Rebellion

Kapitel 1 – Der Blick von oben
Ich stehe auf dem Balkon des 84. Stocks. Unter mir glänzt der Dunst wie flüssiger Stahl. Die Stadt dampft. Irgendwo da unten schreit einer, aber hier oben klingt es wie Wind in der Klimaanlage. Ich ziehe an der Zigarette, obwohl ich längst aufgehört habe. Angeblich.
Meine Hand zittert nicht. Das war mal anders.
Der Typ hinter mir – Anzug, tadellos, komplett ohne Gesichtsausdruck – sagt irgendwas über den nächsten Transport, Sicherheitsprotokolle, Genehmigungen. Ich nicke, sage nichts. Der Trick ist: Schweigen, bis sie nervös werden. Dann machen sie Fehler.
„Miss Kalven?“ Er legt den Kopf schief. Sein Ohr leuchtet bläulich. Implantat der mittleren Klasse. Funktional, nicht elegant. Ich mag’s nicht, wenn Leute mich so nennen. Aber ich nicke wieder. Muss die Rolle spielen.
Taniya Kalven. Offizielle Repräsentantin der Nordsektion. Botschafterin. Projektleiterin. Die Frau, die nichts fühlt, nichts sieht, nichts weiß. Ein perfektes Phantom. In Wahrheit: Müllkind mit gepanschtem Blut und einer Datei in meinem Kopf, die manch einem das Fürchten lehren würde.
Ich werfe den Stummel über das Geländer. Fällt und fällt. Ich stelle mir vor, wie er unten auf dem Helm eines Patrouillenbots aufklatscht. Brennender Protest, kleiner als eine Laus. Niemand merkt’s. Wie immer.
Innen riecht es nach Glasreiniger und abgestandenem Kaffee. Die Lobby ist ein Marmorgrab mit blinkenden Bildschirmen. „INTEGRITÄT • EFFIZIENZ • KONTROLLE“. Mir wird schlecht. Ich lächle.
„Das Tribunal wird erfreut sein.“ Der Typ reicht mir ein Pad. Ich unterschreibe. Nicht mit meinem echten Namen, natürlich. Den kennt sowieso niemand mehr. Selbst ich nicht richtig.
Im Aufzug ist Stille. Nur mein Puls pocht dumpf im Ohr. Falsches Tempo. Irgendwas liegt in der Luft.
Als die Türen aufgehen, rieche ich es sofort: Parfum und Angst. Erste Regel da oben: Wer zu gut riecht, hat Dreck am Stecken.
Sie sitzen im Konferenzraum wie Götter auf Urlaub. Goldene Ringe, kalte Blicke, perfekt simulierte Langeweile. Ich spiele mit. Setze mich, überschlage die Beine. Die Jacke rutscht ein bisschen runter. Genau richtig.
„Bericht, Kalven.“
Der Älteste hat eine Stimme wie ein getrockneter Handschuh. Ich rede. Kurze Sätze, glatte Formulierungen. Das Übliche. Überwachung, Zufriedenheit der Sektoren, kleiner Zwischenfall in Distrikt 5, bereinigt. Gelogen. Alles gelogen. Sie wissen es. Ich weiß, dass sie es wissen. Das Spiel funktioniert nur, weil keiner zuerst blinzelt.
Als ich wieder draußen bin, ist es Nachmittag. Die Sonne knallt wie ein Fehler im System. Ich geh zu Fuß. Muss den Kopf klarkriegen.
In der Gasse neben dem Replikantencafé wartet jemand. Dunkle Kapuze. Kleine Bewegung mit der Hand – drei Finger, dann Faust.
Ich bleibe stehen.
Das war das Zeichen.
Und plötzlich weiß ich: Das Spiel hat gerade erst angefangen.
Kapitel 2 – Blut unter den Nägeln
Ich war elf, als meine Mutter verschwand.
Nicht gestorben. Nicht weggelaufen. Verschwunden. Einfach so. Als hätte die Stadt sie ausgespuckt, durchgekaut und dann irgendwo zwischen den Wartungstunneln und den Datenkanälen vergraben. Keine Leiche, kein Abschiedsbrief. Nur ein dunkler Fleck auf dem Beton und das Echo eines letzten Atemzugs.
Damals hab ich noch geglaubt, dass Dinge einfach passieren.
Unsere Wohnung – wenn man das so nennen konnte – lag in Sektor 7B, tief unten. Drei Etagen über dem Abwasserstrom, zwei unter der Recyclingstation. Alles hat gestunken: nach altem Metall, Schimmel, Schweiß. Meine Mutter hat gekocht, wenn sie was hatte, und geschwiegen, wenn sie nichts hatte. Das Schweigen war öfter da.
Sie war keine Rebellin. Keine Heldin. Nur jemand, der zu viel wusste – oder zur falschen Zeit den Mund aufmachte.
Ich erinnere mich an den Abend. Ich saß auf dem Boden, hab mit einem abgebrochenen Zahnrad gespielt. Sie hat mich angesehen, so ein Blick, der durch dich durchgeht, als wärst du durchsichtig. Dann hat sie gesagt: „Wenn ich nicht zurückkomm, du sagst niemandem was, hörst du? Du bist still, Tani. Immer still.“
Ich hab genickt. War ja nur ein Spiel. Dachte ich.
Die Tür ist hinter ihr zugefallen wie ein Urteil. Danach kam nur noch Kälte. Und Hunger. Und irgendwann der Moment, an dem ich beschlossen habe, dass Gefühle was für Leute sind, die überleben dürfen.
Zwei Tage später standen die Tribunal-Bots in unserer Gasse. Sie haben mit ihren Laseraugen die Wände gescannt, Daten abgezogen, Fragen gestellt, die keine Antworten wollten. Ich hab mich in einem Versorgungsschacht versteckt, mein ganzer Körper hat vibriert wie eine kaputte Stromleitung. Sie haben mich nicht gefunden. Ich hab aufgehört zu zittern. Irgendwann.
Und dann kam sie: die erste echte Wut. Kein Wutanfall. Kein Schreien. Nur dieses tiefe, leise Brennen. Wie glühende Kohle im Magen. Ich hab beschlossen, dass ich rausfinde, was passiert ist. Und dass ich nie wieder zusehen werde, wie jemand verschwindet.
