Verschlungene Pfade

Ich wache auf. Das Zimmer schimmert in einem seltsamen Licht, das durch die Jalousien dringt. Nicht das übliche Morgengrau. Eher ein unheimliches Orange, wie bei einem Sandsturm oder einem Weltuntergang aus Hollywood. Mein Kopf fühlt sich schwer an. Als hätte jemand in der Nacht mein Gehirn durch einen mit Wasser vollgesogenen Schwamm ersetzt.Aufstehen. Immer dieser erste Moment. Ich schäle mich aus dem Bett, torkle zum Fenster. Die Jalousien klemmen, wie immer. Ich ziehe stärker, ein trockenes Rattern, dann geben sie nach. Und draußen: ein Meer. Kein Straßenzug, keine Häuser, kein Parkplatz. Stattdessen Wasser, türkisblau, bis zum Horizont. Als wäre meine Wohnung über Nacht an eine Klippe teleportiert worden.Ich reibe mir die Augen. Das Meer bleibt. Kleine Wellen kräuseln sich, werfen Lichtreflexe auf meine Zimmerwand. Der Geruch von Salz und Algen dringt durch den Spalt des gekippten Fensters. Echter als echt.“Hast du endlich ausgeschlafen?“ Eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich nicht um. Kenne die Stimme nicht und will nicht wissen, wem sie gehört. Ich gehe ins Bad. Meine Füße machen dieses klebrige Geräusch auf den Fliesen. Das Bad sieht aus wie meins. Zahnbürste. Der Sprung im Waschbecken, den ich beim Einzug schon beanstandet hatte. Ich drehe den Wasserhahn auf, und das Wasser kommt braun heraus. Rostig, nach Eisen riechend. Nach drei Sekunden wird es klar, und ich wasche mir das Gesicht.Das Handtuch fühlt sich rau an, wie die billigen aus Ferienanlagen. Ich gehe zurück ins Zimmer. Die Stimme ist weg, aber auf dem Bett sitzt jetzt ein Hund. Ein großer schwarzer Hund mit hängenden Ohren und grauem Maul. Er sieht mich an, als würde er mich kennen. Als hätte er sein Leben lang auf mich gewartet.“Ich besitze keinen Hund“, sage ich laut.Der Hund legt den Kopf schief, steht auf und trottet zur Tür. Dort dreht er sich um und schaut mich erwartungsvoll an. Das universelle Hundesignal: Folge mir.Ich folge. Die Tür führt nicht in den Flur sondern auf einen Strand. Feiner, fast weißer Sand. In der Ferne rauscht das Meer. Der Hund rennt los, seine Pfoten wirbeln kleine Sandwolken auf, die im Licht glitzern. Ich gehe hinterher, meine nackten Füße versinken im warmen Sand. Es fühlt sich gut an!Am Strand stehen vereinzelt Sonnenschirme. Alle gestreift in Blau und Weiß. Der Hund hat sich in den Schatten eines Schirms gelegt und hechelt. Als ich näher komme, sehe ich, dass unter dem Schirm ein alter Holztisch steht. Darauf ein Teller mit einer angeschnittenen Wassermelone. Die Farben sind übertrieben intensiv – das tiefe Rot des Fruchtfleisches, das Weiß der Schale, das Schwarz der Kerne. Mein Mund wird trocken.Ich greife nach einem Stück. Der Saft läuft mir übers Kinn, tropft auf mein T-Shirt. Ich merke erst jetzt, dass ich ein T-Shirt trage, hellblau, mit einem verblichenen Aufdruck in einer Sprache, die ich nicht entziffern kann. Die Melone schmeckt intensiver als jede Melone, die ich je gegessen habe. Süß, aber nicht zu süß, mit einer Spur von etwas anderem – Salz? Das Meer?Der Hund steht auf und läuft wieder los. Ich folge, immer noch das Melonenstück in der Hand. Wir kommen zu einer Treppe, die in den Sand gebaut ist und zu einer Art Promenade führt. Holzplanken, warm und ein wenig abgenutzt. Ich kenne diesen Ort nicht, aber er fühlt sich vertraut an. Als wäre ich schon einmal hier gewesen, in einem anderen Leben.An der Promenade stehen Häuser. Weiß getüncht, mit blauen Türen und Fensterläden. Typisch mediterran, wie aus einem Reisekatalog. Oder einer Erinnerung. Aus einem der Häuser dringt Musik, ein melancholisches Gitarrenstück. Die Töne vermischen sich mit dem Rauschen des Meeres zu einer seltsam traurigen Melodie.Der Hund ist verschwunden. Ich stehe allein auf der Promenade, das halb gegessene Stück Wassermelone in der Hand. Die Sonne brennt jetzt stärker, ich spüre, wie meine Schultern anfangen zu glühen. Ich sollte Schatten suchen.Eines der Häuser hat eine offene Tür. Drinnen ist es dunkel und kühl. Ich trete ein, ohne zu zögern. Der Kontrast zwischen der gleißenden Helligkeit draußen und dem dunklen Innenraum lässt mich für einen Moment erblinden. Als sich meine Augen anpassen, erkenne ich einen großen Raum mit wenigen Möbeln. Ein Tisch, Stühle, eine alte Couch mit durchgesessenen Polstern. An den Wänden hängen verblasste Fotografien in dunklen Rahmen.Ich trete näher, um die Bilder zu betrachten. Sie zeigen Menschen an einem Strand, vielleicht diesem Strand. Die Kleider sehen alt aus, aus einer anderen Zeit. Ein Mann mit Hut, eine Frau im langen Kleid, ein Kind, das einen Ball hält. Ihre Gesichter sind verschwommen, als hätte jemand mit dem Finger über feuchte Tinte gewischt.In einem der Bilder erkenne ich plötzlich den Hund. Er steht neben dem Mann mit dem Hut, schaut direkt in die Kamera. Sein Blick durchbohrt die Jahrzehnte, trifft mich mit einer Intensität, die mich erschaudern lässt.