As Time Goes By

Verschollene Zeiten

Ich habe einen Brief von meiner toten Tante bekommen. Sie ist seit drei Jahren tot. Herzinfarkt. Hat sie umgehauen wie ein nasser Lappen, der zu Boden klatscht. Zack, weg. Niemand hat damit gerechnet, am wenigsten sie selbst. Und jetzt kriege ich Post von ihr.Ich starre auf den Brief. Meine Fingerkuppen kribbeln, als ich ihn anfasse. Das Papier fühlt sich warm an, nicht wie normales Papier. Fast lebendig. Ich rieche etwas — ihren speziellen Duft, diese Mischung aus Lavendelseife und dem süßlichen Parfüm, das sie immer benutzte. „Nur ein Hauch“, pflegte sie zu sagen, während sie sich damit einsprühte, als wäre es heiliges Wasser.Der Umschlag ist nicht zugeklebt. Die Lasche steckt nur locker darin. Als würde er mich einladen, ihn zu öffnen. Ein sanftes Rascheln, als ich das Papier herausziehe.“Lieber Junge“, beginnt der Brief. So hat sie mich immer genannt, selbst als ich schon längst kein Junge mehr war. „Ich hoffe, du denkst hin und wieder an unsere Sommer in Tarifa.“Tarifa. Der Name allein reicht, und plötzlich bin ich nicht mehr in meiner Küche. Ich bin dort, an der südlichsten Spitze Spaniens, wo der Wind so stark bläst, dass er manchmal die Gedanken aus deinem Kopf fegt. Ich spüre den heißen Sand unter meinen Füßen, höre das Meer rauschen. „Erinnerst du dich an den Abend, als wir den Thunfisch gegessen haben?“, fragt der Brief.Ich lese weiter im Brief. „Ich musste dir noch etwas sagen“, schreibt sie. „Etwas, das ich dir nie erzählt habe.“Die Küche um mich herum verändert sich. Die Wände bekommen Risse, durch die goldenes Licht sickert. Der Boden unter meinen Füßen fühlt sich an wie Sand. Ich höre Möwen kreischen, obwohl das unmöglich ist — ich wohne hunderte Kilometer vom Meer entfernt.“In jener Nacht, als wir den Thunfisch aßen und du früh schlafen gegangen bist, bin ich noch lange auf der Terrasse geblieben. Ich wollte dir nie davon erzählen, weil es so… unglaublich schien. Aber jetzt, wo ich tot bin, spielt es keine Rolle mehr, oder?“Ich schlucke. Mein Hals ist trocken wie Schmirgelpapier. Irgendwas stimmt nicht. Im Traum weiß ich das. Im Traum frage ich mich, warum mir meine tote Tante einen Brief schreibt, in dem sie mir erzählt, dass sie tot ist. Als ob ich das nicht wüsste. Als ob sie das nicht wüsste. Trotzdem lese ich weiter.“Da war ein Licht über dem Meer. Nicht wie ein Schiff oder ein Flugzeug. Es bewegte sich… anders. Und dann war da plötzlich ein Mann auf der Terrasse. Er setzte sich zu mir, als wäre es das Natürlichste der Welt. Wir haben geredet. Stundenlang. Er erzählte mir Dinge über mich, die niemand wissen konnte. Über dich. Über uns alle. Er sagte, er käme von einem Ort, der jenseits unserer Vorstellung liegt. Und er bot mir etwas an.“Die Küche ist jetzt fast verschwunden. Ich sitze auf der Terrasse des Ferienhauses in Tarifa. Der Brief ist immer noch in meinen Händen, aber die Worte scheinen vom Papier zu steigen und in der warmen Abendluft zu tanzen.“Er bot mir mehr Zeit an. Zeit, die mir eigentlich nicht zustand. Ich sollte drei Jahre länger leben dürfen, als mir bestimmt war. Drei Jahre, in denen ich mich von allen verabschieden könnte. In denen ich meine Angelegenheiten ordnen könnte. Ein Geschenk, sagte er. Ich fragte ihn, was er dafür wolle. Er lächelte nur und sagte: ‚Nichts, was dir gehört.'“Ich blinzle. Die Terrasse ist wieder meine Küche. Aber der Geruch von Meer und gegrilltem Fisch hängt in der Luft.