Post für jemand anderen

Ich stehe an einer Straßenecke, die Luft schmeckt nach Asphalt und Abgasen. Der Himmel hängt tief, grau und schwer wie ein nasser Wollpullover. Menschen huschen vorbei, Gesichter verschwommen, als hätte jemand mit einem feuchten Lappen darübergewischt. Ich warte. Worauf? Keine Ahnung. Meine Finger spielen mit etwas in der Jackentasche. Ein Brief. Natürlich. Der Brief.
„Ist für jemand anderen“, murmle ich und taste die Kanten des Umschlags ab. Glatt, leicht gewellt an einer Ecke, als hätte jemand Kaffee drauf verschüttet. Kein Name drauf, nur eine Adresse in einer Handschrift, die mir vage bekannt vorkommt. Meine eigene vielleicht? Kann sein.
Ein Bus rumpelt heran, quietschende Bremsen, Türen schnappen auf wie ein hungriges Maul. Der Fahrer nickt mir zu, als wüsste er genau, wer ich bin. Ich steige ein. Riecht nach feuchter Wolle und altem Kaugummi. Die Sitze sind überraschend weich, als würden sie nachgeben, mich verschlucken wollen.
„Wohin?“, fragt der Fahrer. Seine Stimme klingt wie Kies, der über Metall geschoben wird.
„Dahin, wo der Brief hinsoll“, sage ich und zeige ihm den Umschlag.
Er lacht. Seine Zähne sind perfekt, zu perfekt für sein zerknittertes Gesicht. „Dann halten wir überall.“
Der Bus setzt sich in Bewegung. Wir gleiten durch Straßen, die ich gleichzeitig kenne und nicht kenne. Ein Gebäude sieht aus wie meine alte Schule, aber die Fenster sind an den falschen Stellen. Ein Park erinnert mich an den, in dem ich als Kind gespielt habe, aber die Bäume stehen zu dicht, wie aneinandergepresst.
Eine Frau steigt ein. Ihr Mantel ist blutrot, ihre Haare so schwarz, dass sie das Licht zu verschlucken scheinen. Sie setzt sich mir gegenüber und lächelt.
„Ist das für mich?“ Sie deutet auf den Brief.
Ich schaue auf den Umschlag in meiner Hand. „Weiß nicht. Könnte sein.“
„Woher willst du das wissen, wenn du nicht weißt, für wen er ist?“ Ihre Augen sind sehr dunkel, sehr groß.
„Guter Punkt.“
Sie lehnt sich zurück, kreuzt die Beine. Der rote Mantel rutscht beiseite, darunter trägt sie einen Anzug, dunkelgrau, maßgeschneidert. „Du solltest den Brief öffnen.“
„Kann ich nicht. Ist nicht für mich.“
„Wie willst du wissen, für wen er ist, wenn du ihn nicht öffnest?“
„Wieder ein guter Punkt.“ Ich drehe den Umschlag in meinen Händen. Er fühlt sich schwerer an als vorher. „Vielleicht steht drin, für wen er ist.“
Sie nickt, als hätte ich etwas sehr Kluges gesagt.
Der Bus hält an einer Kreuzung. Draußen rennt ein Hund vorbei, groß, zottelig, ohne Leine. Er blickt zum Bus herüber, direkt zu mir, und ich könnte schwören, er zwinkert.
Die Frau im roten Mantel ist verschwunden. Stattdessen sitzt ein alter Mann mir gegenüber. Seine Hände sind gefleckt, zittern leicht, als er auf den Brief deutet.
„Das Postamt ist die nächste Haltestelle“, sagt er. Seine Stimme klingt überraschend jung.
„Postamt?“
„Für Briefe, die keinen Empfänger haben. Oder für Empfänger, die keinen Brief erwarten.“
Der Bus hält. Die Türen öffnen sich mit einem Zischen. Der alte Mann ist fort. Der Fahrer dreht sich zu mir um. „Postamt“, sagt er. „Deine Haltestelle.“
Ich steige aus. Das Gebäude vor mir ist aus rotem Backstein, massiv, mit hohen Fenstern. Die Tür ist schwer, als ich sie aufdrücke. Drinnen: helles Licht, das von irgendwo kommt, aber keine sichtbaren Lampen. Ein langer Tresen aus poliertem Holz. Dahinter eine Wand voller Fächer, einige offen, andere verschlossen.
Hinter dem Tresen steht eine Person. Ich kann nicht sagen, ob Mann oder Frau. Die Gesichtszüge verschwimmen, sobald ich versuche, sie zu fokussieren. Die Uniform ist altmodisch, dunkelblau mit goldenen Knöpfen.
„Kann ich helfen?“ Die Stimme klingt wie viele Stimmen gleichzeitig, ein sanftes Durcheinander.
Ich lege den Brief auf den Tresen. „Ich weiß nicht, für wen der ist.“
Die Person nimmt den Brief, dreht ihn in den Händen wie ich zuvor. „Für jemand anderen“, sagt sie und nickt, als wäre das völlig normal.
