Morgen kommt Marie zurück

Die Bretagne hat eine seltsame Art, dich auszuziehen, Schicht für Schicht. Nicht im körperlichen Sinn – ich meine das, was in deinem Kopf passiert. Hier, wo der Wind immer ein bisschen zu stark bläst und die Straßen immer ein bisschen zu leer sind, bleibt nichts verborgen. Es gibt nichts, woran du dich ablenken kannst. Nur das Meer, die Häuser, die Leute. Und die Leute, na ja, die sind auch nicht besser als das Wetter: unberechenbar, meistens rau, manchmal mit einem Schimmer von Wärme, der dich mehr irritiert als tröstet.
Claire stand plötzlich in der Tür, ohne Vorwarnung. Marie hatte sich schon lange nicht mehr angewöhnt, die Tür abzuschließen, und ich hatte es übernommen – oder auch nicht, je nach Tagesform. „Du hast nicht abgeschlossen“, sagte sie, als müsste ich das erklärt bekommen.
„Ich wohne hier, nicht in Paris.“
„Ach ja, der Großstadtmensch spricht. Du bist schon fast ein richtiger Breton geworden, weißt du das?“
Sie grinste mich an, halb schelmisch, halb spöttisch, wie sie es immer tat. Claire konnte Dinge sagen, die bei jemand anderem beleidigend geklungen hätten. Bei ihr nicht. Nicht ganz.
„Marie ist nicht da“, sagte ich, obwohl sie das natürlich wusste.
„Ich weiß. Deshalb bin ich ja hier.“
Sie ließ sich ohne Einladung in den einzigen Sessel sinken, der halbwegs bequem war. Der Hund, der träge in der Ecke lag, hob nicht mal den Kopf. Claire stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Seufzen und einem Lachen lag.
„Ich frag mich, ob er fauler ist, wenn Marie weg ist, oder ob du ihn einfach ansteckst.“
„Der Hund ist einfach loyal“, sagte ich, und das klang weniger überzeugend, als ich wollte.
„Loyalität. Wie rührend.“
Sie kicherte. Es war das Kichern einer Frau, die nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen ist. Claire flirtete nicht mit dir, jedenfalls nicht so, wie man sich das vorstellt. Ihr Flirten war ein langsames Zerpflücken. Sie zog deine Fassade runter, Stück für Stück, bis du dasaßest, unsicher, ob du dich nackt oder frei fühlen solltest.
„Willst du Kaffee?“ fragte ich.
„Kaffee wäre ein Anfang.“
In der Küche drehte ich die Kaffeemaschine auf und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Claire redete, während sie mit dem Finger über die Kanten des Tisches strich. Ihre Stimme hatte diesen hellen, frechen Klang, der immer so tat, als hätte er gerade etwas zu sagen, das dir den Boden unter den Füßen wegziehen würde.
„Marie kommt morgen zurück, oder?“
„Ja.“
„Wirst du froh sein?“
„Natürlich.“
„Natürlich“, wiederholte sie. „Natürlich. Du bist so schlecht darin, zu lügen, weißt du das?“
„Ich lüge nicht.“
„Doch, tust du. Aber nicht überzeugend.“
Ich drehte mich um und sah sie an. Ihre Augen glitzerten. Die Art von Glitzern, die dich fragen lässt, ob sie etwas weiß, was du nicht weißt, oder ob sie einfach nur genießt, dass du dich unwohl fühlst.
„Claire“, sagte ich, „was willst du wirklich?“
„Im Moment? Kaffee. Vielleicht ein bisschen Unterhaltung.“
„Unterhaltung?“
„Ja. Weißt du, du bist überraschend interessant, wenn du nicht versuchst, dich zu verstecken.“
Der Kaffee war fertig. Ich stellte ihre Tasse vor sie hin und setzte mich auf die andere Seite des Tisches. Ihre Hand, die die Tasse hielt, war schmal, die Nägel kurz und mit abgesplittertem Lack. Sie wirkte immer ein bisschen wie jemand, der sich mitten im Gehen entschieden hatte, doch zu bleiben.
„Also, erzähl mir was“, sagte sie.
„Was denn?“
„Was auch immer. Was du denkst, wenn du hier sitzt und aufs Meer starrst. Warum du immer noch hier bist. Warum Marie dich mit dem Hund allein lässt.“
„Vielleicht vertraut sie mir.“
„Vielleicht.“
Sie trank einen Schluck und verzog das Gesicht. „Zu heiß.“
Ich lehnte mich zurück und beobachtete, wie sie die Tasse auf den Tisch stellte, wie sie ihren Blick von der Kaffeetasse zu mir hob. Es war ein Blick, der zu viele Fragen enthielt, und ich hatte keine Lust, sie zu beantworten.