Ich hab Blut unter den Nägeln gekratzt, das nicht meins war. Mich durch Müll gekämpft, bis ich gelernt hab, was wertvoll ist. Hab Daten geklaut, die ich nicht lesen konnte. Später schon. Später hab ich gelesen – und verstanden.
Meine Mutter war ein Testlauf.
Sie haben sie benutzt, um etwas Neues zu entwickeln. Eine Methode, Leute verschwinden zu lassen, ohne Rückstände. Ich war das Beweismaterial, das sie vergessen hatten.
Bis jetzt.
Kapitel 3 – Die Stimme aus dem Netz
Es fängt mit einem Flackern an.
Mein Interface zuckt. Nur eine Millisekunde. So schnell, dass man’s übersehen würde, wenn man nicht gelernt hätte, jeden Fehler im System wie ein Messer zu behandeln. Ich friere ein. Atme aus.
Ein einzelnes Zeichen blinkt unten rechts: ∆7.
Kein offizielles Protokoll. Keine bekannte Frequenz. Keine bekannte Quelle.
Ich zieh mich in die alte Netzzelle zurück – tief drin, da wo die Archivdaten noch nach Kupfer schmecken. Mein Rückzugsort. Niemand geht freiwillig dahin, wo der Code stinkt wie ein vergessener Keller. Aber genau da fängt es an zu leben.
Ich hacke mich rein. Altmodisch. Manuell. Kein Plug-in. Nur ich, mein Terminal, und ein Puls, der langsam schneller wird.
„Verbindung stabil“, sagt das Interface.
Und dann kommt die Stimme.
„Taniya.“
Flach, unaufgeregt. Kein Echo, keine Modulation. Einfach nur da. Als hätte jemand direkt in meine Schädeldecke gesprochen.
Ich friere.
„Wer bist du?“
Stille. Dann:
„Jemand, der dich sieht. Jemand, der weiß, was sie mit deiner Mutter gemacht haben.“
Meine Fingergelenke knacken. Ich muss mich zusammenreißen. Nicht ausrasten. Nicht schreien. Ich schalte das Mikro auf stumm, bevor ich den Atem rauslasse, der viel zu lange drin war.
„Wie?“
„Weil ich dabei war. Weil ich damals auch geglaubt hab, das Richtige zu tun. Jetzt… mach ich’s wieder gut.“
Ich lehne mich zurück. Der Bildschirm zeigt nichts als Code, der sich dreht wie ein schwarzer Sturm. Kein Name. Keine IP. Nur ein Rufzeichen: RAVEN.
„Du bist Rebell.“
„Nein.“
„Lüg nicht.“
„Ich bin das, was übrig bleibt, wenn Rebellion gescheitert ist.“
Ich mag die Antwort nicht. Sie klingt zu ehrlich.
„Warum jetzt?“ frage ich.
„Weil du bereit bist.“
„Wofür?“
„Für das, was kommt. Für die Null.“
Die Null.
Schon wieder dieses Wort.
„Ich will Namen.“
„Bekommst du. Später. Erst brauchst du einen Schlüssel.“
„Wofür?“
„Für den Tunnel unter der Regierungsakademie. Da ist etwas, was du sehen musst.“
Ich zögere. Zu viele Fallen. Zu viele Möglichkeiten, dass das hier ein sauber inszenierter Tribunal-Test ist. Aber mein Bauch sagt was anderes.
„Ich schick dir die Koordinaten“, sagt Raven.
Dann: Nichts mehr. Verbindungen getrennt. Der Raum ist still.
Aber irgendwas hat sich verändert.
Ich weiß es. Ich spür es in den Fingern, im Magen, im Nacken.
Das Spiel hat eine neue Ebene bekommen.
Und diesmal bin ich nicht allein auf dem Brett.
Kapitel 4 – Die Regeln der Schatten
Die Akademie steht wie ein fauliger Zahn im Herzen der Oberstadt. Außen weißes Titan, innen Beton, schweigend und steril. Auf dem Schild über dem Haupteingang steht: FÜR DIE ORDNUNG DER ZUKUNFT. Ich kotze fast.
Ich geh nicht durch den Eingang. Natürlich nicht.
Die Koordinaten, die Raven mir geschickt hat, führen in die Tiefe. Unter den Fundamenten. Da, wo die Rohre singen und das Licht aus Prinzip nicht hinwill. Zugang nur für Wartungspersonal – oder Leute wie mich.
Ich trag die alten Kleider. Rissige Stiefel, Mantel mit Ruß an den Nähten, Schal, der mehr Geschichte als Stoff ist. Niemand beachtet dich, wenn du nach wenig aussiehst. Sie schauen durch dich hindurch. Und genau das nutze ich.
Der Tunnel riecht nach Öl und feuchter Erinnerung. An den Wänden laufen Datenströme, sichtbare Nerven der Stadt, zuckend in den Schatten. Ich streife mit den Fingern drüber. Der Strom summt wie ein Herzschlag.
Dann – eine Tür.
Kein Schloss. Kein Panel. Nur ein altes Symbol: ∆7. Ravens Zeichen.
Ich drück dagegen. Widerstand. Dann ein Klicken. Als hätte die Tür mich erkannt. Innen ist es dunkel. Und warm. Zu warm. Ich zieh den Mantel aus, bleib stehen.
Ein Raum. Rund. Wände aus schwarzem Glas, durchzogen von Lichtadern. In der Mitte: ein Tisch. Und darauf – ein Hologramm. Flackernd. Ein Gesicht. Fragmentiert.
„Du bist spät“, sagt die Stimme.
„Ich bin vorsichtig.“
„Vorsicht bringt dich nicht weiter. Nur weiter weg.“
Das Gesicht formt sich langsam. Weiblich. Vielleicht. Nicht echt. Nur gebaut aus Daten und Zorn.
„Wer bist du wirklich, Raven?“
„Spielt das eine Rolle? Du willst Antworten. Ich will Bewegung.“
Ich sag nichts. Ich beobachte.
„Das Tribunal wird nicht durch einen Sturm fallen. Nicht durch Bomben. Sondern durch Risse im Fundament.“
„Was willst du von mir?“
„Ein Riss sein.“
Ich lache. Kurz. Bitter.
