Walker

„Manche gehen, um etwas zu finden.
Andere, weil sie etwas mit sich tragen, das nirgendwo bleiben darf.“
Nebelbruch
Ich weiß nicht, wann genau der Nebel kam. Vielleicht war er einfach da, wie Müdigkeit oder Schuld. Kein Wetter, eher ein Zustand. Ich stand an der Ecke der Bahnstraße, wo früher mal ein Kiosk war, und starrte auf den Dunst, der über den Schienen hing wie ein schlecht gelaunter Gedanke. Alles war still. Selbst der Wind hatte aufgegeben.
Ich hab nichts erwartet. Ganz sicher niemanden wie ihn.
Er kam aus dem Nebel wie einer, der ihn gemacht hat. Nicht gehetzt. Nicht ziellos. Er ging einfach. Geradeaus. Schritt für Schritt. Die Hände locker an den Seiten, den Blick nicht gesenkt, aber auch nicht wirklich interessiert. Als würde er die Welt schon kennen – oder sie nicht mehr ernst nehmen.
Sein Gesicht? Schwer zu sagen. Markant, aber ohne Details. Wie ein Bild, das man aus der Erinnerung malt. Graues Haar, wettergegerbte Haut. Ein Lächeln, das zu lange im Mund gelegen hatte. Nicht freundlich. Nicht kalt. Nur da.
Er trug eine ausgewaschene Jeans, eine alte Jacke mit aufgerissener Brusttasche und Stiefel, die aussahen, als hätten sie mehr Straßen gesehen als ich Gedanken. Kein Gepäck. Kein Ziel.
Ich stand da, wie man halt steht, wenn man nichts anderes mehr tut. Und er ging einfach an mir vorbei. Kein Nicken. Kein Wort. Nur dieser Geruch blieb in der Luft – alt, metallisch, wie Bahnschwellen und abgebrannter Regen.
Dann sah ich sie.
Hinter ihm: Schatten. Menschen vielleicht. Oder Reste davon. Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Keine Gesichter. Keine Bewegungen, außer dem Gehen. Sie folgten ihm, nicht dicht, aber entschlossen. Wie Erinnerungen, die einen nicht ganz loslassen. Ich zählte fünf, sechs … oder waren’s mehr?
Ich weiß nicht, warum ich mich umdrehte und langsam hinterherging. Vielleicht war es der Nebel. Vielleicht das Gefühl, dass man sich selbst sonst nicht mehr begegnet.
Vielleicht war es auch einfach nur das: Er wirkte wie jemand, der wusste, wohin er ging.
Und das war mehr, als ich von mir sagen konnte.
Die Kapuzengänger
Sie gleiten. Nicht gehen. Ihre Schritte berühren den Boden, aber hinterlassen nichts. Kein Geräusch. Kein Abdruck. Nur die Luft wirkt kurz schwerer, wenn sie vorbeiziehen – wie kurz vor einem Gewitter, wenn sich alles auflädt und du weißt nicht womit.
Ich bleib auf Abstand. Keine Ahnung, ob sie mich überhaupt bemerken. Sie schauen nicht zurück. Schauen überhaupt nicht. Ihre Köpfe sind gesenkt, aber man spürt, dass da etwas ist unter den Kapuzen. Etwas, das nicht schläft.
Der Walker – ich nenn ihn so, weil er’s ist – läuft wie vorher. Kein Blick über die Schulter, kein Zögern, als wären diese Gestalten einfach Teil von ihm. Wie ein Schatten, der zu groß geraten ist. Oder zu viele.
Wir ziehen durch Viertel, die ich nicht kenne. Und ich kenn die Stadt. Dachte ich. Aber da sind Straßen, die in Sackgassen führen, und doch nicht aufhören. Häuser mit zugemauerten Fenstern, die nachts trotzdem leuchten. Ein Waschsalon, in dem sich die Maschinen drehen, obwohl keiner drin ist. Ich bleibe vor dem Fenster stehen, sehe das rotierende Licht und frage mich, wann ich zuletzt gewaschen habe. Mich selbst. Irgendwas.