„Marie macht sich Sorgen um dich“, sagte sie schließlich.
„Marie macht sich um alles Sorgen.“
„Aber besonders um dich.“
„Und deshalb hat sie dich geschickt?“
„Ich bin nicht ihre Spionin. Ich bin ihre Freundin.“
„Und meine?“
Sie lächelte, dieses langsame, spöttische Lächeln, das nichts verriet. „Vielleicht.“
Wir saßen eine Weile schweigend da, während der Hund in der Ecke schnarchte und der Wind gegen die Fensterläden rüttelte. Claire stand irgendwann auf, nahm ihre Zigarette aus der Tasche und zündete sie an.
„Das sollte ich nicht drinnen machen“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu mir.
„Marie würde dich umbringen.“
„Und du?“
„Ich bin nicht Marie.“
„Das weiß ich.“
Sie öffnete das Fenster einen Spalt, lehnte sich dagegen und blies den Rauch in die Nacht. Der Geruch von Tabak mischte sich mit der salzigen Luft, und ich hatte diesen seltsamen Moment, in dem ich nicht sicher war, ob ich wütend oder beruhigt sein sollte. Claire hatte diese Wirkung auf mich, wie ein Sturm, der die Luft reinigt und gleichzeitig alles durcheinanderbringt.
„Du solltest öfter rausgehen“, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
„Ich gehe raus.“
„Nicht wirklich.“
Ich hatte keine Antwort darauf. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht hatte sie unrecht. Es war egal. Sie ließ die Zigarette fallen, zertrat sie mit einem leichten Druck ihres Fußes und schloss das Fenster.
„Morgen kommt Marie zurück“, sagte sie, fast beiläufig.
„Ja.“
„Dann brauchst du mich ja nicht mehr.“
„Ich habe dich nicht gebraucht.“
„Nein, hast du nicht.“
Sie lächelte, dieses schiefe Lächeln, das immer mehr andeutete, als es sagte. Und ich wusste, dass sie gehen würde, bevor ich herausfinden konnte, was sie wirklich wollte.
„Marie ist ein bisschen langweilig, findest du nicht?“ Sie ließ sich in den Stuhl mir gegenüber fallen und zog an der Zigarette, als wäre das die natürlichste Sache der Welt, obwohl sie drinnen eigentlich nie rauchte. Der Geruch von Tabak mischte sich mit dem säuerlichen Duft des Cidres.
„Sie ist nicht langweilig“, sagte ich schließlich. Es klang lahm, selbst in meinen Ohren.
„Nein?“ Claire grinste. „Natürlich nicht. Sie ist solide. Vernünftig. Vertrauenswürdig.“ Sie zog das letzte Wort in die Länge, als wäre es etwas besonders Lächerliches.
„Besser als das Gegenteil.“ Ich trank einen Schluck, ohne sie anzusehen. Das war ein Fehler. Claire hasste es, ignoriert zu werden.
„Vielleicht.“ Sie ließ die Zigarette in meinem leeren Aschenbecher verschwinden und lehnte sich vor, ihre Ellenbogen auf den Tisch gestützt. „Aber komm schon. Manchmal willst du doch auch einfach… mehr.“
„Mehr?“ Ich hob eine Augenbraue.
„Ja, mehr.“ Ihre Stimme war weich, fast wie ein Flüstern. „Ein bisschen Chaos. Ein bisschen Unvernunft. Ein bisschen Spaß.“
„Du meinst, wie du es immer machst?“
„Genau. Wie ich.“ Sie lächelte, und es war dieses gefährliche Claire-Lächeln, das dir das Gefühl gab, dass du etwas Wichtiges verpassen würdest, wenn du jetzt nicht mitspielst.
Ich wusste, dass ich hätte, nein sagen sollen. Aber das Problem mit Claire war, dass sie dich nicht fragte. Sie zog dich einfach mit. Und ehe du es merkst, bist du mittendrin.
—
Eine Stunde später saßen wir in ihrem klapprigen Renault, der nach altem Leder und Zigaretten roch. Der Hund lag auf dem Rücksitz, die Ohren flach, als wüsste er, dass das keine gute Idee war. Vielleicht war er klüger als ich. Der Wind peitschte gegen die Scheiben, und der Regen begann gerade, als wir die Küstenstraße entlangfuhren.