„Ich bin keine Anführerin.“
„Perfekt. Anführer haben wir zu viele.“
Dann fährt ein Teil der Wand zurück. Ein Mann tritt hervor. Groß, Schultern wie ein Ladegerät, Narben an den Armen. Er sieht aus, als hätte man ihn aus einem anderen Jahrhundert reingeschnitten.
„Das ist Nox“, sagt Raven. „Er bringt dich zu den anderen.“
Ich mustere ihn. Er mich.
„Wenn du eine Waffe brauchst“, knurrt er, „nimm was du tragen kannst.“
Ich folge ihm, ohne zu fragen, wohin.
Im Tunnel denkt keiner laut. Jeder Schritt hallt wie ein Versprechen.
Die Rebellion hat keine Uniform. Keine Hymne. Keine Ordnung.
Nur eine Regel:
Sei bereit, allein zu stehen.
Denn das bist du sowieso.
Kapitel 5 – Spiegelfeuer
Wir waren zu dritt. Nox, ich, und ein Mädchen, das sich „Pix“ nannte, mit mehr Metall im Gesicht als nötig war. Sie hatte Augen wie Kameralinsen und sprach, als würde sie jede Silbe vor dem Aussprechen dreimal prüfen.
„Zielperson ist Tribun Kessel. Oberstadt, Sektor 3. 21:00 Uhr. Empfang. Viele Krawatten. Viel Glas. Viel falsches Lächeln.“
Nox nickte. Ich nicht. Ich wusste, dass solche Einsätze nie laufen wie geplant. Besonders wenn’s heißt: „Es ist nur ein Signal. Kein Attentat.“
Pix lachte trocken. „Ein bisschen Chaos reicht manchmal. Spiegel zerschlagen, damit die falschen Gesichter zu bluten anfangen.“
Ich mochte sie. Sie war verrückt, aber echt.
Der Plan war einfach: Rauchgranate ins Belüftungssystem. Chaos stiften, Daten stehlen, verschwinden. Keine Helden, keine Leichen. Nur Spuren. Nur Risse.
Ich hab mich im Lieferpersonal eingeschleust. Silbergraue Uniform, Barcode am Hals, Gesicht wie aus Stein. Der Eingangsscanner piepte kurz – dann grün. Die Leiche, die ich dafür gebraucht hab, war warm gewesen. Ich hatte sie nicht getötet. Aber ich war da, als es passierte.
Im Saal glänzte alles. Boden wie Wasser. Kronleuchter aus Lichtkristallen, die surrten wie Insekten. Tribun Kessel stand am Rand, redete mit einem alten Mann mit Gendefekt. Ich roch Angst, gemischt mit diesem Parfum, das wie verbrannter Zucker roch.
Dann: Rauch. Nicht viel. Nur ein Hauch. Genug, um Nervosität zu streuen. Leute schauen sich um, rufen Namen, greifen nach ihren Implantaten wie nach Schmuck.
Ich war am Terminal. Drei Klicks. Ein Download. Fast geschafft.
Dann hörte ich es.
Ein Kind.
Schreiend. Verloren. Zwischen zwei holografischen Bäumen.
Ich sah es. Vielleicht sechs Jahre alt. Allein. Keiner schaute hin.
Scheiß drauf.
Ich rannte los. Griff es, hob es hoch, versteckte uns hinter einer gläsernen Wandnische. Mein Herz schlug zu laut. Ich fluchte leise.
Der Kleine zitterte. Ich auch.
Über Funk hörte ich Pix:
„Was zum Teufel machst du?! Raus da! Raus!“
Ich antwortete nicht. Stattdessen wartete ich. Drei Minuten. Dann war der Nebel verzogen. Ich drückte dem Kind einen Codechip in die Hand.
„Wenn du wieder oben bist – gib das jemandem, der kein Uniform trägt. Verstanden?“
Es nickte. Mehr Mut in dem Blick, als ich je mit elf hatte.
Dann verschwand ich.
Später. Im Versteck. Nox starrte mich an.
„Du hast den Plan gefährdet.“
Ich zuckte die Schultern.
„Ich hab jemanden gerettet.“
„Das ist nicht Teil des Spiels.“
„Dann spiel ich ein anderes.“
Er sagte nichts mehr.
Pix starrte auf die Daten, die ich geholt hatte.
„Was hast du da mitgebracht?“
Ich blickte aufs Terminal. Und da war es: ein Video. Unscharf. Alt. Aber eindeutig.
Meine Mutter. In einer Zelle. Lebendig.
Oder zumindest… nicht ganz tot.
Kapitel 6 – Kodex 404
Ich hab das Video dreißigmal angesehen.
Immer dieselben fünf Sekunden. Keine Tonspur. Nur schwaches Licht, graue Wände, eine Kamera in der Ecke. Meine Mutter, zusammengesunken auf einer Metallpritsche, die Haare kürzer, der Blick leer. Aber es war sie. Ganz sicher. Und sie lebte. Oder zumindest hatte sie gelebt, als das aufgenommen wurde.
Timestamp: 21.03.43 – 16:08 – Kodex 404.
Ich starrte auf diese Zahlen wie auf eine offene Wunde. 404. Der Fehlercode. Nicht gefunden. Nicht vorhanden. Das konnte kein Zufall sein.
Pix sagte: „Dieser Kodex ist kein offizielles Protokoll. Das ist was Eigenes. Interner Zugriff. Tribunal-only.“
Ich fragte: „Können wir rein?“
„Rein schon. Raus… eher nicht.“
Nox stand im Türrahmen. Verschränkte Arme, kalte Augen.
„Das ist eine Falle. Du weißt das.“
Ich nickte.
„Ist mir egal.“
Er sagte nichts mehr.
Die Anlage lag am Rand des industriellen Totgürtels. Kein offizieller Eintrag. Keine Karten. Nur eine Koordinate in einem vergessenen Seitenpfad. Betonwürfel, ohne Fenster. Kein Schild, kein Licht. Nur ein Eingang – wie ein Loch im Zahnfleisch der Stadt.
Wir gingen zu zweit. Pix blieb zurück, falls was schieflief.
Drinnen war es still. Keine Wachen. Keine Kameras. Nur ein leises Summen aus der Tiefe. Der Flur führte nach unten, spiralförmig. Wie eine Treppe ins Nervensystem eines Kadavers.
