Unter der Oberfläche

Ich stehe in einer Küche. Nicht meiner. Die Schränke sind weiß, die Arbeitsplatte aus dunklem Stein. An der Wand hängt ein Kalender – August 2016, die Ziffern rot eingekreist. Auf der Arbeitsplatte liegt ein angeschnittener Schinken, daneben ein Brotlaib. Der Geruch von Olivenöl und Knoblauch liegt in der Luft.Die Hitze drückt auf mich, als würde sie physisch auf meinen Schultern lasten. Durch das offene Fenster dringt das monotone Zirpen der Zikaden herein, wie ein Herzschlag der Landschaft. Ich weiß nicht, warum ich hier bin oder wessen Küche das ist. Aber es fühlt sich nicht falsch an.Ich schneide ein Stück von dem Schinken ab. Er ist tiefrosa, durchzogen von weißem Fett. Jamón Ibérico, erkenne ich. Der Geschmack, als ich ihn in den Mund nehme, ist intensiv – salzig, würzig, mit einer Süße, die sich langsam entfaltet. Ich esse ein Stück Brot dazu, hart an der Kruste, weich innen. Das Olivenöl, in das ich das Brot tunke, schmeckt grün und scharf.Eine Bewegung im Augenwinkel. Als ich mich umdrehe, steht dort ein Kind, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Ein Junge in Shorts und einem ausgeblichenen T-Shirt. Die Haut gebräunt, die Haare von der Sonne gebleicht. Er schaut mich an, ohne zu sprechen.“Hallo“, sage ich. Meine Stimme klingt fremd in diesem Raum.Der Junge antwortet nicht. Er geht zum Kühlschrank, öffnet ihn und nimmt eine Flasche Wasser heraus. Trinkt in langen Zügen. Das Wasser läuft an seinem Kinn herunter, tropft auf sein T-Shirt.“Wir müssen zum Strand“, sagt er schließlich. Seine Stimme ist hoch und klar, wie das Klingeln einer kleinen Glocke.“Zum Strand?“, frage ich.Er nickt. „Es ist soweit. Das Wasser kommt.“Ich will fragen, was er meint, aber er ist schon aus der Küche gegangen. Ich folge ihm, durch einen schmalen Flur, der mit Terrakotta-Fliesen ausgelegt ist. Die Fliesen fühlen sich kühl unter meinen nackten Füßen an.Wir treten aus dem Haus. Die Helligkeit blendet mich für einen Moment. Als sich meine Augen angepasst haben, sehe ich, dass das Haus auf einem Hügel steht. Unter uns erstreckt sich eine sandige Ebene, und dahinter das Meer – blau und grenzenlos. Der Junge geht voraus, den Hügel hinunter. Er scheint den Weg zu kennen, bewegt sich sicher über den steinigen Boden.Die Sonne brennt auf meiner Haut. Ich bemerke, dass ich nur ein T-Shirt und Shorts trage, wie der Junge. Meine Arme sind sonnengebräunt, mit Sommersprossen übersät, die ich im wirklichen Leben nicht habe.“Beeil dich!“, ruft der Junge über seine Schulter.Ich beschleunige meine Schritte. Der Boden unter meinen Füßen verändert sich, wird sandiger. Der feine Sand knirscht zwischen meinen Zehen. In der Luft liegt der Geruch von Salz und Tang.Je näher wir dem Strand kommen, desto mehr Menschen sehe ich. Sie stehen in Gruppen zusammen, schauen aufs Meer hinaus. Ihre Gesichter sind ernst, fast ängstlich. Einige zeigen auf den Horizont.Ich blicke in die Richtung, in die sie zeigen. Am Horizont ist eine dunkle Linie zu sehen. Wie eine Wand, die sich langsam nähert. Mit einem Schlag wird mir klar, was der Junge meinte: Das Wasser kommt. Eine Welle, größer als jede, die ich je gesehen habe. Eine Welle, die alles verschlingen wird.Panik steigt in mir auf. Ich suche nach dem Jungen, aber er ist verschwunden, verloren in der Menge der Strandurlauber, die jetzt unruhig werden. Einige beginnen zu rennen, weg vom Wasser, hin zu den Dünen und den Häusern dahinter.Ich sollte auch rennen. Aber meine Füße sind wie im Sand verwurzelt. Ich kann den Blick nicht von dieser Welle abwenden, die immer näher kommt, immer höher wird. Sie ist jetzt kein dunkler Strich mehr am Horizont, sondern eine Wand aus Wasser, die den Himmel zu berühren scheint.Jemand packt meine Hand. Der Junge ist zurück, zieht an mir. „Nicht dorthin“, sagt er und deutet auf die fliehende Menge. „Ins Wasser. Schnell.