„Und wohin genau fahren wir?“ fragte ich, mehr aus Gewohnheit als aus echtem Interesse. Claire war nicht die Sorte Mensch, die dir eine ehrliche Antwort geben würde.
„Nur ein bisschen raus. Du brauchst frische Luft.“
„Mitten in der Nacht?“
„Genau dann. Frische Luft ist nachts besser.“ Sie schaltete das Radio ein, irgendein alter Chanson, der sich mit dem Brummen des Motors vermischte. Sie warf mir einen Blick zu, kurz, aber voller Bedeutung. „Du vertraust mir doch, oder?“
„Nicht mal ansatzweise.“
„Gut.“ Sie lachte, und es war das Lachen von jemandem, der wusste, dass sie am längeren Hebel saß.
Wir hielten an einem verlassenen Strand, der von Klippen eingerahmt war, die im Scheinwerferlicht wie riesige, drohende Schatten wirkten. Der Wind war eisig, und der Regen hatte inzwischen aufgehört, hinterließ aber eine feuchte Schwere in der Luft. Claire sprang aus dem Wagen, als hätte sie auf nichts anderes gewartet, während ich mich langsam aus dem Sitz schälte.
„Du bist verrückt“, sagte ich, als sie barfuß durch den Sand lief, den Hund im Schlepptau. Sie drehte sich um, ihr Haar wild im Wind, und lachte wieder.
„Vielleicht. Aber du bist hier. Also, was sagt das über dich?“
Ich hatte keine Antwort darauf. Stattdessen folgte ich ihr, meine Schuhe in der Hand, während der Sand kalt und krümelig zwischen meinen Zehen war. Der Hund bellte, jagte irgendeinem unsichtbaren Ziel hinterher, während Claire Richtung Wasser ging, das in der Dunkelheit wie flüssiges Schwarz aussah.
„Das Meer ist immer anders, weißt du?“ sagte sie, ohne sich umzudrehen. „Egal, wie oft du hierherkommst, es überrascht dich immer.“
„Das ist es, was dich hier hält?“
„Vielleicht.“ Sie blieb stehen, gerade weit genug vom Wasser entfernt, dass es sie nicht erreichte. „Oder vielleicht halte ich es hier.“
„Das ergibt keinen Sinn.“
„Nicht alles muss Sinn ergeben.“ Sie drehte sich zu mir um, ihr Gesicht im Mondlicht seltsam ernst. „Manchmal reicht es, einfach da zu sein. Einfach zu fühlen.“
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Claire hatte diese Fähigkeit, Dinge zu sagen, die gleichzeitig tief und komplett unsinnig waren. Bevor ich eine Antwort finden konnte, zog sie mich plötzlich am Arm, näher ans Wasser. Es war kalt, und ich wollte protestieren, aber sie sah mich mit diesem Blick an, der keine Widerrede zuließ.
„Du denkst zu viel“, sagte sie.
„Und du denkst zu wenig.“
„Das ist der Unterschied zwischen uns.“
Ich lachte, obwohl es nicht wirklich lustig war, und ließ mich von ihr weiterziehen. Wir standen da, während die Wellen an unseren Füßen leckten, und für einen Moment war alles still. Kein Wind, keine Stimmen, nur das Geräusch des Wassers und das gelegentliche Bellen des Hundes.
„Claire“, begann ich, aber sie schüttelte den Kopf.
„Sag nichts. Denk nicht. Sei einfach.“
Und für einen Moment tat ich genau das. Ich war einfach da, in der Kälte, im Wind, mit Claire, die zu nah und zu fern zugleich war. Es war einer dieser Momente, die du nie ganz verstehst, aber trotzdem für immer mit dir herumträgst.
Der Moment hielt länger, als er sollte. Claire war nah, viel zu nah, und trotzdem hatte ich nicht den Impuls, zurückzuweichen. Ihr Gesicht war im fahlen Licht weichgezeichnet, die Konturen fast verschwommen, aber die Intensität in ihren Augen war scharf wie ein Messer. Sie sagte nichts, bewegte sich nicht, aber die Luft zwischen uns war plötzlich so dicht, dass ich dachte, ich müsste nach Atem ringen.
Der Hund bellte irgendwo hinter uns, aber das war nur ein entferntes Echo. Die Welt hatte sich auf uns zwei reduziert: Claire und mich, der Wind und die Wellen.