Am Ende: ein Raum. Schwarz. Leer.
Und dann plötzlich: Licht.
Hologramme schossen aus dem Boden. Datenfelder, rotierende Dateien, Namen, Gesichter, Archivnummern. Es war kein Gefängnis.
Es war ein Katalog.
Ich trat näher. Scannte das System. Finger flogen über die Oberfläche. Und dann fand ich sie:
SUBJEKT #KAL-77 // STATUS: UNBEKANNT // ZUGRIFF: EINGESCHRÄNKT // KODEX 404.
Ich tippte den Code ein. Es flackerte. Dann erschien ein Bericht:
Versuchsperson zeigt abweichende Resilienzwerte. Entfernung aus Testumfeld empfohlen. Speichertransfer durchgeführt. Körperstatus ungewiss. Speicherzelle aktiv. Letzter Zugriff durch: DREY-12.
Nox murmelte: „Was ist das, Taniya?“
Ich starrte auf das Wort: Speichertransfer.
Nicht tot. Nicht lebendig. Gespeichert.
Sie hatten sie nicht getötet. Sie hatten sie umgewandelt. In Daten. In Bewusstsein. In ein Experiment.
„Ich muss diesen Drey finden“, sagte ich.
Nox nickte langsam.
„Wenn du das tust, gibt’s kein Zurück.“
„Gab’s nie.“
Als wir den Raum verließen, war die Tür verschwunden.
Nur eine Wand aus Beton. Als hätte sie nie existiert.
Kodex 404. Fehler. Fiktion.
Oder die größte Wahrheit im ganzen verdammten System.
Kapitel 7 – Schlaflos in Sektor 9
Ich schlafe in einer rostigen Röhre über einem alten Abwärmeschacht. Die Hitze dringt durch den Beton wie ein fiebernder Atem. Die Wände sind beschlagen, manchmal tropft es auf meine Stirn. Ich wache trotzdem jede Stunde auf.
Nicht wegen des Lärms. Nicht wegen der Kälte. Wegen dem, was in meinem Kopf kreist. Wieder und wieder. Wie eine kaputte Schleife.
„Speicherzelle aktiv.“
Das bedeutet, dass sie irgendwo noch ist. Irgendwo in diesem verdammten Netz. Vielleicht als Stimme. Vielleicht als Gedanke. Vielleicht als Datenpaket in einer vergessenen Kammer voller Schatten.
Ich kann nicht schlafen. Nicht wirklich.
Draußen röhrt ein Müllsammler durch die Gassen. Ein blechernes Ungetüm, das mit seinen Greifarmen Reste frisst. Drinnen leuchtet mein Terminal wie ein böser Traum. Ich starre auf den Namen: DREY-12.
Pix hat was aufgetrieben. Alte Zugangscodes. Fragmente aus dem Schwarzmarkt. Kein vollständiger Weg, aber ein Pfad.
„Drey war kein Tribun. Kein offizieller. Einer von denen, die im Hintergrund basteln. Ohne Rang, aber mit Spielraum.“
„Ein Techniker?“
„Mehr. Ein Architekt. Er hat mitgeholfen, Kodex 404 zu bauen.“
Ich nehme den Datenchip, den sie mir gibt. Fühlt sich an wie Schuld.
„Wenn du da reingehst“, sagt sie, „gibt’s keinen Plan B.“
Ich nicke. Natürlich nicht.
Ich laufe durch Sektor 9. Jeder Schritt hallt wie ein Versprechen. Es ist der Teil der Stadt, den keiner reguliert. Hier leben die, die durchs Raster gefallen sind. Gesichtslose. Datenlose. Schatten.
Der Gestank ist intensiv. Schweiß, Eisen, geschmolzene Hoffnung.
Ein Kind bietet mir etwas an – einen schmutzigen Apfel gegen einen Code. Ich geb ihm eine Zahl, die nichts bedeutet. Er verschwindet grinsend.
Manchmal glaub ich, Kinder sind die letzten, die dieses Spiel wirklich verstehen.
Die Adresse, die mir Pix gegeben hat, liegt hinter einem heruntergekommenen Bordell. Keine Tür. Nur ein Vorhang aus Ketten. Dahinter: ein Raum, beleuchtet von einem einzigen Bildschirm.
Ein Mann sitzt davor. Rücken zu mir. Glatze, Narben, ein Atemgerät, das rhythmisch zischt wie eine erschöpfte Lunge.
Ich zieh die Waffe.
„Drey-12?“
Er dreht sich langsam. Augen wie tote Scheinwerfer.
„Du bist spät“, sagt er.
Seine Stimme klingt wie Sand auf Metall.
Ich senke die Waffe nicht.
„Du hast meine Mutter gespeichert.“
Er lacht nicht.
„Ich hab sie gerettet.“
„Du hast sie zerstört.“
„Nein. Ich hab ihr das Einzige gegeben, was sie retten konnte. Zeit.“
Ich trete näher. Meine Finger zittern. Nicht vor Angst. Vor etwas anderem. Etwas, das ich nicht benennen will.
„Wo ist sie?“
Drey deutet auf einen Schacht hinter sich. Eine Röhre. Keine größer als ein Sarg.
„Da. Immer noch aktiv. Aber instabil.“
„Ich will sie hören.“
Er nickt. Tippt eine Sequenz. Die Röhre beginnt zu vibrieren. Und dann – eine Stimme. Zerhackt. Bruchstückhaft.
„…Tani… lebst du noch…? Ich… ich weiß nicht, wie lange…“
Ich gehe in die Knie.
Die Welt fällt auseinander. Oder vielleicht war sie nie ganz.
Drey sagt nichts. Nur sein Atemgerät zischt weiter.
Und ich weiß jetzt: Ich kann nicht mehr zurück. Nicht jetzt. Nicht, wo ich sie gehört hab.
Sie lebt.
Irgendwie.
Und ich werde sie da rausholen.
Kapitel 8 – Das Herz aus Draht
Ich liege mit offenen Augen auf dem Boden von Drey-12s Werkstatt. Der Beton unter mir ist warm, das Flackern des Monitors wirft Schatten an die Decke wie fliehende Geister. Schlaf kommt keiner. Gedanken schon.
Ich höre ihre Stimme immer noch. In Endlosschleife.