“Er zieht mich zum Meer. Das Wasser ist warm, als es über meine Füße schwappt. Die kleine, normale Brandung wirkt lächerlich im Angesicht der monumentalen Welle, die auf uns zurollt.“Wir ertrinken“, sage ich, aber der Junge schüttelt den Kopf.“Vertrau mir.“Er zieht mich weiter ins Wasser. Es reicht mir jetzt bis zur Hüfte, dem Jungen fast bis zur Brust. Die Welle ist so nah, dass ich den Donner des Wassers hören kann, das gewaltige Rauschen einer Naturgewalt in Bewegung.“Jetzt!“, ruft der Junge und taucht unter.Ich folge ihm, schließe die Augen und tauche in die Tiefe. Das Salzwasser brennt in meiner Nase, aber ich schwimme weiter nach unten, folge dem schattenhaften Umriss des Jungen vor mir.Über uns spüre ich die Welle, wie sie über uns hinwegrollt. Eine Störung im Wasser, ein Druck, der auf meine Ohren drückt. Dann ist es vorbei. Ich schwimme weiter, folge dem Jungen, der tiefer und tiefer taucht.Als ich glaube, meine Lungen müssten bersten, erreichen wir eine Art Höhle unter Wasser. Eine Luftblase. Ich tauche auf, schnappe nach Luft. Der Junge ist schon da, treibt auf dem Rücken, das Gesicht entspannt.“Wo sind wir?“, frage ich, nachdem ich wieder atmen kann.“Unter der Oberfläche“, sagt der Junge, als wäre das die selbstverständlichste Antwort.Ich schaue mich um. Die Höhle ist größer, als ich zunächst dachte. Das Wasser leuchtet in einem unnatürlichen Blau, wirft flackernde Lichtmuster an die Steindecke über uns. An den Wänden wachsen seltsame Pflanzen, phosphoreszierende Algen vielleicht, die ein schwaches, grünliches Licht abgeben.“Was ist mit den anderen?“, frage ich. „Mit den Menschen am Strand?“Der Junge zuckt mit den Schultern. „Sie haben es nicht bis hierher geschafft.“Ein Schuldgefühl überkommt mich. Hätte ich sie warnen sollen? Mehr tun können?“Sie wollten nicht hören“, sagt der Junge, als könnte er meine Gedanken lesen. „Sie wollten nicht glauben, dass das Wasser kommt.“Er schwimmt zu einer Felsnische und zieht sich hinauf. Ich folge ihm. Der Fels ist warm unter meinen Händen, fast wie lebendig.In der Nische befindet sich ein weiterer Durchgang, der tiefer in den Fels führt. Der Junge geht voran, und ich folge ihm durch einen schmalen Gang, der gerade hoch genug ist, dass wir aufrecht gehen können.Der Gang mündet in einen größeren Raum, eine natürliche Kammer im Fels. In der Mitte brennt ein Feuer, obwohl es keinen Rauch gibt und auch kein Brennmaterial zu sehen ist. Um das Feuer herum sitzen Menschen. Sie wenden sich um, als wir eintreten.Ihre Gesichter sind mir seltsam vertraut, obwohl ich sicher bin, sie noch nie gesehen zu haben. Eine alte Frau mit silbernem Haar und tiefblauen Augen. Ein Mann mittleren Alters mit einem wettergegerbten Gesicht und Händen, die nach harter Arbeit aussehen. Eine junge Frau, kaum älter als ich, mit einem Baby im Arm. Und andere, deren Gesichter im Halbdunkel verschwimmen.“Du hast es geschafft“, sagt die alte Frau zu mir. Ihre Stimme klingt wie das Meer – tief und rhythmisch.“Was habe ich geschafft?“, frage ich.“Du bist durch die Welle gekommen.“Der Junge hat sich neben das Feuer gesetzt. Er winkt mir, mich zu ihnen zu gesellen. Ich setze mich zwischen ihn und den Mann mit den rauen Händen.“Erzähl uns von oben“, sagt der Mann zu mir. „Wie ist es jetzt?“Ich bin verwirrt. „Oben? An der Oberfläche, meinst du?“Er nickt.Ich denke nach. Wie beschreibt man eine Welt für jemanden, der sie nicht kennt? Oder für jemanden, der sie einmal kannte und vergessen hat?