Die Kapuzengänger ziehen weiter, ohne Pause. Keine Regung. Kein Husten, kein Schlurfen. Als wären sie Teil des Nebels und der Walker nur ihr Zentrum. Die Bewegung, um die sie kreisen. Oder andersrum. Vielleicht sind sie’s, die ihn tragen. Irgendwie. Innen drin. Oder drüber.
In einem Innenhof bleibt der Walker plötzlich stehen.
Ich halte den Atem an. Die Kapuzengänger auch.
Er schaut auf eine Wand. Nur eine Wand. Bröckelnder Putz, Graffiti in einer Sprache, die keiner spricht. Drei Sekunden. Vielleicht fünf. Dann geht er weiter.
Sie folgen.
Ich auch.
Und irgendwo in meinem Bauch rumort es. Kein Hunger. Eher so ein Knirschen, als hätte man einen falschen Namen gegessen.
Keine Karten mehr
Ich versuch’s ja. Ehrlich. Aber irgendwann begreif ich: Die Stadt spielt nicht mit.
Ich laufe ein Stück voraus, will raus, irgendeinen Rand finden. Ich kenn das Viertel noch von früher – dachte ich. Hier müsste die alte Tankstelle sein, der Kiosk mit dem Klappfenster. Aber da ist nichts. Nur ein Haus mit zugemauerten Türen. Und daneben ein Spielplatz, den ich noch nie gesehen hab. Keine Schaukeln. Nur ein rostiger Rahmen, aus dem ein Seil hängt. Der Wind bewegt es, obwohl keiner weht.
Ich geh weiter. Eine halbe Stunde vielleicht. Zwei. Ich achte auf Straßennamen – aber die Schilder sind blind. Entweder abgekratzt oder zugerostet. Einmal steht da was, aber nur ein Wort: „Zurück“.
Ich kehre um.
Und stehe – ohne Umweg, ohne Abbiegung – wieder genau an der Stelle, wo ich losgelaufen bin.
Der Walker ist da. Natürlich. Steht unter der Laterne, die nicht leuchtet. Seine Hände in den Jackentaschen, als würde er nur auf den Bus warten. Die Kapuzengänger sind um ihn herum verteilt wie Krähen auf einem verlassenen Feld. Sie tun nichts. Gar nichts. Und doch tun sie zu viel.
Ich bleibe stehen.
„Was willst du eigentlich?“, flüstere ich in seine Richtung, aber meine Stimme hört sich fremd an. Wie durch ein altes Tonband gezogen. Kratzig, zu langsam.
Er antwortet nicht.
Stattdessen dreht er sich um – ganz ruhig – und sieht mich an. Zum ersten Mal. Seine Augen sind nicht besonders. Keine Spiegel, keine Flammen, keine Leere. Nur müde. Als hätte er alles gesehen. Und nichts behalten dürfen.
Dann geht er weiter.
Ich zögere kurz. Nur einen Atemzug lang.
Dann folge ich.
Der Nachtwind hat Stimmen
Es ist keine richtige Nacht. Eher so ein Dazwischen. Wie kurz vor dem Einschlafen, wenn die Geräusche kippen. Wenn der Kühlschrank plötzlich atmet und das eigene Herz klingt, als gehörte es jemand anderem.
Der Nebel liegt dick auf der Straße. Wie ausgegossene Milch. Ich sehe den Walker nur noch schemenhaft, seine Silhouette flimmert leicht. Als wäre er nicht ganz hier. Die Kapuzengänger gleiten hinterher, wortlos wie immer, aber heute wirken sie … lauter. Nicht in Geräuschen. In Präsenz.
Ich bleib stehen.
Der Wind kommt auf. Erst kaum merklich. Dann spürbar. Und er bringt etwas mit. Kein Pfeifen. Kein Heulen. Sondern … Stimmen.
Leise, flirrend, so als würde jemand ganz nah an deinem Ohr flüstern. Aber niemand ist da.
„Matteo“, höre ich.
Ich zucke zusammen. Das ist mein Name. Oder war es mal.