„…Tani… lebst du noch…?“
Ich beiße mir auf die Lippe, bis es blutet.
Am nächsten Morgen – oder was in dieser Stadt so als Morgen gilt – klopft es an die Metalltür. Ein dumpfes, gleichmäßiges Pochen.
Drey schaut nicht auf.
„Das ist deiner.“
Ich zieh die Waffe und öffne. Langsam. Bereit für alles.
Er steht da wie eine Wand aus Vergangenheit.
Breite Schultern, Handschuhe mit Metallknöcheln, eine Narbe quer über die Stirn wie ein fehlgeschlagenes Kapitel. Malik.
Er grinst. Schief.
„Hast dich verändert.“
„Du nicht.“
„Stimmt. Immer noch hässlich wie die Sünde.“
Ich will ihn schlagen. Ich will ihn küssen. Ich tu beides nicht.
Wir gehen raus. Reden nicht viel. Malik raucht was Selbstgedrehtes, das nach verbrannter Pfefferminze riecht. Ich frag nicht, woher er weiß, wo ich bin.
„Ich hab dich gesucht“, sagt er schließlich.
Ich lache trocken.
„Und? Gefunden, was du wolltest?“
„Vielleicht.“
„Und jetzt?“
„Jetzt helf ich dir.“
Ich bleibe stehen.
„Warum?“
Er zuckt mit den Schultern.
„Weil du die Einzige bist, die noch versucht, etwas zu fühlen in dieser Stadt. Und weil du mich mal fast umgebracht hast. Das verbindet.“
Ich sage nichts. Aber irgendwas in mir wird weich. Nur ein bisschen. Nur kurz.
Später, in der Dunkelheit eines abgestellten U-Bahn-Waggons, sitzen wir nebeneinander. Malik tippt auf seinem Terminal.
„Ich hab was aufgetrieben. Eine Karte. Von einem Ort, den’s nicht geben dürfte.“
Er zeigt mir das Hologramm.
Eine Anlage. Unterirdisch. Riesig. Keine offizielle Kennung. Aber eindeutig verbunden mit Kodex 404.
„Da ist sie“, sage ich.
Malik nickt.
„Und da geh’n wir hin.“
Er reicht mir ein Stück Draht. Dünn, blank, scharf wie Erinnerung.
„Was ist das?“
„Aus dem Herzmonitor eines alten Archivraums. Er hat die letzten fünf Minuten deiner Mutter gespeichert. Mechanisch. Kein Ton. Nur Puls.“
Ich halte den Draht in der Hand. Spüre das Zittern. Seines. Meines. Unsers.
Er sieht mich an. Direkt.
„Du bist keine Maschine, Taniya.“
„Noch nicht“, sage ich.
Dann lehne ich mich zurück.
Zum ersten Mal seit Wochen schließe ich die Augen. Und ich träume.
Von ihr.
Kapitel 9 – Die weiße Maske
Der Empfang ist eine Farce.
Roter Teppich, goldene Wände, Menschen wie gemalte Puppen. Alles riecht nach synthetischem Jasmin und toter Etikette. Ich trage ein Kleid, das nicht mir gehört, und ein Gesicht, das nicht ich bin. Gescannt, verifiziert, zugelassen. Willkommen im Sektor der Eliten.
Neben mir Malik, glatt rasiert, Anzug wie aus dem Werbekatalog eines Waffenherstellers. Er sieht aus wie ein Bodyguard, ist aber mein einziger Anker in diesem Haufen aus Glas und Lügen.
„Bleib nah“, murmel ich.
Er nickt.
„Immer.“
Ziel: die weiße Maske.
So nennen sie sie in den Schattenkanälen. Öffentlich: Tribunin Laera Korr. Inoffiziell: eine der Köpfe hinter Kodex 404. Und wahrscheinlich die letzte, die meine Mutter lebendig gesehen hat – oder was von ihr übrig war.
Sie taucht auf, als hätte sie den Abend erfunden. Schlank, elegant, weißes Kleid, weißes Gesicht – nicht geschminkt, sondern wirklich weiß. Eine Maske ohne Mimik. Kein Ausdruck. Kein Alter. Kein Mensch.
Die Leute verbeugen sich vor ihr wie vor einer Statue. Ich starre.
Malik spürt es.
„Du willst zu früh zu viel“, murmelt er.
„Ich will Antworten.“
„Dann hol sie dir. Aber ruhig.“
Ich atme durch. Gehe auf sie zu. Jeder Schritt wie durch Pudding. Mein Herz klopft. Nicht aus Angst. Sondern aus etwas, das ich lange nicht mehr hatte.
Wut.
„Tribunin Korr“, sage ich mit gespielter Höflichkeit.
Sie dreht sich. Die Maske blickt mich an. Keine Regung. Kein Zucken.
„Miss?“
„Calla Verine. Informationsberaterin. Ich wollte mich bedanken für… das Projekt zur Gedächtnissicherung. Wirklich faszinierend.“
Sie neigt leicht den Kopf. Fast wie ein Tier, das Geräusche ortet.
„Sie kennen das Projekt?“
„Ich habe jemanden verloren. Und… manchmal fragt man sich, ob der Speicher nicht mehr sagt als der Tod.“
Stille.
Dann:
„Der Speicher ist kein Mensch. Er ist das, was übrig bleibt, wenn Menschlichkeit versagt.“
Ihre Stimme ist weich. Fast sanft. Und trotzdem schneidet sie wie Glas.
Ich sehe sie an.
„Manche Dinge verdienen es, gespeichert zu werden.“
„Und manche Dinge müssen verschwinden.“
Das war ein Geständnis. Oder eine Warnung. Oder beides.
Ich will weiterreden. Fragen. Schreien. Doch sie dreht sich einfach um. Geht. Zwei Sicherheitsmänner folgen ihr wie Schatten. Malik legt mir die Hand auf die Schulter.
„Wir sind aufgeflogen.“
Ich nicke.
Wir gehen Richtung Ausgang, als sich ein Mann vor uns aufbaut. Grauhaarig, Gesicht voller Linien, die keine Geschichte mehr erzählen wollen.
Er sagt nur ein Wort:
„Taniya.“
Dann zieht er etwas aus seiner Jacke. Ich sehe das Gerät, zu spät. Es piept. Licht.
