Mit Claire
Die Nacht war noch jung, aber das Dorf schlief schon. Das tat es immer, wenn es regnete. Selbst die Hunde schienen sich vor dem Nieselregen zu verstecken, der wie ein unsichtbarer Schleier alles bedeckte. Ich zog die Schultern hoch und stopfte die Hände tiefer in die Taschen meiner Jacke. Der Wind hatte eine feuchte Schärfe, die durch die Stoffschichten drang und sich auf der Haut festsetzte.
Clair wartete unter der Laterne am Marktplatz, die flackerte wie ein schwacher Herzschlag. Sie rauchte. Natürlich rauchte sie. Ihre Zigarette glühte in der Dunkelheit, das einzige warme Licht weit und breit.
„Du bist spät“, sagte sie, als ich näherkam.
„Ich bin immer spät.“
„Das ist wahr.“ Sie blies den Rauch in die kühle Nachtluft, und er verwandelte sich in ein Gespenst, das sich schnell auflöste. „Aber ich dachte, vielleicht überrascht du mich mal.“
„Vielleicht beim nächsten Mal.“
Clair lachte leise, ein Geräusch, das mehr nach Husten klang. Sie war in ein dickes, grobes Tuch gehüllt, das an den Schultern von der Feuchtigkeit schwer geworden war.
„Wohin jetzt?“ fragte ich.
„Irgendwohin. Hauptsache nicht hier.“
Das war immer ihre Antwort. Irgendwohin. Hauptsache nicht hier. Ich hatte nie gefragt, wo „hier“ für sie begann und wo es aufhörte. Vielleicht war es das ganze Dorf. Vielleicht nur die leeren Stunden zwischen ihren Schichten im „Le Petit Rien“.
Wir liefen los, die Kopfsteinpflasterstraßen hinunter, vorbei an den geschlossenen Fensterläden und den stillen Häusern. Der Regen war kaum mehr als ein Hauch, aber er war überall, kroch in die Haare, in die Falten der Haut. Clair zog ihre Zigarette aus dem Mund, schnippte sie in eine Pfütze.
„Hast du von Marie gehört?“ fragte sie plötzlich.
Ich blieb stehen. Sah sie an. Ihre Augen waren schwer zu lesen, grün wie das Wasser in den alten Hafenbecken, wenn das Licht darauf fiel.
„Warum fragst du?“
„Nur so.“
„Lüg mich nicht an, Clair.“
Sie lachte wieder, ein kurzes, scharfes Geräusch. „Okay. Ich hab sie gesehen. Heute Morgen. Sie war beim Bäcker.“
„Und du hast nichts gesagt?“
„Was hätte ich sagen sollen?“ Clair zuckte mit den Schultern. „Sie sah nicht so aus, als wollte sie reden. Außerdem …“
„Außerdem was?“
„Nichts.“ Sie drehte sich um, lief weiter. Ich folgte ihr, Schritt für Schritt, das Geräusch unserer Schuhe hallte in der stillen Straße wider.
Marie war wieder da. Das war alles, was zählte. Das war auch alles, was ich nicht wissen wollte.
Wir kamen an den Rand des Dorfes, wo die Straße in einen schmalen Pfad überging, der zum Strand führte. Die Luft war salziger hier, und der Wind stärker. Ich konnte die Wellen hören, auch wenn ich sie nicht sehen konnte.
Clair setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und zog eine neue Zigarette aus ihrer Tasche. „Setz dich“, sagte sie.
„Es ist nass.“
„Und? Bist du aus Zucker?“
Ich setzte mich. Der Stamm war feucht und kalt, und ich fühlte, wie die Nässe durch meine Jeans sickerte. Clair zündete ihre Zigarette an, hielt mir die Packung hin.
„Nein, danke.“
„Du solltest anfangen.“
„Warum?“
„Weil es beruhigt.“
„Dich vielleicht.“
„Vielleicht.“
Wir saßen da, schweigend, während die Wellen in der Ferne gegen die Felsen schlugen. Die Dunkelheit war schwer, fast greifbar, nur unterbrochen vom schwachen Glühen ihrer Zigarette.
„Warum bist du noch hier?“ fragte sie plötzlich.
„Weil ich nirgendwo sonst hinkann.“
„Das ist eine schlechte Ausrede.“
„Vielleicht. Aber sie reicht.“
Clair schnaubte, zog an ihrer Zigarette. „Du bist wie Jean.“
„Wie bitte?“
„Immer in der Vergangenheit. Immer bei dem, was war. Nie bei dem, was ist.“
„Und was ist jetzt?“
„Regen. Dunkelheit. Wir beide auf einem nassen Baumstamm.“
Ich lachte leise. Sie hatte recht. Natürlich hatte sie recht. Aber das machte es nicht besser.
„Und du?“ fragte ich. „Warum bist du noch hier?“
„Ich mag den Regen.“
„Das ist alles?“
„Das ist genug.“
Wir schwiegen wieder. Der Wind wurde stärker, und ich zog meine Jacke enger um mich. Clair war unbeeindruckt, ihre Haare flatterten im Wind, und sie wirkte fast wie ein Teil der Landschaft – unaufhaltsam, rau, schön auf eine Art, die wehtat.
„Was machst du, wenn sie dich sieht?“ fragte sie schließlich.
„Marie?“
„Wer sonst?“
„Ich weiß es nicht.“
„Lüg mich nicht an.“
„Vielleicht sage ich nichts.“
„Das klingt nach dir.“
Ich stand auf, steckte die Hände wieder in die Taschen. Clair sah mich an, die Zigarette hing lose in ihren Fingern.
„Gehst du?“
„Vielleicht.“
„Vielleicht ist eine schlechte Antwort.“
„Es ist die Einzige, die ich habe.“
Ich drehte mich um, lief den Pfad zurück, das Geräusch der Wellen folgte mir wie ein stummer Zeuge. Clair rief mir etwas nach, aber der Wind trug es davon, bevor ich es verstehen konnte.
Zurück im Dorf waren die Straßen noch stiller, als wäre das Leben selbst eingeschlafen. Ich blieb vor dem Bäcker stehen, sah durch das kleine Fenster. Alles dunkel, natürlich.
Marie war hier gewesen. Heute Morgen. Vielleicht würde sie morgen wiederkommen. Vielleicht würde sie bleiben.
Oder vielleicht auch nicht.
Ich schob die Hände tiefer in die Taschen, zog die Schultern hoch. Der Regen wurde wieder stärker, und ich lief weiter. Immer geradeaus.