Das Meer war an diesem Morgen still, fast zu still. Keine Wellen, die ans Ufer klatschten, kein Wind, der Salz in die Luft warf. Nur ein leises Gurgeln, wie das Atmen eines schlafenden Riesen. Ich stand auf der Veranda von Jeans Haus – oder besser gesagt: unserem Haus jetzt – und fragte mich, wie lange diese Ruhe halten würde. Nicht, dass ich mich beschweren wollte. Es war angenehm, fast friedlich. Aber so etwas blieb nie lange, zumindest nicht in meinem Leben.

Marie kam aus der Küche, ein Glas Orangensaft in der Hand und barfuß, als wäre sie schon Teil dieser Landschaft geworden. Der Boden unter ihren Füßen war rau, eine Mischung aus Holz, das die Jahre gespürt hatte, und Sand, der sich in jede Ritze schlich. Sie trug ein Kleid, eines dieser formlosen Dinger, die sie früher nie angezogen hätte. Vielleicht hatte sie es sich von einer Nachbarin geliehen. Vielleicht hatte sie es irgendwo gefunden, in einer Kiste mit alten Sachen, die niemand mehr brauchte.

„Was guckst du so?“ Ihre Stimme war noch rau vom Schlaf, aber sie klang nicht unfreundlich.

„Nichts.“

„Schon wieder nichts?“

Ich zuckte mit den Schultern. Es gab hier nicht viel zu sehen. Der Strand war leer, die Straße hinter dem Haus war leer, und das Haus selbst – na ja, das war eine eigene Geschichte. Es gehörte Jean, zumindest offiziell. Aber er hatte uns die Schlüssel gegeben, nachdem Marie ihn überzeugt hatte, dass wir hier besser aufgehoben wären als in der kleinen Wohnung im Ort. Ich hatte nicht gefragt, warum er uns das anbot. Marie hatte gesagt, es sei kompliziert, und das reichte mir.

„Ich fahr nachher in den Ort“, sagte sie und setzte sich auf die Treppe. „Wir brauchen Brot und Milch. Und vielleicht was Frisches für den Hund.“

„Der Hund braucht nichts Frisches. Der frisst alles.“

„Das sagt mehr über dich als über ihn.“

Ich grinste und nahm einen Schluck Kaffee. Er war stark und bitter, genau wie ich ihn mochte, aber die Tasse war zu klein. Alles hier war irgendwie kleiner, als es hätte sein sollen – die Küche, das Badezimmer, sogar der Blick aus dem Fenster. Aber das machte nichts. Man gewöhnte sich daran.

„Gehst du mit?“

„Wohin?“

„In den Ort.“

„Warum?“

„Weil du sonst den ganzen Tag hier rumsitzt und den Horizont anstarrst, als ob er dir was schuldet.“

Ich antwortete nicht. Sie hatte ja recht, aber das hieß nicht, dass ich es zugeben musste. Stattdessen setzte ich mich neben sie auf die Treppe und spürte, wie die Sonne langsam an Kraft gewann. Es war einer dieser Tage, die in der Bretagne selten waren – warm, klar, mit einem Himmel, der so blau war, dass es fast wehtat, hinzusehen.

„Hast du Jean gesagt, dass wir bleiben?“

„Noch nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil ich noch nicht sicher bin, ob wir bleiben.“

„Du meinst, ob du bleibst.“

Sie sah mich an, ihr Gesicht nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. „Das ist doch das Gleiche, oder?“

Ich wollte widersprechen, aber da war diese Sache mit dem Hund. Er hatte sich an Marie gewöhnt, folgte ihr überall hin, selbst wenn sie nur kurz rausging, um die Wäsche aufzuhängen. Ich dagegen war für ihn bloß der Typ, der ihm manchmal Futter hinstellte. Vielleicht war das der Grund, warum ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

„Es ist seltsam, oder?“ sagte sie nach einer Weile.

„Was?“

„Dass man sich an Orte gewöhnen kann, die einem eigentlich nicht passen.“

„Vielleicht passen sie ja doch.“

„Vielleicht.“

Der Tag zog sich hin. Marie fuhr tatsächlich in den Ort, ließ mich allein mit dem Hund und meinen Gedanken. Ich versuchte, ein Buch zu lesen, aber die Worte verschwammen vor meinen Augen. Dann ging ich runter zum Strand, wo ein paar Möwen lärmten, als hätten sie sich nichts Besseres vorgenommen. Der Sand war weich und warm unter meinen Füßen, aber er war nicht der feine, weiße Sand aus den Prospekten, sondern grob und voller kleiner Steine, die an der Haut kratzten.

„Wieder nichts zu tun?“ Jean stand plötzlich hinter mir, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht.

„Wie hast du mich gefunden?“

„Ich hab’s geraten. Marie meinte, du bist ein Typ, der ans Wasser geht, wenn er nachdenken muss.“

„Und was denkst du darüber?“

„Dass sie dich besser kennt, als du glaubst.“

Er grinste, aber es war ein ruhiges Grinsen, eines, das nicht mehr Aufmerksamkeit wollte, als es brauchte. Jean war so jemand, der immer genau das richtige Maß fand – in allem. Ich mochte ihn nicht besonders, aber ich konnte auch nichts gegen ihn sagen. Er war einfach da, wie ein Stein oder ein Baum.

„Und? Wie ist es, in meinem Haus zu leben?“

„Es ist…“ Ich suchte nach einem Wort, das nicht falsch klang. „…ungewohnt.“

„Ungewohnt ist besser als langweilig.“

„Ist es das?“

„Manchmal.“

Wir schwiegen eine Weile, dann klopfte er mir auf die Schulter und ging weiter, den Strand entlang, als wäre er der Besitzer von allem, was er sah. Und vielleicht war er das auch, zumindest ein bisschen.

Als ich später ins Haus zurückkam, war Marie wieder da. Sie hatte Brot und Milch mitgebracht, und der Hund saß neben ihr, den Kopf auf ihrem Schoß, während sie ihm ein Stück Wurst zusteckte.

„Jean war hier“, sagte ich.

„Hab ich mir gedacht.“

„Er wollte wissen, wie es ist, in seinem Haus zu leben.“

„Und, was hast du gesagt?“

„Dass es ungewohnt ist.“

„Das ist es auch.“

Ich setzte mich ihr gegenüber und nahm ein Stück Brot. Es war frisch und duftete nach der kleinen Bäckerei im Ort, nach Mehl und Wärme und Zeit.

„Denkst du, er will uns hierbehalten?“

„Vielleicht. Vielleicht will er nur wissen, ob wir es schaffen, ohne ihn.“

„Und?“

„Das kommt auf uns an.“

Wir redeten nicht mehr viel an diesem Abend. Der Hund schlief irgendwann ein, und die Sterne kamen heraus, einer nach dem anderen, bis der Himmel aussah wie ein Netz aus Lichtpunkten.

Ich wusste nicht, wie lange wir bleiben würden, oder ob es das Richtige war, überhaupt hier zu sein. Aber in diesem Moment – in der Stille des Hauses, mit dem Meer im Hintergrund und Marie, die so nahe war, dass ich ihren Atem hören konnte – fühlte es sich fast so an, als wäre es genug.