Dann noch mehr. Namen, die ich vergessen hab. Vielleicht nie kannte. In Sprachen, die sich anfühlen wie warme Hände auf kaltem Stein. Eine Frauenstimme summt ein Lied. Nur ein Fragment. Und ich weiß plötzlich, dass ich das Lied kenne – obwohl ich es noch nie gehört hab. Mein Kopf wird heiß. Ich taste nach meiner Stirn. Nass. Nicht von Regen.
Ich drehe mich um. Niemand da.
Die Kapuzengänger sind still, aber einer von ihnen dreht sich leicht zur Seite. Nicht viel. Nur so, als hätte er gehört, was ich gehört hab.
Der Walker bleibt stehen. Kein Wort. Kein Zeichen. Und doch verändert sich alles. Die Luft. Die Farben. Die Richtung der Schatten. Für einen Moment wirkt es, als würde die Stadt den Atem anhalten.
Ich will rufen. Fragen. Irgendwas.
Aber meine Stimme gehorcht nicht mehr.
Nur der Wind spricht. Und er spricht mich an.
Der Mann aus dem Spiegel
Ich finde Unterschlupf in einem Friseursalon. Oder dem, was davon übrig ist. Ein halber Neonbuchstabe blinkt an der Scheibe – das „F“ zittert, als hätte es Schluckauf. Drinnen: kaputte Sitze, Haare auf dem Boden, die keiner mehr geschnitten hat. Alles verstaubt. Nur der Spiegel ist sauber. Fast zu sauber.
Ich weiß nicht, warum ich reingehe. Vielleicht weil draußen die Stimmen leiser werden. Oder weil ich das Gefühl hab, ich werd verfolgt – nicht von den Kapuzengängern, sondern von mir selbst.
Ich setz mich in einen der Sessel. Schau in den Spiegel. Erst seh ich mich.
Dann nicht mehr.
Da steht er. Der Walker. Hinter mir. Regungslos. Sein Gesicht nicht scharf, eher wie in einer Pfütze gespiegelt, wenn man grad drauftritt. Ich dreh mich um – leer. Niemand da. Ich schau wieder in den Spiegel. Da ist er wieder. Gleiche Haltung. Nur jetzt: Er lächelt.
Aber nicht wie einer, der sich freut. Sondern wie einer, der weiß, dass du gleich begreifst.
„Was willst du?“, flüstere ich.
Sein Spiegelbild hebt die Hand. Ganz langsam. Legt den Zeigefinger an die Lippen. Ich spüre Gänsehaut bis in die Knöchel. Und ich begreife: Er antwortet mir. Nicht in Worten. Sondern in Andeutungen. In Spiegelscherben.
Ich blinzle. Und dann ist er weg.
Ich stehe auf. Rückwärts. Tür auf. Wieder in den Nebel. Der Spiegel bleibt hinter mir. Leer. Vielleicht war er’s nie. Vielleicht bin ich es.
Als ich die Straße entlanglaufe, sehe ich in jeder spiegelnden Fläche etwas. Mal nur den Mantel. Mal die Schatten. Mal ein Lächeln, das zu keinem Gesicht gehört.
Ich gehe schneller.
Der Walker wartet nicht.
Er geht.
Immer weiter.
Der leere Bahnhof
Der Bahnhof liegt wie ein gestrandetes Tier am Rand der Stadt. Eisen zerfranst, Mauern geborsten, Dächer eingesackt. Es riecht nach altem Öl und rostigem Wasser. Kein Zug fährt mehr, seit Jahren vermutlich. Oder Jahrzehnten. Oder nie.
Der Walker geht hinein, als wär das hier sein Wohnzimmer. Keine Eile, keine Vorsicht. Die Kapuzengänger folgen. Einer streift mit dem Saum seiner Robe eine Metallbank. Es quietscht nicht. Es passiert einfach. Geräuschlos. Wie Gedanken, die man nicht denkt, aber trotzdem hat.
Ich zögere an der Schwelle. Eine weiße Taube sitzt auf dem Boden, tot. Die Augen offen. Kein Blut. Kein Wind. Ich trete drüber.