“Ich habe angenommen. Natürlich habe ich angenommen. Wer würde Nein sagen zu mehr Zeit? Drei geschenkte Jahre. Ich dachte, es wäre ein Traum gewesen, eine seltsame Einbildung nach zu viel Wein und salziger Luft. Bis ich nach Hause kam und der Arzt mir sagte, dass mein Herz eigentlich schon längst hätte aufhören müssen zu schlagen. Ein medizinisches Wunder, nannte er es.“Meine Hände zittern jetzt. Schweiß läuft mir den Rücken runter, kalt wie Eiswasser.“Aber es gab einen Preis, wie es immer einen Preis gibt. Er hat mir gesagt, was es sein würde, aber ich habe es vergessen. Oder vielleicht wollte ich es vergessen. Jetzt weiß ich es wieder. Der Preis waren deine Träume, lieber Junge. Alle Träume, die du in den drei Jahren nach meinem eigentlichen Tod hättest haben sollen. Er hat sie mir gegeben, damit ich leben konnte.“Ich lasse den Brief fallen. Er schwebt zu Boden, langsamer als es möglich sein sollte, als würde die Schwerkraft für ihn anders funktionieren. Ich spüre Übelkeit in mir aufsteigen, ein scharfes, beißendes Gefühl.“Es tut mir leid. Ich weiß jetzt, dass es falsch war. Träume sind keine Kleinigkeit. Sie sind nicht nur nutzlose Fantasien. Sie sind ein Teil von dir, ein wichtiger Teil. Ich habe dir etwas gestohlen, ohne dich zu fragen. Ohne dich zu warnen.“Der Raum dreht sich um mich. Die Wände meiner Küche lösen sich auf, und dahinter ist nichts. Nur Leere. Schwarzes Nichts.“Ich schreibe dir diesen Brief, weil ich dir deine Träume zurückgeben möchte. Alle auf einmal. Es wird überwältigend sein. Es wird dich verändern. Aber sie gehören dir. Sie waren immer dein.“Die Leere kommt näher, umhüllt mich. Ich kann nicht atmen. Kann nicht schreien. Kann nur zusehen, wie die letzten Worte des Briefes vor meinen Augen schweben.“Vergib mir, lieber Junge. Und träum für uns beide.“Und dann bin ich weg. Aufgelöst. Mein Bewusstsein zersplittert in tausend Stücke, und jedes Stück ist ein Traum. Ich bin in einem Klassenzimmer und habe die Prüfung vergessen. Ich fliege über eine Stadt, die aussieht wie keine, die ich je gesehen habe. Ich renne vor etwas davon, das ich nicht sehen kann. Ich küsse jemanden, den ich liebe, aber dessen Gesicht ich nicht erkennen kann. Ich ertrinke. Ich werde geboren. Ich sterbe tausend Tode.Und dann, ganz langsam, setzen sich die Stücke wieder zusammen. Ich finde mich auf einer Straße wieder, die ich nicht kenne. Es ist Nacht. Laternen werfen orangenes Licht auf nasses Pflaster. Es muss geregnet haben. Die Luft riecht nach Ozon und feuchtem Asphalt.Ich gehe, ohne zu wissen, wohin. Meine Füße bewegen sich von selbst, als würden sie einem unsichtbaren Pfad folgen. Die Straße führt bergab, immer weiter. Häuser ziehen an mir vorbei, ihre Fenster dunkel wie blinde Augen. Ich höre meinen eigenen Atem, das Geräusch meiner Schritte auf dem Pflaster. Sonst nichts.Die Straße mündet in einen Platz. In der Mitte steht ein Brunnen, aus dem kein Wasser fließt. Auf dem Rand des Brunnens sitzt eine Gestalt. Als ich näher komme, sehe ich, dass es meine Tante ist. Sie sieht jünger aus, als ich sie in Erinnerung habe. Ihr Haar ist dunkler, ihr Gesicht glatter. Sie lächelt, als sie mich sieht.“Da bist du ja“, sagt sie, als hätten wir uns nur kurz aus den Augen verloren. „Ich habe auf dich gewartet.““Wo sind wir?“, frage ich. Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren.“An einem Ort zwischen den Orten“, antwortet sie. „An einem Ort zwischen den Zeiten. Hier können wir uns treffen, du und ich.““Bist du wirklich tot?