Schwarz.
Ich wache irgendwo auf. Dunkel. Metall. Meine Hände gebunden.
Und jemand flüstert hinter mir:
„Du bist zu tief gefallen.“
Kapitel 10 – Unter dem Neonmond
Schmerz kommt zuerst. Dann Licht.
Nicht echtes Licht. Neonlicht. Kalt, bläulich, flackernd. Wie ein sterbender Stern in einem sterilen Himmel.
Ich liege auf einem Stuhl, die Arme gefesselt, die Beine taub. Metallplatten an den Schläfen. Eine Frau mit Handschuhen justiert etwas an einem Terminal. Sie sieht mich nicht an. Niemand sieht mich an.
„Sie ist wach“, sagt jemand hinter ihr.
Ich erkenne die Stimme.
Malik.
Ich ziehe die Luft scharf ein. Nicht wegen dem Schock. Wegen dem Schnitt. Der sitzt tief. Tiefer als Messer reichen.
„Du“, sage ich.
Nur das. Nur dieses eine Wort.
Er tritt ins Licht. Gesicht unbewegt. Wie aus Stein geschnitzt. Aber die Augen. Die verraten ihn.
„Sie haben dich“, sagt er leise.
„Ich hatte keine Wahl.“
„Das sagen sie alle.“
Ich schließe die Augen. Will nichts mehr sehen. Aber mein Kopf spielt weiter. Bild für Bild.
Malik. Neben mir. Malik. Mit mir. Malik. Und jetzt: Malik. Vor mir. Gegen mich.
„Halt den Mund“, knurrt er.
„Warum? Wahrheit zu laut?“
Die Frau am Terminal dreht sich. Kurzes Haar. Kühle Augen. Ich kenne sie nicht. Doch sie spricht, als gehörte ihr mein Hirn:
„Wir wollen nur wissen, was du weißt. Dann lassen wir dich gehen.“
Ich lache. Laut. Hysterisch. Bis mir die Tränen kommen.
„Ihr glaubt wirklich, ich hab das alles für Infos gemacht? Für Daten?“
„Für deine Mutter.“
Stille.
Ich sage nichts. Sie wissen alles. Oder glauben es zumindest.
Dann geht es schnell.
Alarm. Rotes Licht. Sirene.
Ein Explosionsknall zerreißt die Wand hinter mir. Splitter. Rauch. Geschrei.
Ich reiße am Stuhl. Die Fesseln geben nach. Nicht genug, um zu fliehen. Aber genug, um zu kämpfen.
Malik verschwindet im Chaos. Feigling.
Eine Silhouette tritt durch den Rauch.
Pix.
Sie feuert zwei gezielte Schüsse ab. Der Monitor zerspringt. Ich schreie.
Nicht vor Schmerz. Vor Erleichterung.
„Du siehst scheiße aus“, ruft sie.
„Schön, dich zu sehen.“
Sie zieht mich raus. Trägt mich fast. Ich blute. Irgendwo innen. Spür ich.
Hinter uns weitere Detonationen. Die ganze Etage bebt. Rauch kriecht in die Gänge wie lebendiges Fleisch.
„Wohin?“, keuche ich.
„Weg“, sagt sie.
„Oder willst du hier unter’m Neonmond sterben wie ein Testsubjekt?“
Ich lache. Es tut weh. Aber es ist echt.
Später, als wir irgendwo in einem Untergrundzug sitzen, lehn ich den Kopf gegen Pix’ Schulter.
„Malik… hat mich verraten.“
Sie nickt.
„Oder sich selbst.“
Ich sage nichts.
Draußen rauscht die Stadt vorbei. Schwarz, pink, violett. Unwirklich. Wie ein Traum, den keiner mehr träumt.
Aber ich. Ich bin wach.
Und ich will Antworten.
Und Rache.
Kapitel 11 – Die letzte Frequenz
Wir verstecken uns in einem ehemaligen Reparaturhangar unter Sektor 4. Rost an den Wänden, alte Drohnenteile auf dem Boden, alles riecht nach Öl und Schweiß und Vergangenheit. Pix flickt meine Schulter mit einem Heftpflaster, das eher symbolisch ist. Ich blute innerlich. Aber was ist schon neu daran.
„Dein Körper ist zäh“, sagt sie.
Ich zucke die Schultern.
„Der Rest… weniger.“
Sie reicht mir einen Schluck aus ihrer Flasche. Schmeckt nach Alkohol und Zucker und leeren Versprechungen.
Später – als die Stadt schläft oder zumindest so tut – krame ich mein altes Interface hervor. Verbinde mich mit der Frequenz, die ich zuletzt von Raven hatte.
Tot.
Nur statisches Flirren. Kein Signal.
Ich versuche einen Ping. Einen Rückruf. Einen alten Code, den ich mir eingebrannt hab wie eine Narbe.
∆7 – 4D3V – 1138 – ECHO
Stille.
Dann plötzlich: Rauschen.
Und aus dem Rauschen: ihre Stimme. Bruchstückhaft. Fragil. Wie durch ein zerbrochenes Fenster gesprochen.
„…Taniya… du wirst beobachtet… Drey ist nicht der letzte… sie… sie haben dein Signal… die Null… ist nicht, was du denkst…“
Dann Stille.
Endgültig.
Pix tritt hinter mich.
„Was hat sie gesagt?“
Ich schüttle den Kopf.
„Nicht genug. Aber mehr als gar nichts.“
Ich spüre es: Raven ist weg. Vielleicht tot. Vielleicht gelöscht. Vielleicht tiefer im System verschwunden, als ein Mensch ihr folgen könnte. Aber das Letzte, was sie gesagt hat, reicht.
Die Null ist nicht, was du denkst.
Ich öffne Drey-12s Chip noch einmal. Durchsuche jede Datei, jede redundante Sequenz. Und finde es:
Ein Koordinatensatz. Versteckt in einem Video. An den Rand gefaltet wie ein geheimer Fluchtweg in einem alten Buch.
Ich zeige ihn Pix.
Sie runzelt die Stirn.
„Das ist nicht in der Stadt.“
„Was dann?“
„Unter ihr.“
Später – kurz vor dem Aufbruch – sitze ich allein auf einem Stahlbalken über einem leeren Schacht. Unten: Dunkelheit. Oben: Nichts. Nur Kabel, die singen wie alte Geister.