Innen ist es kalt. Nicht körperlich, sondern … tiefer. So eine Kälte, die Erinnerungen einfriert. Der Hall verschluckt meine Schritte. Nur seine nicht. Der Walker bewegt sich durch die Halle, vorbei an alten Fahrkartenschaltern und Zetteln mit verblasster Schrift: „Gleis 3 entfällt.“
Ich frage mich, ob hier je ein Zug ankam. Oder ob der Bahnhof nur gebaut wurde, um zu warten.
Er bleibt vor einem Gleis stehen, das ins Dunkel führt. Kein Licht. Nur ein Tunnel, der aussieht wie ein offenes Maul. Die Kapuzengänger stellen sich rechts und links von ihm auf. Wie Wächter. Oder Grabsteine.
Ich will etwas sagen. Vielleicht: „Was ist da drin?“ Vielleicht auch nur: „Was bist du?“
Aber da fällt der Strom aus.
Ich weiß, es war keiner da. Aber trotzdem: Ein Knistern. Dann totale Schwärze. Ein Summen wie von alten Leuchtstoffröhren. Und da: ein Flackern. Irgendwo tief unten im Tunnel. Hell. Dann dunkel. Dann wieder hell.
Der Walker dreht sich zu mir um. Seine Augen sind schwarz. Nicht dämonisch. Nur … leer.
Ich gehe keinen Schritt weiter.
Aber ich bleibe auch nicht zurück.
Die Stimme der Tunnel
Es riecht nach Metall, feucht und alt. Wie eine vergessene Münze in einer Manteltasche. Der Tunnel liegt vor uns wie ein aufgerissener Schlund. Kein Licht, keine Richtung, nur das Gefühl, dass da etwas wartet. Vielleicht nichts. Vielleicht alles.
Der Walker tritt zuerst ein. Klar. Die Kapuzengänger folgen ihm, lautlos wie immer. Ich zögere – nicht aus Angst. Die hab ich irgendwo auf halber Strecke verloren. Wahrscheinlich in einem der leerstehenden Häuser, zwischen einem gefrorenen Blick und dem Bild im Spiegel.
Ich trete in den Tunnel.
Die Luft ist schwerer hier. Nicht dicker – schwerer. Als würde man durch Gedanken atmen, die zu alt zum Aussprechen sind. Die Wände sind feucht, von oben tropft es rhythmisch, als würde jemand zählen. Irgendwo klappert eine lose Leitung im Wind. Nur gibt’s hier keinen Wind.
Dann höre ich es.
Nicht laut. Mehr wie ein Zittern hinterm Ohr. Erst undeutlich. Dann Worte. Zerbrochene Sätze. Und Stimmen, die mir bekannt vorkommen. Eine davon: meine Mutter. Sie ruft meinen Namen. Aber nicht, wie man jemanden sucht – sondern, wie man sich verabschiedet.
„Matteo … bleib da … nicht … zu spät …“
Ich bleibe stehen. Spüre, wie sich der Tunnel bewegt. Nicht physisch – eher in mir. Als würde die Richtung nicht mehr stimmen. Ich taste die Wand ab. Kalt. Rau. Echt.
Der Walker bleibt stehen. Ganz vorne. Die Schatten um ihn herum sind verschwommen, als wären sie nicht mehr ganz da. Oder mehr als vorher.
Ich gehe weiter. Muss. Will. Keine Ahnung.
Dann spricht der Tunnel. Mit meiner Stimme.
„Ich erinnere mich an dich.“
Ich bleibe stehen.
Der Walker dreht sich um. Nickt.
Nur ein einziges Mal.
Die Stadt der Fluchten
Man merkt erst, dass man die Stadt gewechselt hat, wenn man es nicht mehr erklären kann. Ich blinzele, einmal, zweimal, und plötzlich ist da kein Tunnel mehr. Keine Gleise. Nur Straßen, die zu schnell zu breit werden. Fassaden, die flackern wie Filmrisse. Plakate an Mauern mit Gesichtern, die sich beim Hinsehen verändern. Wahlwerbung für Kandidaten ohne Augen. Angebote für Fernseher in Ruinen ohne Strom.
Der Walker geht einfach weiter. Die Kapuzengänger fließen hinter ihm her, wie Rauch an einem heißen Fenster.