“Er hat auf dich gewartet.“Ich drehe mich um. An der Tür steht eine alte Frau. Ihr Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen, wie die Rinde eines uralten Olivenbaums. Sie lächelt, und in ihrem Lächeln liegt etwas Wehmütiges.“Wer hat gewartet?“, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.“Der Hund. Er wartet immer auf die, die zurückkommen.““Ich war noch nie hier“, sage ich. Die Worte fühlen sich falsch an in meinem Mund.Die Frau lacht leise. „Das ist, was sie alle sagen. Zuerst.“Sie geht zu einem der Stühle und setzt sich. Ihre Bewegungen sind langsam, aber nicht unsicher. Sie deutet auf den Stuhl ihr gegenüber.“Setz dich. Erzähl mir, warum du zurück bist.“Ich will protestieren, will ihr sagen, dass ich nicht „zurück“ bin, dass ich nie hier war. Aber ich setze mich. Der Stuhl knarrt unter meinem Gewicht.“Ich weiß nicht, warum ich hier bin“, sage ich ehrlich. „Ich bin aufgewacht, und alles war anders.“Sie nickt, als würde das alles erklären. „Das Meer ruft manche zurück. Nicht alle hören es. Du hast es gehört.“Ich denke an mein Zimmer, das plötzlich an einer Klippe hing. An das Meeresrauschen, das durch das Fenster drang. Vielleicht hat sie recht.“Was will das Meer von mir?“, frage ich.“Das Meer will nichts. Es ist einfach. Du bist derjenige, der etwas will.“Ihre Worte hallen in meinem Kopf nach. Was will ich? Warum bin ich hier, in diesem Traum, der sich realer anfühlt als die Realität?Die alte Frau steht auf. „Komm. Ich zeige dir etwas.“Sie führt mich durch eine Hintertür des Hauses. Wir treten auf eine kleine Terrasse, die von einer Pergola beschattet wird. Weinreben winden sich um das Holzgerüst, bilden ein grünes Dach. In der Mitte der Terrasse steht ein Brunnen – ein einfaches Steinbecken mit einer Quelle in der Mitte, aus der klares Wasser sprudelt.“Trink“, sagt die Frau.Ich knie mich vor den Brunnen, schöpfe mit den Händen Wasser. Es fühlt sich kühl an zwischen meinen Fingern. Ich führe die Hände zum Mund, trinke. Das Wasser schmeckt nach nichts und gleichzeitig nach allem – nach Mineralien und Erde, nach Regen und Schnee, nach Zeit.Als ich aufsehe, ist die Frau verschwunden. Auf der anderen Seite der Terrasse steht eine Tür offen, die ich vorher nicht bemerkt habe. Durch die Tür sehe ich einen Pfad, der zwischen Olivenbäumen hindurch in die Landschaft führt.Ich trete hindurch, folge dem Pfad. Die Olivenbäume weichen Pinien, deren Nadeln unter meinen Füßen ein weiches Kissen bilden. Der Geruch von Harz und warmem Holz erfüllt die Luft. In der Ferne höre ich immer noch das Meer, aber jetzt mischt sich ein anderes Geräusch darunter – ein Summen, wie von einem Bienenschwarm. Oder von Stimmen.Der Pfad führt zu einer Lichtung. In der Mitte steht ein altes Steinhaus, fast eine Ruine. Das Dach ist teilweise eingestürzt, die Fenster sind leer. Vor dem Haus sitzt der Hund und wartet. Als er mich sieht, steht er auf und wedelt mit dem Schwanz. Keine überschwängliche Begrüßung, nur ein ruhiges Anerkennen meiner Anwesenheit.Ich gehe auf das Haus zu. Die Tür hängt schief in den Angeln, gibt den Blick frei auf einen dunklen Innenraum. Ich trete ein, meine Augen brauchen wieder einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.Der Raum ist leer bis auf einen Stuhl, der in der Mitte steht. Auf dem Stuhl liegt ein Buch, aufgeschlagen. Ich trete näher, beuge mich über das Buch. Die Seiten sind leer, das Papier vergilbt und brüchig.Ich berühre das Papier, und plötzlich erscheinen Worte. Als würden sie aus der Tiefe des Papiers aufsteigen, wie Tinte, die durch poröses Material sickert. Sie formen einen Satz: „Was suchst du hier?“Eine gute Frage. Was suche ich? Warum träume ich von einem Meer, einem Hund, einer alten Frau und einem leeren Haus?Ich setze mich auf den staubigen Boden, lehne mich gegen die kühle Steinwand. Der Hund kommt herein, legt sich neben mich. Seine Wärme ist beruhigend. Ich schließe die Augen, höre auf das leise Atmen des Tieres, auf das ferne Rauschen des Meeres, auf das Knarren des alten Hauses.Als ich die Augen wieder öffne, ist alles verschwunden. Ich liege in meinem Bett, in meiner Wohnung. Kein Meer vor dem Fenster, keine alte Frau, kein Hund. Nur der Alltag, der wie immer auf mich wartet.Aber unter meinen Fingernägeln ist Sand. Und auf meinem T-Shirt ein Fleck, der nach Wassermelone riecht.