banale Konflikte zwischen Mensch und Tier. Dinge, die keine bleibenden Schäden hinterlassen.
„Du bist ein ziemlich verschlossener Mensch“, sagt sie plötzlich, und ich spüre, wie sich etwas in meinem Nacken zusammenzieht.
„Ach ja?“, sage ich. „Findest du?“
„Ja. Ich meine, du bist nett und so, keine Frage. Aber nett ist halt nicht…“ Sie macht eine Geste, als würde sie nach einem Wort greifen, das irgendwo in der Luft hängt. „…nicht alles.“
„Was ist denn alles?“ frage ich.
„Ehrlichkeit,“ sagt sie. „Oder Verletzlichkeit.“
Ich drehe mich zu ihr um, lehne mich gegen die kalte Fensterbank. Der Kaffee in meiner Tasse hat sich schon abgekühlt, aber ich halte sie trotzdem fest, als wäre sie irgendwas, das mir Halt gibt.
„Verletzlichkeit ist überbewertet“, sage ich. „Das ist nur ein anderes Wort dafür, Leute in dein Leben reinzulassen, die dann wieder rausgehen und Chaos hinterlassen.“
„Das glaubst du wirklich?“, fragt sie, und diesmal klingt sie fast ein bisschen traurig. Oder vielleicht bilde ich mir das nur ein. Ich bin nicht gut im Deuten von Gefühlen, vor allem nicht bei anderen Leuten.
„Das weiß ich,“ sage ich, obwohl das natürlich gelogen ist. Aber manche Lügen fühlen sich richtiger an als die Wahrheit.
„Vielleicht“, sagt sie und steht auf. Sie nimmt ihre Tasse und geht zur Spüle, wo sie das Wasser laufen lässt, obwohl sie nicht wirklich spült. Nur der Klang von Wasser, das gegen Metall klatscht. Es gibt ein paar Sekunden, in denen keiner von uns was sagt, und dann dreht sie sich um und lehnt sich gegen die Arbeitsplatte, genau wie ich gegen die Fensterbank.
„Vielleicht hast du recht,“ sagt sie schließlich. „Aber das klingt ziemlich einsam.“
Einsam. Das Wort hängt in der Luft, schwer und klebrig wie Zigarettenrauch. Ich mag das Wort nicht. Es klingt so endgültig, so unbeweglich.
„Einsam ist auch nur ein anderes Wort für Ruhe,“ sage ich. Es soll cool und lässig klingen, aber ich weiß, dass es das nicht tut. Sie merkt es auch. Ihr Blick wird ein bisschen weicher, aber sie sagt nichts mehr. Stattdessen dreht sie sich um, macht den Wasserhahn aus und greift nach ihrem Schlüsselbund, der auf der Anrichte liegt.
„Ich sollte los,“ sagt sie. „Hab noch was zu erledigen.“
„Klar,“ sage ich, weil es nichts anderes zu sagen gibt. Wir tauschen keine Umarmungen oder Küsse, nur ein kurzes Nicken, und dann ist sie weg. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss, ein dumpfer, endgültiger Klang.
Ich stehe noch eine Weile da, mit der kalten Kaffeetasse in der Hand, und starre auf die Stelle, an der sie gerade noch gestanden hat. Die Küche fühlt sich plötzlich größer an, oder vielleicht ist es auch nur mein eigenes Echo, das von den Wänden zurückprallt. Ich denke daran, das Fenster zu öffnen, aber ich weiß, dass es klemmt.
Stattdessen setze ich mich wieder an den Tisch, nehme das alte Telefon in die Hand und lausche dem Summen des Freizeichens. Ich weiß nicht, warum ich es tue. Vielleicht will ich einfach hören, wie sich das Geräusch der Vergangenheit anhört.