Ich bleibe zurück. Kurz. Muss atmen. Sortieren. Aber die Luft hier schmeckt nach Asche und kaltem Kaffee. Unerwartet vertraut. Als hätte ich früher hier gewohnt – in einem Leben, das nie meins war.
Die Menschen? Es gibt sie. Irgendwie. Schemen, Scheißegal-Blicke, Körper, die sich durch Gassen schieben wie verlorene Gedanken. Keiner spricht. Keiner sieht mich an. Als wäre ich ein Schatten von etwas, das sie längst vergessen haben.
Ich folge dem Walker durch eine Kreuzung, wo alle Ampeln gleichzeitig auf Rot stehen. Die Straße glänzt, obwohl es nicht geregnet hat. In den Fenstern der Häuser flackert Fernsehschein, obwohl keiner zuschaut. Ich sehe eine Frau, die mir ähnlich sieht – sie steht still hinter einer Gardine, ein Kind auf dem Arm, das mich direkt ansieht. Ich bleibe stehen. Das Kind winkt.
Ich drehe mich um. Die Szene ist weg.
Der Walker biegt ab. Ich beeile mich, nicht den Anschluss zu verlieren. Wieder diese plötzliche Enge, dann ein Platz. Verwildert. Ein Brunnen, aus dem kein Wasser kommt. Darum herum Bänke, leer.
Nur einer sitzt da. Eine Frau mit weißer Kapuze.
Sie hebt den Kopf, als würde sie auf mich gewartet haben.
„Du kommst spät“, sagt sie. Ihre Stimme ist klar, weich, wie ein Lied in einer Sprache, die man fast vergessen hat.
Ich setze mich. Frage nichts. Kann nichts fragen. Nur hören.
„Er trägt euch alle in sich“, sagt sie, ohne zu zeigen, von wem sie spricht. Dann zieht sie ein Foto aus ihrer Manteltasche. Vergilbt. Zerknickt.
Darauf: Ich. Der Walker. Und ein drittes Gesicht, verwischt. Unlesbar. Aber ich weiß, dass ich es kenne.
Ich sehe sie an. Will etwas sagen.
Doch sie ist nicht mehr da.
Nur das Foto bleibt.
Und der Walker geht weiter.
Die Frau mit der weißen Kapuze
Ich halte das Foto. Fester, als ich sollte. Es fühlt sich nicht an wie Papier. Eher wie Haut. Dünn, fast durchsichtig. Der Druck ist blass, die Farben ausgewaschen, wie durch Regen gezogen. Mein Gesicht darauf wirkt müde. Nicht gealtert, nicht verwahrlost – müde. Der Walker steht links von mir. Steif, der Blick nach unten, als hätte ihn jemand in die Szene gezwungen. Und rechts – dieses unscharfe Etwas. Kein Gesicht. Nur eine Ahnung.
Ich geh weiter. Nicht, weil ich will. Sondern weil man irgendwann merkt, dass Stehenbleiben auch nichts ändert.
Die Stadt um mich herum wirkt verändert. Nicht nur fremd, sondern … aufmerksamer. Als würde sie mich beobachten. Ich sehe wieder Leute. Einzelne. Sie starren an mir vorbei. Flüstern, wenn ich nahe komme. Worte wie „Rückkehrer“ oder „Zeitenverschieber“. Keine Ahnung, ob ich gemeint bin. Aber wer sonst.
Ich seh sie wieder bei der alten Straßenbahn. Die Frau mit der weißen Kapuze. Sie sitzt auf der Plattform, als hätte sie nie woanders gesessen. Ihr Gesicht ist ruhig, wach, aber nicht neugierig. Sie kennt mich. Nicht als Person. Sondern … als Zustand.
„Es ist nicht das erste Mal“, sagt sie. Ohne Begrüßung. „Du folgst ihm jedes Mal. Und jedes Mal vergisst du es wieder.“
Ich bleibe stehen.
„Was meinst du mit ‚jedes Mal‘?“
Sie sieht mich nicht an. Blickt auf die Schienen unter sich. „Der Walker trägt Erinnerungen. Nicht nur seine. Eure. Alle.“
Ich will lachen. Oder schreien. Oder aufwachen.