Ich flüstere ihren Namen. Meiner Mutter. Nur leise.
Kein Echo. Nur meine eigene Stimme. Und ein dumpfer Herzschlag in meinem Kopf.
Sie haben dein Signal.
Das heißt: Ich bin keine Jägerin mehr. Ich bin Köder.
Aber vielleicht ist das genau, was ich sein muss.
Kapitel 12 – Schattenkind
Der Zugang zur Tiefe liegt versteckt hinter einem Versorgungsschacht im Altsektor. Kein Schild, keine Warnung. Nur ein leeres Terminal, das bei der richtigen Berührung leise klickt. Wie eine Begrüßung für die, die man nie einladen wollte.
Pix und ich steigen hinab. Keine Worte. Nur Schritte. Metallgitter unter unseren Füßen, der Geruch von altem Gummi, verbranntem Staub und dieser merkwürdigen Hitze, die nichts mit Temperatur zu tun hat. Sondern mit Angst.
Nach zwanzig Minuten gehen die Lichter aus.
Wir ziehen Lampen aus der Ausrüstung, werfen diffuses Licht gegen Wände, die nicht mehr wie Stadt wirken, sondern wie Knochen. Die Architektur ändert sich. Keine Technik mehr. Nur noch Rohform. Tunnel aus Stein, als hätte jemand das Fundament der Welt mit bloßen Händen gegraben.
Und dann hören wir sie.
Kinderstimmen.
Ich bleibe stehen. Pix auch. Kein Zweifel. Lachen. Flüstern. Hohes Kreischen. Kein Echo.
„Das kann nicht sein“, murmelt sie.
Doch dann taucht er auf.
Ein Junge. Vielleicht neun. Splitter in den Haaren. Dreck im Gesicht. Augen, so alt wie meine. Er sieht mich an, als hätte er mich erwartet.
„Du bist spät“, sagt er.
Ich will fragen, woher er mich kennt. Aber er dreht sich schon um, geht durch eine halbgeöffnete Tür, in einen Raum, der nach Erde riecht.
Dort: fünf Kinder. Kein Licht außer unserem. Sie kauern auf Matten, spielen mit alten Datenchips, die längst nichts mehr speichern.
„Was ist das hier?“, frage ich leise.
Ein Mädchen mit Glatze antwortet:
„Der Ort, wo sie uns vergessen haben.“
Pix wirkt bleich. Ich setze mich auf einen leeren Kasten.
„Wie lange seid ihr hier?“
„Immer.“
„Wisst ihr, was Kodex 404 ist?“
Der Junge nickt.
„Das war der Moment, wo sie aufgehört haben, uns Namen zu geben.“
Ich schlucke.
„Und meine Mutter?“
Die Glatzköpfige zeigt auf die Wand. Ein alter Bildschirm, kaum erkennbar. Flackert kurz – dann ein Bild. Unscharf. Aber sie ist es. In einem dieser Räume. Lächelnd. Ein Kind auf dem Schoß.
„Sie war hier. Vor vielen Jahren. Hat uns Namen gegeben. Uns Geschichten erzählt. Dann kam jemand mit Maske. Danach war sie weg.“
Ich spüre, wie sich was in mir verzieht. Kein Schmerz. Was Schlimmeres. Diese Mischung aus Dankbarkeit und Ohnmacht.
„Warum seid ihr nicht gegangen?“
„Weil niemand kommt. Außer du.“
Ich bleibe über Nacht. Erzähle ihnen von oben. Vom Licht. Vom Lärm. Vom Sterben.
Sie hören zu, als wäre ich ein Märchen.
Pix schläft irgendwann ein. Ich nicht.
Ich schaue dem Jungen beim Atmen zu. Und frage mich:
Wann hab ich aufgehört, ein Kind zu sein?
Antwort: Als sie meine Mutter nahmen.
Und jetzt?
Jetzt nehme ich sie mir zurück.
Kapitel 13 – Code: Rebellion
Ich stehe am Rand der Tiefe. Über mir Kabel, die singen. Unter mir: Nichts. Die Kinder schlafen. Pix sitzt schweigend neben mir, trinkt etwas aus einer Metallflasche, das nicht helfen wird, aber zumindest brennt. Ich spüre ihre Augen, aber sie sagt nichts.
Gut so.
Ich öffne mein Interface. Starte das alte Sendemodul, das ich von Raven behalten habe – ∆7, modifiziert, maskiert, unauffindbar, solange man nicht weiß, wonach man sucht. Ich setze mich, richte das Mikrofon aus, atme einmal tief ein.
Dann sage ich es.
„An alle, die noch zuhören können –
an die, die sich erinnern,
an die, die etwas verloren haben,
an die, die nichts mehr zu verlieren haben –
ich bin Taniya Kalven.
Ich bin nicht tot.
Ich bin nicht still.
Und ich bin nicht mehr allein.“
Kurze Pause. Nur das Summen der Frequenz im Ohr.
„Das Tribunal ist nicht ewig. Es atmet. Es zittert.
Und es blutet.
Ich war ein Versuch.
Ich war ein Fehler.
Jetzt bin ich ein Signal.“
Ich übertrage Koordinaten – nicht meinen Standort, sondern den der Schattenkinder. Den Ort, den man nicht auf Karten findet.
„Wenn ihr denkt, dass ihr schwach seid –
kommt.
Wenn ihr denkt, dass ihr vergessen wurdet –
kommt.
Wenn ihr denkt, dass niemand euch sieht –
ich sehe euch.“
Ich schließe den Kanal.
Stille.
Pix sagt leise:
„Das war schön. Und dumm.“
„Vielleicht beides.“
Ich starre ins Dunkel.
Am nächsten Tag tauchen die Ersten auf.
Kein Lärm. Kein Banner. Nur Schritte. Leise. Vorsichtige. Schatten, die sich bewegen, wie sie nie durften. Eine Frau mit Prothese, ein alter Mann mit einem kaputten Interface im Nacken, drei Jugendliche mit selbstgebauten Waffen und Blicken, die nichts mehr fragen.
Sie sagen nichts.
Aber sie setzen sich zu uns.
Dann der Nächste. Und der Nächste.