„Du denkst immer noch zu viel“, sagte sie leise. Ihre Stimme war anders, sanfter, beinahe ernst. Ihre Hand fand meinen Arm, nicht grob, sondern vorsichtig, fast zögerlich. Und ich? Ich ließ es zu. Mehr noch, ich spürte, wie ich mich ihr entgegenlehnte, obwohl in meinem Kopf ein Alarm losging. Das hier war falsch. Aber es war auch unvermeidlich.
„Claire, ich–“ begann ich, aber sie schüttelte erneut den Kopf, dieses Mal mit einem leichten Lächeln, das mehr Traurigkeit als Freude trug.
„Sag nichts“, flüsterte sie. Und bevor ich mir überlegen konnte, ob ich es trotzdem tun sollte, war sie da, ihre Lippen auf meinen, ihre Hände an meinem Gesicht. Es war kein hastiger Kuss, kein Sturm aus Leidenschaft. Es war leise, fast vorsichtig, aber genau deshalb drang er tiefer, als ich wollte.
Ich hätte sie wegstoßen sollen. Ich hätte stehenbleiben und erklären müssen, dass das ein Fehler war. Dass ich Marie liebte, dass ich nicht dieser Typ war. Aber ich tat nichts davon. Stattdessen küsste ich zurück, und es fühlte sich an, als ob ich an einen Ort zurückkehrte, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn je verlassen hatte.
Ihre Hände wanderten zu meinem Nacken, und wir standen da, mitten im Sand, während die Wellen uns umspülten. Der Hund hatte aufgehört zu bellen und saß jetzt still in der Ferne, wie ein stiller Zeuge, der mehr wusste, als er sollte. Die Welt verschwamm, und ich dachte nicht mehr. Für einen kurzen Moment war ich einfach. Nur da, mit Claire.
Später, als wir zurück im Auto saßen, war die Stille zwischen uns schwer. Claire hatte den Motor noch nicht gestartet, und der Regen trommelte auf das Dach, als hätte der Himmel beschlossen, die Worte zu sagen, die keiner von uns herausbrachte. Der Hund lag auf dem Rücksitz, den Kopf auf die Pfoten gelegt, als wüsste er, dass etwas passiert war, was besser ungeschehen bliebe.
„Du bereust es schon, oder?“ Claires Stimme war leise, ohne Vorwurf, ohne Bitten. Einfach nur eine Feststellung.
Ich starrte aus dem Fenster, den Blick auf die Klippen gerichtet, die im Dunkeln kaum zu sehen waren. „Ja“, sagte ich schließlich, und das Wort fühlte sich wie ein Messer an, das ich in uns beide rammte.
Sie nickte, ein fast unsichtbares Zucken ihrer Schultern. „Das hab ich mir gedacht.“
„Claire…“ Ich drehte mich zu ihr um, aber sie schüttelte den Kopf.
„Ist schon okay“, sagte sie, und dieses Mal war ihr Lächeln ein Schutzschild, glatt und unüberwindbar. „Du musst nichts sagen. Ich wusste, worauf ich mich einlasse.“
„Das macht es nicht besser.“
„Vielleicht nicht.“ Sie startete den Wagen und schaltete das Radio wieder ein. Ein anderer Chanson, leise und melancholisch, füllte die Stille. „Aber ich bin’s gewohnt.“
Die Fahrt zurück war eine Ewigkeit und ein Augenblick zugleich. Wir sprachen nicht, und ich wusste, dass es auch nichts zu sagen gab. Claire war, was sie war: ein Sturm, der kam und ging, ohne Rücksicht auf die Trümmer, die er hinterließ. Und ich war einer dieser Trümmer. Ein kleiner, zerbrochener Teil von mir wusste, dass ich immer sein würde.
Als wir ankamen, stieg ich aus, ohne ein weiteres Wort. Der Hund sprang hinter mir her, seine Schritte leise auf dem nassen Boden. Claire blieb im Auto, ihre Finger fest um das Lenkrad gekrallt. Ich drehte mich nicht um. Es gab keinen Grund.
Später, als ich allein im Bett lag, roch ich noch immer nach ihr. Der Wind wehte durch das offene Fenster, und ich starrte in die Dunkelheit, die wie ein schwarzes Loch alles zu verschlingen schien. Ich dachte an Marie, an ihren Geruch nach Lavendel und an ihre ruhige Stimme, die mich immer geerdet hatte. Und ich dachte an Claire, an ihren Sturm und ihre Augen, die mich wie ein Rätsel ansahen, das sie längst gelöst hatte.
Ich schloss die Augen, aber der Schlaf kam nicht.