„Was ist er?“
„Ein Träger“, sagt sie. „Ein Rückstrom. Ein Ort, der geht.“
Ich versteh nichts. Oder vielleicht zu viel.
„Und ich?“
Sie dreht den Kopf, sieht mich jetzt doch an. Die Augen unter der Kapuze sind alt. Nicht vom Alter. Vom Wissen.
„Du warst vor ihm da. Du warst der Erste.“
Sie steht auf. Lässt das Foto auf der Plattform liegen. Jetzt ist es leer. Keine Gesichter. Nur Nebel.
Dann ist sie weg. Wie Dampf. Wie ein Gedanke, der zu früh verschwindet.
Und ich stehe da.
Mit einem Namen, der mir wieder einfällt.
Und einem Mann, dem ich trotzdem weiter folgen muss.
Das Haus ohne Zeit
Man erkennt es nicht sofort. Es sieht aus wie jedes andere dieser halb verfallenen Häuser. Grauer Putz, kaputte Fenster, ein Garten, der mehr Gerücht als Realität ist. Doch als ich davor stehe, wird mir klar: Hier stimmt etwas nicht. Die Luft flackert leicht. Wie Hitze auf Asphalt – nur kälter.
Der Walker bleibt stehen. Die Kapuzengänger verteilen sich um das Haus, ohne sich zu bewegen. Sie wirken wie eingefrorene Figuren in einem Gemälde, das der Maler nie vollenden wollte. Der Walker legt die Hand an die Tür. Kein Schlüssel, kein Druck – sie öffnet sich einfach. Einmal Knarzen, dann Stille. Und dann geht er hinein.
Ich folge.
Drinnen: Licht. Aber keines, das man beschreiben kann. Es scheint nicht von einer Lampe zu kommen. Es ist einfach da. In den Ecken, auf den Böden, in den Staubfäden, die zwischen den Räumen schweben. Die Luft riecht nach Wachs und alten Radiomelodien. Ich höre irgendwo ein Ticken, aber keine Uhr.
Der erste Raum ist leer. Der zweite nicht. Er ist vollgestopft mit Dingen, die ich vergessen hatte: ein blaues Plastikauto, das ich mit vier verloren habe. Ein zerknitterter Kassenzettel mit meiner alten Adresse. Eine Zeitung mit einem Datum, das nie existiert hat. 19. November 199Z. Die letzte Ziffer flimmert. Ich blinzele. Sie fehlt.
Ich will zurück in den Flur – doch der ist nicht mehr da.
Stattdessen: Ein Schlafzimmer. Mein altes. Bettgestell aus Metall, kariertes Laken, die Poster an der Wand exakt wie damals. Sogar der Riss in der Ecke, wo ich mal mit dem Fußball… Ich geh näher. Die Luft wird dick.
Der Walker steht im Türrahmen. Er sagt ein Wort. Nur eins.
„Bleib.“
Es klingt nicht wie ein Befehl. Eher wie eine Tatsache.
Ich will widersprechen. Will sagen, dass ich nicht bleiben kann, dass ich doch nur gefolgt bin, dass ich nichts weiß.
Aber mein Mund ist leer.
Und draußen beginnt es zu dämmern. In sich selbst.
Schattenfall
Ich weiß nicht, wie lange ich in dem Haus war. Zeit ist hier keine Linie. Eher ein Kreis mit Rissen. Oder ein Echo, das zurückkommt, bevor man etwas gesagt hat.
Als ich wieder draußen bin, ist die Stadt dunkler. Nicht Nacht-dunkel, sondern tiefer. Die Schatten sind länger als die Dinge, die sie werfen. Manche von ihnen bewegen sich, auch wenn das Licht stillsteht.
Die Kapuzengänger sind näher. Sie drängen sich nicht auf – sie sickern. Zwischen Wände, über Dächer, durch mich hindurch. Ich spüre sie an Stellen, die nicht körperlich sind. Gedanken, die sich wie kalter Nebel um meine Erinnerungen legen. Ich denke an meine Schwester. Aber sie hat nie existiert. Trotzdem weiß ich, wie sie gelächelt hat.