„Ja, aber für wen?“
„Für den, der ihn braucht.“ Die Person lächelt, oder ich glaube, dass sie lächelt. Das Gesicht bleibt unscharf. „Willst du warten, bis er abgeholt wird?“
„Wie lange dauert das?“
Ein Achselzucken. „Minuten. Jahre. Schwer zu sagen.“
Ich setze mich auf eine Bank an der Wand. Das Holz ist warm, als hätte gerade jemand darauf gesessen. Neben mir liegt eine Zeitung. Die Überschriften wechseln, während ich hinschaue. „Verschollener Brief gefunden.“ Dann: „Unerwartete Nachricht verändert alles.“ Dann: „Du hast Post.“
Die Tür öffnet sich. Sonnenlicht flutet herein, obwohl es draußen eben noch grau war. Eine Gestalt im Gegenlicht, nur Umrisse. Kommt näher. Es ist… ich. Oder jemand, der aussieht wie ich, aber anders. Ältere Augen vielleicht. Oder jüngere. Schwer zu sagen.
Das andere Ich geht zum Tresen. Die Person dahinter reicht den Brief hinüber. Mein Doppelgänger nimmt ihn, wiegt ihn in der Hand, nickt, als hätte er genau das erwartet.
„Entschuldigung“, sage ich und stehe auf. „Ich glaube, das ist mein Brief.“
Das andere Ich dreht sich zu mir um. „Ist er für dich?“
„Nein, aber ich habe ihn hierher gebracht.“
„Für jemand anderen“, sagt mein Doppelgänger und lächelt. „Für mich.“
„Bist du jemand anderes?“
„Bin ich nicht du?“
Die Frage lässt mich innehalten. Bin ich ich? Und wenn ja, wer ist dann der andere? Wenn nein, wer bin ich dann?
„Darf ich ihn lesen?“, frage ich.
Mein Doppelgänger zuckt die Achseln, reicht mir den Brief. Ich öffne den Umschlag. Das Papier darin ist dünn, fast durchsichtig. Darauf steht in derselben vagen vertrauten Handschrift:
„Du musst aufwachen.“
Ich blicke auf. „Was bedeutet das?“
Mein Doppelgänger ist verschwunden. Die Person hinter dem Tresen auch. Das Postamt ist leer, staubig, verlassen. Durch die hohen Fenster fällt goldenes Licht, das Staubpartikel in der Luft tanzen lässt.
Auf dem Tresen liegt ein neuer Brief. Ich gehe hinüber, nehme ihn. Mein Name steht darauf, in meiner eigenen Handschrift, unverkennbar. Ich öffne ihn.
„Du schläfst noch.“
Die Wände des Postamts beginnen zu verschwimmen, zu schmelzen wie Wachs. Der Boden unter mir wird weich. Ich sinke ein, als würde ich in Sand oder Schnee treten. Die Decke löst sich auf, gibt den Blick frei auf einen Himmel, der keine Farbe hat, die ich benennen könnte.
Plötzlich stehe ich wieder an der Bushaltestelle. Die Luft riecht nach Regen, der gleich kommen wird. In meiner Hand halte ich zwei Briefe. Der eine ist an mich adressiert, der andere an „Jemand Anderen“.
Ein Taxi hält vor mir. Der Fahrer kurbelt das Fenster herunter. Es ist der Busfahrer von vorhin, aber jetzt trägt er einen Anzug und eine Sonnenbrille.
„Einsteigen“, sagt er. „Zeit für die Zustellung.“
Ich setze mich auf den Rücksitz. Das Taxi fährt los, schneller als ein Taxi fahren sollte. Die Straßen verschwimmen zu Streifen aus Licht und Farbe.
„Wohin fahren wir?“, frage ich.
„Zu deiner Adresse“, sagt der Fahrer und deutet auf den Brief in meiner Hand.
„Aber ich wohne nicht dort.“
„Noch nicht“, sagt er und lacht.
Wir halten vor einem Haus, das ich noch nie gesehen habe und trotzdem kenne. Weiße Wände, blaue Fensterläden, ein roter Briefkasten. Der Vorgarten ist voller Blumen, die es eigentlich nicht gleichzeitig geben sollte – Tulpen neben Sonnenblumen, Kirschblüten neben Weihnachtssternen.
„Wir sind da“, sagt der Fahrer.
Ich steige aus, gehe zum Briefkasten. Ein kleines Schild daran. „Für Jemand Anderen“, steht darauf. Ich werfe beide Briefe ein. Sie fallen mit einem Geräusch hinein, das viel zu laut ist für Papier.
Die Haustür öffnet sich. Eine Gestalt steht dort, im Schatten, nicht zu erkennen. Eine Hand winkt mich herein.
Ich gehe den Pfad entlang, durch duftende Blumen. Ein Kolibri schwebt vor meinem Gesicht, winzig und schillernd, unmöglich still. Seine Augen sind klug, fast menschlich. Er nickt mir zu und fliegt zur Tür voraus.