“, frage ich.Sie lacht. Es klingt wie Glocken, die im Wind klingen. „Was für eine Frage. Natürlich bin ich tot. Genauso wie du träumst. Beides kann gleichzeitig wahr sein.“Ich setze mich neben sie auf den Brunnenrand. Der Stein ist kalt unter meinen Händen.“Verstehst du jetzt?“, fragt sie. „Verstehst du, warum ich dir deine Träume zurückgeben musste?“Ich schüttle den Kopf. „Nicht wirklich.“Sie seufzt. „Träume sind keine beliebige Währung. Sie sind nicht wie Geld oder Zeit, etwas, das man einfach so austauschen kann. Sie sind… Samen. Samen für Möglichkeiten. Für Zukünfte. Für Veränderungen. Ich habe dir drei Jahre lang die Möglichkeit genommen, dich zu verändern. Das war falsch.““Ich verstehe es immer noch nicht“, sage ich. „Du bist tot. Wie kannst du mir einen Brief schreiben? Wie können wir hier sitzen und reden?““Weil dies ein Traum ist“, sagt sie geduldig. „Und in Träumen gelten andere Regeln. Hier kann ich mit dir sprechen. Hier kann ich versuchen, es wiedergutzumachen.““Was wiedergutzumachen?““Den Diebstahl“, sagt sie ernst. „Ich habe dir etwas Wertvolles gestohlen. Etwas Unersetzliches.““Aber ich erinnere mich an meine Träume“, protestiere ich. „Ich träume jede Nacht.“Sie schüttelt den Kopf. „Du erinnerst dich an die Träume, die dir geblieben sind. An die kleinen, unbedeutenden. Die großen, die wichtigen, die, die dich verändern sollten — die habe ich bekommen. Und jetzt gebe ich sie dir zurück. Alle auf einmal.“Ich denke darüber nach. „Wird es wehtun?“Sie lächelt traurig. „Veränderung tut immer weh. Aber du wirst es überleben. Du wirst stärker sein. Vollständiger.“Sie greift in ihre Tasche und zieht etwas heraus. Es sieht aus wie ein kleiner Stein, glatt und rund. Im Licht der Laternen schimmert er in allen Farben.“Hier“, sagt sie und reicht ihn mir. „Das sind deine Träume. Alle, die ich dir genommen habe. Nimm sie zurück.“Ich zögere. „Was wird mit dir passieren?““Mit mir?“, fragt sie überrascht. „Nichts. Ich bin bereits tot. Ich existiere nur noch in deinen Erinnerungen. Und in diesem Traum.““Werde ich dich wiedersehen?“Ihre Augen werden weich. „Vielleicht. In anderen Träumen. Wenn du dich entscheidest, mich zu besuchen.“Ich nehme den Stein. Er ist warm in meiner Hand, pulsiert wie ein kleines Herz. Als ich ihn berühre, beginnt er zu leuchten, erst schwach, dann immer heller, bis das Licht mich blendet.“Leb wohl, lieber Junge“, höre ich Tantes Stimme, jetzt von weit weg. „Und träum für uns beide.“Das Licht wird unerträglich hell. Ich schließe die Augen, aber es dringt durch meine Lider. Es ist überall. In mir. Um mich herum. Ich spüre, wie etwas in mir aufbricht, wie eine Tür, die zu lange verschlossen war und nun mit Gewalt aufgestoßen wird. Eine Flut von Bildern, Gefühlen, Gedanken stürzt auf mich ein. Ich kann sie nicht einordnen, kann sie nicht verstehen. Es ist zu viel. Zu schnell.Und dann, plötzlich, Stille. Dunkelheit. Frieden.Ich öffne die Augen. Ich liege in meinem Bett. Das Licht des frühen Morgens fällt durch die Jalousien und zeichnet Streifen auf den Boden. Der Wecker zeigt 6:28 Uhr. Zwei Minuten, bevor er klingeln wird.Ich fühle mich seltsam. Anders. Als hätte sich etwas in mir verschoben, neu ausgerichtet. Ich kann es nicht benennen, aber es ist da. Eine neue Klarheit. Eine neue Ruhe.Auf meinem Nachttisch liegt ein cremefarbener Umschlag. Ich starre ihn an. Meine Hand zittert, als ich danach greife. Er ist leer.Der Wecker klingelt. Ein neuer Tag beginnt. Und zum ersten Mal seit langem habe ich das Gefühl, vollständig wach zu sein.

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