Der Walker geht. Noch immer. Unbeirrt. Seine Schritte hallen auf dem Pflaster wie ein gleichmäßiger Pulsschlag. Und dann passiert es.
Einer der Kapuzengänger bleibt stehen.
Nur ein kleiner Ruck. Aber ich sehe es. Spüre es. Die Anderen gleiten weiter. Doch dieser bleibt zurück. Seine Kapuze dreht sich. Langsam. In meine Richtung.
Ich will weglaufen, wirklich. Aber meine Beine sind müde von Dingen, die ich nie getan habe. Der Schatten hebt die Hand – und greift nicht nach mir, sondern in das Licht. Und nimmt es.
Die Laterne über uns flackert. Dann erlischt sie. Nicht plötzlich. Sie verschwindet. Als hätte sie nie gebrannt. Und ich verstehe: Sie nehmen nicht etwas – sie nehmen Zustände. Licht. Wärme. Klarheit.
Der Walker bleibt stehen.
Dreht sich nicht um. Aber seine Schultern wirken schwerer. Als müsste er jetzt etwas tragen, das nicht vorgesehen war.
Ich taste nach dem Foto in meiner Jackentasche. Es ist schwarz geworden. Keine Gesichter. Kein Nebel. Nur Schwarz.
Ich drehe mich um – will gehen.
Aber da ist kein Weg zurück.
Nur noch Schatten.
Und ein Mann, der weitergeht.
Der Regen beginnt rückwärts
Es fängt damit an, dass ich die Tropfen nicht fallen sehe. Sondern steigen.
Langsam, fast ehrfürchtig lösen sie sich vom Asphalt. Heben sich vom Boden wie Seelen, die spät merken, dass sie zu früh gegangen sind. Sie steigen in die Luft, glasklar, leise klirrend. In den Pfützen kräuselt sich nichts mehr. Nur ein Flimmern. Dann: nichts.
Der Walker steht mitten auf dem Platz. Die Kapuzengänger haben sich zerstreut. Einige von ihnen … lösen sich auf. Ganz ruhig. Der Stoff ihrer Kutten verliert Form. Wird zu Nebel, dann zu nichts. Oder vielleicht zu Regen, der rückwärts fliegt.
Ich gehe langsam auf ihn zu. Um uns: Stille. Keine Schritte. Kein Wind. Die Stadt wirkt eingefroren. Aber nicht tot – eher: in Erwartung.
Dann beginnt es. Nicht laut. Kein Blitz, kein Donner. Nur ein Sog.
Die Welt zieht sich zusammen. Häuser rücken näher, der Himmel senkt sich. Und mit ihm: der Regen. Er steigt schneller jetzt, in Strömen. Ich sehe Tropfen, die durch Fenster steigen, durch Ritzen, durch Risse in Fassaden. Sie nehmen etwas mit. Erinnerungen vielleicht. Wärme. Gerüche. Menschen?
Ich sehe einen alten Mann, der plötzlich durchsichtig wird. Er schaut in den Himmel, lächelt. Dann ist er weg.
Der Walker bleibt stehen. Hebt den Kopf. Schließt die Augen. Als würde er baden. Nicht im Regen. In dem, was zurückkommt.
Ich will etwas sagen. Doch meine Worte bleiben mir im Hals stecken. Fest wie Kiesel.
Dann spricht er. Der Walker.
Zum ersten Mal.
„Du bist zu früh.“
Seine Stimme klingt wie mein Vater, als er ging. Wie ich selbst, wenn ich nicht schlafen konnte. Wie etwas, das man lieber nicht gehört hätte.
Ich will fragen, was er meint.
Aber da hebt sich auch mein Schatten vom Boden. Langsam. Zitternd. Als hätte er genug von mir.
Ich bleibe stehen. Atme ein.
Der Regen geht weiter nach oben.
Das Echo der Namen
Sie kommen zurück, die Namen.
Nicht wie Erinnerungen – eher wie Stimmen, die du zu lange ignoriert hast. Sie sind überall. In Mauerritzen. Zwischen den Tropfen, die noch immer aufsteigen. Im Flackern des Lichts, das nicht mehr weiß, ob es Leuchten oder Erlöschen soll.