“Es ist… laut“, sage ich schließlich. „Voller Menschen, die ständig in Bewegung sind. Sie hören mir zu, ihre Gesichter unlesbar im flackernden Licht des Feuers.“Und die Menschen?“, fragt die junge Frau. „Sind sie glücklich?“Eine schwierige Frage. „Manche sind es. Viele suchen danach.““Wonach suchen sie?“, fragt der Junge neben mir.“Nach Sinn, denke ich. Nach einem Gefühl, dass es einen Grund gibt für all das Rennen und Arbeiten und Sorgen.“Die alte Frau nickt, als hätte ich etwas Tiefgründiges gesagt. „Und du? Wonach suchst du?“Die Frage trifft mich unvorbereitet. Wonach suche ich? Was treibt mich an?“Ich weiß es nicht“, sage ich ehrlich. „Vielleicht nach dem gleichen wie alle anderen.“Die alte Frau lächelt. „Nein. Du suchst nach etwas anderem. Deshalb bist du hier.““Und wo ist ‚hier‘?“, frage ich. „Was ist dieser Ort?““Ein Zwischenraum“, sagt sie. „Ein Ort zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte.“Das erklärt nichts und alles zugleich. Ein Traumlogik-Rätsel.“Warum bin ich hier?“, versuche ich es anders.“Weil du den Mut hattest, in die Welle zu tauchen, anstatt vor ihr wegzulaufen“, sagt der Mann neben mir.“Der Junge hat mich hierher geführt“, sage ich und deute auf das Kind neben mir. „Ohne ihn wäre ich wie die anderen geflohen.““Der Junge bist du“, sagt die alte Frau sanft. „Ein Teil von dir, der noch weiß, wie man den Elementen vertraut, anstatt sie zu fürchten.“Ich schaue auf den Jungen, der mich mit ernsten Augen ansieht. Sehe ich eine Ähnlichkeit? Etwas in der Form des Kinns, in der Art, wie er den Kopf hält? Ich bin mir nicht sicher.“Was passiert jetzt?“, frage ich.“Das hängt von dir ab“, sagt die alte Frau. „Du kannst hier bleiben, bei uns, unter der Oberfläche. Geschützt vor den Wellen, die immer wieder kommen werden. Oder du kannst zurückgehen.““Zurück? An die Oberfläche?“Sie nickt.“Wenn ich zurückgehe… kommt dann die nächste Welle?“, frage ich.“Es kommt immer eine nächste Welle“, sagt der Mann. „Die Frage ist nur, ob du bereit sein wirst.“Ich stehe auf. Die Entscheidung ist gefallen, ohne dass ich bewusst darüber nachgedacht habe. „Ich gehe zurück.“Die alte Frau nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet. „Der Junge wird dir den Weg zeigen.“Das Kind steht auf, nimmt meine Hand. Seine Hand ist klein in meiner, aber der Griff ist fest und sicher.“Danke“, sage ich zu den anderen. Für was genau, weiß ich nicht.Der Junge führt mich zurück durch den Gang, zur Wasserhöhle. Dort bleibt er stehen.“Du musst allein zurück“, sagt er.“Werde ich dich wiedersehen?“, frage ich.Er lächelt. „Ich bin immer hier.“ Er tippt auf meine Brust, direkt über dem Herzen. „Unter der Oberfläche.“Ich nicke, atme tief ein und tauche ins Wasser. Schwimme nach oben, immer weiter nach oben. Das Wasser wird heller, die Oberfläche nähert sich. Meine Lungen brennen, meine Muskeln protestieren, aber ich schwimme weiter.Dann durchbreche ich die Oberfläche, schnappe nach Luft. Um mich herum ist der Strand, wie vorher. Aber er ist leer – keine Menschen, keine Strandkörbe, keine Spuren im Sand. Das Meer ist ruhig, die gigantische Welle verschwunden. Die Sonne steht tief, taucht alles in ein goldenes Licht.Ich wate aus dem Wasser, setze mich in den warmen Sand. Ein Gefühl von Frieden überkommt mich, wie ich es lange nicht gespürt habe. In der Ferne höre ich das Zirpen der Zikaden. Wie ein Herzschlag, der mich zurück in die Wachheit, zurück in mein Leben ruft. Ich schließe die Augen und lasse mich von diesem Rhythmus tragen.Als ich sie wieder öffne, liege ich in meinem Bett. Der Wecker zeigt 6:30 Uhr.