Es ist kein Heer. Kein Aufstand. Noch nicht.
Aber es ist ein Anfang.
Später sitzt das Kind mit der Glatze neben mir.
„Du bist jetzt unsere Anführerin?“
Ich schüttle den Kopf.
„Nein. Ich bin nur die Erste, die den Mund aufmacht.“
Sie überlegt.
„Dann muss ich wohl die Zweite sein.“
Ich grinse.
In dieser Nacht schläft niemand. Die Tunnel vibrieren. Die Frequenz lebt. Wir wissen nicht, was kommt. Nur, dass es kommt.
Und dass wir bereit sind.
Kapitel 14 – Sturm ohne Flagge
Es fängt an mit einem Stromausfall.
Keine Explosion. Kein Schrei. Einfach – Dunkelheit. Ein Atemzug, in dem die Stadt aufhört, zu flimmern.
Dann: Chaos.
Die Oberstadt steht still. Bildschirme schwarz, Fahrstühle tot, Drohnen wie eingefroren in der Luft. Die Menschen in den gläsernen Türmen schauen auf ihre Geräte, als wären sie plötzlich blind geworden.
Und wir?
Wir bewegen uns.
Ich laufe durch den Transitschacht unter Sektor 3. Pix an meiner Seite, schmutzig, wach, bereit. Hinter uns: zwanzig Schatten, schwer bewaffnet mit dem, was wir finden konnten. Selbstgebaut, gestohlen, improvisiert. Keine Uniform. Kein Symbol. Nur Schritte.
„Noch drei Minuten“, murmelt Pix.
Ich nicke. Mein Herz schlägt wie ein Alarm.
Unser Ziel: die Übertragungseinheit des Tribunals. Zentrum aller offiziellen Kommunikation. Was da rausgeht, wird geglaubt. Was da verstummt, wirft Fragen.
Wir stürmen nicht.
Wir fließen.
Über Lüftungsschächte, Servicegänge, Lücken im System, die Drey-12 hinterlassen hat wie offene Wunden.
Innen: kaum Widerstand. Die Sicherheitsprotokolle sind tot. Unsere Botschaft hat gewirkt. Die Techniker rennen. Die Elite ist noch im Dunkeln.
Wir erreichen den Sendesaal. Groß. Kalt. Eine Bühne aus Licht und Stille.
Pix zieht ein Kabel aus der Wand.
„Fünf Sekunden, dann sind wir live.“
Ich trete vor die Kamera.
Zähle.
Eins.
Zwei.
Drei.
„Ich bin Taniya Kalven.“
„Das hier ist keine Revolution. Keine neue Weltordnung. Keine Ideologie.“
„Das hier ist nur ein Fenster.“
„Ein Blick auf das, was ihr seid. Was ihr wart. Was ihr verloren habt.“
Ich zeige Bilder: Die Schattenkinder. Die Testlabore. Die Speicherzellen. Drey-12s Aufzeichnungen. Kodex 404. Gesicht für Gesicht. Beweis für Beweis.
„Ihr habt gedacht, ihr könnt uns löschen. Uns abspeichern. Uns umwandeln in Zahlen.“
„Aber wir sind zurück.“
Ich beende die Übertragung.
Dann der Knall.
Ein Schuss. Ich werde nach hinten gerissen. Glas splittert. Rauch. Pix schreit. Ich sehe Malik.
Er steht am Rand. Die Waffe in der Hand. Augen voller Krieg.
„Warum?“, frage ich.
Er sagt:
„Weil das Tribunal nicht stirbt. Es verändert sich nur.“
Ich greife nach etwas – irgendwas. Finde nichts. Nur Blut. Mein Blut.
Dann ein zweiter Schuss. Nicht von ihm. Von hinten.
Malik fällt.
Pix steht mit der Pistole da. Atemlos.
Ich lächle. Ganz kurz.
Wir stürzen uns raus. Keine Zeit. Überall Sirenen. Aber draußen: Menschen. Hunderte. Aus allen Sektoren. Keine Organisation. Kein Schlachtruf. Nur Gesichter, die nicht mehr weggucken.
Der Sturm ist da.
Ohne Flagge. Ohne Zentrum.
Nur ein Funken, der endlich brennt.
Kapitel 15 – Schwarzlicht
Ich stehe auf dem Dach des Sendeturms. Die Stadt unter mir – flackernd, zitternd, lautlos. Rauch steigt aus mehreren Sektoren auf, als hätte die Metropole beschlossen, ihre eigene Haut abzulegen.
Ich blute. Die Schulter pocht. Mein Atem geht flach. Aber ich stehe noch.
Pix lehnt an der Tür. Blick nach Westen, wo das Licht seltsam grau ist. Hinter ihr drei Kinder aus dem Schattenquartier. Sie sagen nichts. Brauchen sie auch nicht.
Die Frequenz ist offen. Noch immer. Niemand hat sie gekappt. Vielleicht haben sie es versucht. Vielleicht hat Raven doch ein letztes Mal den Stecker gezogen, irgendwo im toten Code.
Ich spreche nicht mehr. Nicht nötig. Ich bin sichtbar. Das reicht.
Die Kameras summen. Drohnen schwirren in der Ferne. Aber keiner greift ein.
Malik liegt irgendwo unten. Tot. Oder nicht. Ist egal.
Die Tribunin mit der weißen Maske? Verschwunden. Wie Rauch in einem Maschinenraum. Kein letzter Auftritt. Kein Finale. Nur Stille.
Das Tribunal hat keine Gesichter mehr. Nur Strukturen. Und selbst die beginnen zu bröckeln.
Ich spüre, wie etwas zu Ende geht.
Und etwas anderes beginnt.
Kein Applaus. Kein Sieg.
Nur eine Stadt, die die Augen aufschlägt.
Pix tritt neben mich.
„Und jetzt?“, fragt sie.
Ich ziehe die zerbrochene Speicherkarte aus meiner Tasche. Die letzte Spur meiner Mutter. Ihre Stimme – fragmentiert, flüchtig. Aber da.
Ich halte sie ins Licht.
Schwarzlicht.
Kein Glanz. Kein Schatten. Nur das, was bleibt, wenn alles andere weg ist.
„Jetzt“, sage ich,
„fangen wir an, zu erinnern.“
ENDE
(…oder der Anfang.)