Mit Clair und Jean im Le Petit Rien

Das „Le Petit Rien“ war klein, schäbig und immer ein bisschen zu dunkel, selbst am helllichten Tag. Clair mochte es. Oder sie tat so, weil sie hier arbeitete. Für mich war es nur ein weiterer Ort, um Zeit totzuschlagen. Jean saß schon an seinem Platz, der alte Kapitän ohne Schiff, mit dem Gesicht wie aus getrockneter Algenhaut.
„Du bist spät“, sagte er, ohne mich anzusehen, während er an seinem Glas nippte.
„Und du bist immer hier. Ausgleich der Kräfte.“
Clair war hinter der Bar, fummelte an einer Kaffeemaschine, die genauso alt aussah wie Jean. Sie warf mir einen kurzen Blick zu, hob eine Augenbraue. „Bist du auch mal pünktlich?“
„Wenn es sich lohnt.“
Jean lachte kurz, ein trockenes, keuchendes Geräusch, das mehr Husten als Lachen war. Er stellte das Glas ab, drehte es ein paarmal zwischen den Händen. „Hast du von Marie gehört?“ fragte er schließlich.
„Nein.“
„Kommt sie zurück?“
„Vielleicht.“
„Vielleicht ist wie nie“, brummte er und nahm wieder einen Schluck.
Ich zuckte mit den Schultern, zog die Jacke aus und setzte mich. Der Geruch von Kaffee und altem Holz hing in der Luft, dazu ein Hauch von Clairs Parfum, das immer ein bisschen zu süß war. Sie stellte mir ein Glas hin, ohne zu fragen, und setzte sich auf den Hocker neben mir.
„Jean hat recht“, sagte sie. „Vielleicht ist keine Antwort.“
„Was willst du hören? Dass sie nicht zurückkommt? Dass ich es weiß?“
„Vielleicht nur, dass du es nicht weißt.“
Ich trank einen Schluck, sah sie an. Ihr Blick war ruhig, fast herausfordernd. Jean grinste in seinen Bart hinein, als würde er den Ausgang dieses Gesprächs schon kennen.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich schließlich.
„Na also.“ Clair lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und lächelte. „Das war doch gar nicht so schwer.“
Jean klopfte auf den Tisch. „Das Meer, Junge. Das Meer weiß alles.“
„Dann frag es doch“, sagte ich, und er lachte wieder, dieses Mal ein bisschen ehrlicher.
Die Tür ging auf, ein Schwall kalter Luft und Nieselregen fegte durch den Raum. Ein Tourist, vermutlich, mit dieser Jacke, die mehr nach Katalog als nach Wetter aussah. Clair ignorierte ihn, aber Jean musterte ihn mit einer Mischung aus Abscheu und Langeweile. Der Mann bestellte einen Kaffee, setzte sich an den Tresen und zog ein zerknittertes Buch aus seiner Tasche.
„Was liest du da?“, fragte Clair, mehr aus Höflichkeit als Interesse.
„Proust“, sagte der Mann, mit einem Ton, der förmlich „gebildet“ schreien wollte.
Jean schnaubte. „Proust“, murmelte er, als wäre das ein Schimpfwort.
„Lass ihn“, sagte ich.
„Lass ihn? Der Kerl sitzt hier und liest Proust, während das Meer draußen Geschichten schreibt, die besser sind.“
Der Tourist sah kurz auf, dann wieder in sein Buch. Clair lächelte ein wenig, schüttelte den Kopf. „Manchmal bist du echt ein Esel, Jean.“
„Und manchmal hast du recht.“
Es war still für eine Weile, nur das leise Klappern von Tassen und das regelmäßige Ticken der Wanduhr. Ich sah hinaus in den Regen, der die Fenster hinunterlief, als wollte er das Innere des „Le Petit Rien“ auslöschen.
„Marie hat hier mal gesessen“, sagte ich plötzlich, ohne zu wissen, warum.
„Wann?“ Clair warf mir einen Blick zu, interessiert, aber nicht zu aufdringlich.
„Vor einem Jahr vielleicht. Oder zwei.“
„Und?“
„Nichts. Sie hat nichts gesagt. Nur gesessen, getrunken, rausgeschaut.“
„Das klingt wie du.“
„Vielleicht.“
Jean hob sein Glas, als wollte er einen Trinkspruch machen. „Auf die Frauen, die gehen.“
„Und die, die bleiben“, ergänzte Clair.
„Gibt’s die?“ fragte ich, mehr zu mir selbst als zu ihnen.
Clair lächelte wieder, dieses Mal ein bisschen traurig. „Manchmal.“
Der Tourist legte sein Buch weg, zahlte und verschwand wieder in den Regen. Jean sah ihm nach, als hätte er eine Fliege verscheucht.
„Und du?“, fragte Clair plötzlich.
„Was?“
„Bleibst du?“
Ich sah sie an, ihre Augen, die so grün waren wie die Algen an den Felsen, wenn das Wasser sich zurückzog. Sie sah nicht weg, hielt meinem Blick stand, und ich wusste nicht, was sie erwartete.
„Vielleicht“, sagte ich schließlich, und sie lachte leise.
„Vielleicht ist besser als nichts.“
Jean klopfte wieder auf den Tisch, dieses Mal mit mehr Nachdruck. „Das Meer, Junge. Das Meer nimmt, und es gibt. Du musst nur warten.“
„Worauf?“
„Das weiß nur das Meer.“
Ich trank mein Glas leer, stellte es ab. Clair nahm es wortlos, ging zurück zur Bar. Jean drehte sein eigenes Glas wieder zwischen den Händen, das Geräusch der sich bewegenden Flüssigkeit füllte die Stille.
Draußen war der Regen stärker geworden, die Straßen glänzten nass, und das Licht der Laternen spiegelte sich darin. Ich stand auf, zog die Jacke wieder an.
„Gehst du?“, fragte Clair, ohne mich anzusehen.
„Ja.“
„Vielleicht sieht man sich.“
Ich zuckte mit den Schultern, zog die Kapuze über den Kopf. Der Regen fühlte sich schwer an, als ich nach draußen trat, fast wie ein Druck auf den Schultern.
Marie war immer wie dieser Regen gewesen, dachte ich. Unaufhaltsam, schwer, aber irgendwie auch reinigend.
Vielleicht hatte Jean recht. Vielleicht wusste das Meer, was ich nicht wusste. Aber es sagte nichts. Nur das gleichmäßige Rauschen, immer dasselbe, egal, wer blieb oder ging.