Die Gestalt im Türrahmen tritt beiseite, lässt mich eintreten. Drinnen ist es größer als es von außen scheint. Ein weiter Raum, holzgetäfelte Wände, hohe Decken. An den Wänden hängen Bilder von Orten, die ich besucht habe, und von Orten, die ich noch besuchen werde.
In der Mitte des Raumes steht ein Tisch. Darauf liegen Hunderte von Briefen, alle geöffnet. Um den Tisch herum sitzen Menschen. Ich kenne sie alle und kenne keinen. Sie blicken auf, als ich eintrete, nicken mir zu, als hätten sie mich erwartet.
„Die Post ist da“, sagt eine Frau am Kopfende des Tisches. Sie trägt den roten Mantel von früher.
„Ich habe sie in den Briefkasten geworfen“, sage ich.
„Wir wissen“, sagt sie. „Darum sind wir hier.“
„Wer seid ihr?“
„Die anderen“, sagt ein Mann zu ihrer Rechten. Er sieht aus wie der alte Mann aus dem Bus, aber jünger, kräftiger. „Für die der Brief bestimmt war.“
„Alle von euch? Es waren nur zwei Briefe.“
Sie lachen, ein warmes Geräusch, das den Raum zu füllen scheint. Die Frau im roten Mantel steht auf, kommt zu mir herüber. In ihrer Hand hält sie einen der Briefe, den mit meinem Namen.
„Lies“, sagt sie und reicht ihn mir.
Ich öffne den Brief erneut, obwohl ich ihn bereits geöffnet hatte. Diesmal steht etwas anderes darin: „Wir warten auf dich. Seit immer. Bis immer.“
„Ich verstehe nicht“, sage ich.
„Doch, tust du“, sagt die Frau. „Darum bist du hier.“
Sie führt mich zu einem freien Stuhl am Tisch. Ich setze mich. Vor mir liegt ein leeres Blatt Papier und ein Stift.
„Schreib“, sagt sie.
„Was?“
„Den nächsten Brief.“
Ich nehme den Stift. Er liegt schwer in meiner Hand, als wäre er aus Metall, nicht aus Plastik. Ich setze an zu schreiben, und die Worte fließen, als hätte jemand einen Hahn aufgedreht. Ich weiß nicht, was ich schreibe, bis ich fertig bin und zurücktrete.
„An mich selbst“, steht dort. Und darunter: „Vergiss nicht, dass wir alle jemand anderes sind.“
Die Frau im roten Mantel nimmt das Blatt, faltet es, steckt es in einen Umschlag. Sie versiegelt ihn mit Wachs, drückt ein Siegel darauf, das ich nicht erkennen kann.
„Zeit, es abzuschicken“, sagt sie.
„An wen?“
„An dich. An mich. An uns alle.“ Sie reicht mir den Brief. „Du musst ihn nur in den Briefkasten werfen.“
Ich stehe auf, gehe zur Tür. Draußen ist es jetzt Nacht. Der Garten leuchtet im Mondlicht, die Blumen scheinen silbern.
Der Briefkasten glüht leicht, ein sanftes Pulsieren wie ein Herzschlag. Ich werfe den Brief ein. Er fällt und fällt, ein Geräusch wie fallendes Wasser.
Der Himmel über mir reißt auf. Sterne, zu viele Sterne, unmöglich viele, fallen herab wie Regen. Jeder Tropfen ein Licht, jedes Licht ein Brief, jeder Brief eine Botschaft.
Sie landen um mich herum, öffnen sich von selbst. Aus jedem steigt ein Wort auf, leuchtet kurz in der Luft, verbindet sich mit den anderen zu einem Netz aus Bedeutung.
Ich verstehe plötzlich. Jeder Brief ist für jemand anderen. Und jeder von uns ist jemand anderes, abhängig von wer schaut, wer liest, wer versteht.
Die Wörter verdichten sich, werden zu einer Gestalt aus Licht. Meine Gestalt. Sie nickt mir zu, lächelt, breitet die Arme aus.
„Zeit, nach Hause zu gehen“, sagt sie mit meiner Stimme.
Ich trete auf sie zu, durch sie hindurch, werde selbst zu Licht.
Die Welt um mich zerfällt in Briefe, in Wörter, in Buchstaben, in Licht.
Ich erwache.
Das Zimmer ist dunkel, nur ein schmaler Streifen Mondlicht fällt durch einen Spalt in den Vorhängen. Neben dem Bett liegt ein Buch, aufgeschlagen, als wäre ich beim Lesen eingeschlafen. Auf meiner Brust liegt ein Umschlag. Ich öffne ihn mit zitternden Fingern.
Darin ein Zettel mit einem einzigen Wort: „Erinnere.“
Ich stehe auf, gehe zum Fenster, ziehe die Vorhänge beiseite. Draußen ist die Stadt, vertraut und fremd zugleich. In der Ferne ein Gebäude aus rotem Backstein. Das Postamt. Es leuchtet, obwohl es mitten in der Nacht ist.
An der Straßenecke hält ein Bus. Der Fahrer blickt zu meinem Fenster herauf, nickt mir zu.
Ich nicke zurück, weiß, dass morgen ein Brief kommen wird. Für jemand anderen. Für mich.