Ich höre sie. Klar. Deutlich. Und sie meinen mich.
„Matteo“, sagt die Stimme meiner Mutter.
„Matteo“, flüstert der Junge, der ich war, bevor ich den Mut verloren hab.
„Matteo“, sagt der Walker. Ohne den Mund zu bewegen.
Und ich erinnere mich.
Nicht in Bildern – sondern in Zuständen. An das Warten. An das Gehen. An die Schatten, die zuerst stumm waren, dann zu mir gehörten. Ich sehe mich selbst. Nicht in einem Spiegel. In einer Bewegung. Ich ging auch. Ich ging zuerst. Vor dem Walker. Vielleicht war ich er. Vielleicht bin ich’s noch.
Die Stadt schält sich zurück. Fassaden fallen in sich zusammen, als wären sie bloß Kulissen gewesen. Straßen knicken um, werden zu Schleifen, die sich ineinander fressen. Ich erkenne den Bahnhof wieder. Das Tunnelmaul. Das Haus ohne Zeit. Die Stimme der Frau mit der weißen Kapuze.
Sie steht da, am Rand, nickt mir zu. Nur einmal. Dann deutet sie auf den Walker.
„Er hat alles getragen“, sagt sie.
Ich verstehe nicht. Oder doch. Ich weiß es einfach.
Ich trete vor. Der Walker bleibt stehen.
Sein Gesicht – jetzt sehe ich es deutlich. Und ich erschrecke nicht. Weil ich es kenne.
Es ist meines.
Jünger. Müder. Weiter.
Er streckt die Hand aus. Kein Befehl. Keine Bitte. Nur die Geste: Du darfst.
Ich nehme sie nicht.
Ich lege meine eigene darüber.
Und dann höre ich alle Namen gleichzeitig.
Wie Glocken in einer Stadt, die nie gebetet hat.
Der Mann, der blieb
Er geht weiter.
Natürlich.
Das tut er immer.
Der Walker tritt aus meinem Griff, als wäre er Rauch. Oder Erinnerung. Sein Blick – mein Blick – streift mich nur kurz. Kein Abschied. Kein Dank. Nur dieses leise Anerkennen, das zwischen Spiegeln passiert, wenn man sich endlich erkennt.
Die Kapuzengänger folgen ihm nicht mehr.
Sie stehen still. Einer nach dem anderen lässt die Kapuze sinken.
Da sind Gesichter. Bekannte. Fremde. Und dann: keine. Nur Silhouetten, die sich auflösen wie feuchter Staub in der Morgensonne. Einer von ihnen nickt mir zu. Sein Gesicht hat keine Züge. Nur Wärme. Dann geht er rückwärts in den Nebel und wird … nicht mehr.
Der Walker ist jetzt weit. Ein Punkt im Dunst. Aber sein Gang bleibt. Ich höre ihn noch. In mir. In der Stadt.
Und plötzlich weiß ich, dass ich nicht mehr folgen muss.
Weil ich es war. Weil ich es bin.
Nicht mehr der, der geht.
Sondern der, der bleibt.
Ich setze mich auf den Bordstein. Die Straße vor mir ist leer. Keine Bewegung. Kein Regen. Keine Stimmen mehr. Nur die Stille, die bleibt, wenn alles gesagt ist. Ich atme. Tiefer als ich’s je getan hab.
Und die Stadt atmet mit.
Irgendwo bellt ein Hund. Eine Tür quietscht. Licht geht an in einem Fenster, das es vorhin nicht gab.
Die Welt ist wieder da. Nicht ganz. Aber genug.
Ich schaue mir die Hände an. Sie sind meine.
Endlich wieder.
Der Walker ist verschwunden.
Aber die Straße bleibt.
Und ich – ich bin noch da.
Ich weiß nicht, ob es ihn je wirklich gab. Den Walker. Vielleicht war er bloß ein Gedanke, der zu weit ging. Vielleicht war er ein Teil von mir, der schon immer unterwegs war.
Was bleibt, ist nicht Gewissheit.
Was bleibt, ist, dass ich nicht mehr gehe.
Und dass ich weiß, warum.