As Time Goes By
Maliya jenseits der Mauer
Ich stand wieder da.
Gleiche Stelle wie gestern, vorgestern, letzte Woche. Rechte Schulter an der Wand, linker Fuß leicht angehoben, Zigarette zwischen den Fingern, die mehr Deko war als Bedürfnis. Der Beton hinter mir war rau, stellenweise abgeplatzt, grau in all seinen Nuancen, vom Regen durchzogen, von der Zeit zerfressen. Ich mochte diese Wand. Sie war ehrlich. Keine Fassade. Nur Wand. Weiterlesen
Nora – Das dritte Zeichen
Das erste Mal hör ich es um 03:16.
Kein Tier, kein Wind, kein normaler Fehler.
Ein Schaben. Als würde jemand mit einem Schlüssel an der Außenwand kratzen. Nur dass es draußen keine Schlüssel gibt. Nur Nebel, Beton und das, was wir nicht benennen sollen.
Ich bleib noch einen Moment liegen. Starre an die Decke. Der Lüfter in der Ecke schnarrt wie immer. Irgendwo tropft was, wahrscheinlich die Kaffeestation. Ich versuch’s zu ignorieren.
Funktioniert nicht. Weiterlesen
Rebellion
Ich stehe auf dem Balkon des 84. Stocks. Unter mir glänzt der Dunst wie flüssiger Stahl. Die Stadt dampft. Irgendwo da unten schreit einer, aber hier oben klingt es wie Wind in der Klimaanlage. Ich ziehe an der Zigarette, obwohl ich längst aufgehört habe. Angeblich.
Meine Hand zittert nicht. Das war mal anders. Weiterlesen
Mia zu den Sternen
Der Scheinwerfer schlägt mir ins Gesicht wie eine geöffnete Ladeluke. Weiß. Heiß. Ich blinzele zweimal, dann ist da nur noch das Rauschen im Ohr – wie Druckausgleich in einer viel zu engen Kabine. Der Boden unter meinen nackten Füßen fühlt sich an wie gefrorener Beton, aber irgendein Praktikant behauptet, das sei «Industrie-Epoxid, voll im Trend». Soll er doch drauf tanzen.
„Mia, Tor A in dreißig Sekunden!“ ruft jemand hinter mir. Die Stimme kratzt, als hätte sie Sand im Hals. Ich antworte nicht, hebe nur die Hand, Zeigefinger kurz nach oben. Funkstille. Weiterlesen
Jenna in der Stadt
Ich kam von Osten, wo die Felder längst aufgegeben hatten. Das Gras war da nur noch Erinnerung, verbrannt und gebleicht wie alte Zeitung. Die Straße, wenn man das noch so nennen konnte, war gerissen, vom Frost zerfetzt. Ich trat mit den Stiefeln auf Asphalt, der wie faules Brot unter mir brach. Kein Geräusch außer meinen eigenen Schritten. Und das Krächzen meines Rucksacks, wenn ich den Rücken durchstreckte.
Die Stadt lag vor mir wie ein Tier, das tot wirkte, aber vielleicht nur schlief. Kein Rauch, kein Licht. Nur Silhouetten. Häuser ohne Fenster, Dächer wie ausgefranste Mäuler. Ich dachte, sie atmen. Vielleicht war das nur der Wind. Vielleicht auch nicht. Weiterlesen
Kiara – Im Rücken der Brandung
Ich stand da, wo das Land aufhört.
Da, wo das Gras zu scharf wächst, das Salz in den Poren beißt und der Wind einem das Denken abgewöhnt. Nichts als Klippen, schiefergrau und bockig, als wollten sie nicht mehr sein. Und unten das Meer, hungrig wie eh und je.
Die alten Bretonen sagen, hier hört man das Echo der Toten. Ich hörte nur das Kreischen der Möwen und meine eigenen, müden Gedanken.
Das Haus meiner Großmutter lag hundert Schritte hinter mir. Ein kantiger Brocken aus Granit, windschief, das Dach moosgrün gefleckt. Die Fenster wie blinde Augen, stumm seit dem Tag, an dem sie nicht mehr aufstand. Weiterlesen
Neonherz
Die Nacht begann nicht mit einem Sonnenuntergang, sondern mit einem flackernden Licht.
Ein weißblaues Leuchten zitterte über die regennasse Straße wie ein elektrischer Herzschlag. Lia stand einen Moment still, als würde sie der Stadt erlauben, sie zu erkennen – oder zu übersehen. Ihre Haare hingen schwer auf den Schultern, vom Nebel durchtränkt. Ihr Blick war geradeaus gerichtet, doch in ihren Augen spiegelte sich etwas, das nicht da war: Erinnerung oder Vorahnung – vielleicht beides.
Der Club war kein Ort, sondern ein Zustand. Keine Adresse, sondern ein Gefühl. Man fand ihn nicht – er fand dich.
Drinnen war die Musik wie ein Stromstoß. Menschen wie Schatten, flüchtig, ohne Gewicht. Lia schob sich durch sie hindurch, unberührt, unbewegt. Sie war nicht gekommen, um zu tanzen. Sie war gekommen, um sich zu vergessen. Weiterlesen
Das Gespräch auf der Parkbank
Ich sitze auf einer Parkbank und spüre die Frühlingssonne auf meinem Gesicht. Nicht zu heiß, nicht zu kalt – genau richtig. So ein Wetter ist selten. Meistens ist es zu irgendwas. Zu windig, zu schwül, zu was auch immer. Aber heute ist es einfach nur gut.
Vor mir liegt der Teich. Enten gleiten über die Wasseroberfläche, machen dieses typische Enten-Ding, wo sie den Hintern in die Luft strecken und mit dem Kopf untertauchen. Hat was Komisches. Werde nie verstehen, warum ich das so lustig finde. Weiterlesen
Das falsche Büro
Ich stehe wie jeden Morgen vor dem vertrauten grauen Betonklotz, der sich mein Arbeitsplatz nennt. Leicht verkatert, wie so oft am Dienstag, weil Montagabend immer diese bescheuerte Happy Hour im „Letzten Versuch“ ist. Vier Euro für ein Bier, das ist nicht wirklich happy, aber besser als der Rest der Woche.
Das Gebäude steht wie immer da. Neun Stockwerke grauer Beton, Fenster im Schachbrettmuster, die Glastüren am Eingang. Aber irgendwas ist seltsam. Vielleicht das Licht? Es scheint schräg auf die Fassade zu fallen, als käme die Sonne aus der falschen Richtung. Unsinn, natürlich. Die Sonne kann nicht einfach beschließen, woanders aufzugehen. Weiterlesen
Das Missverständnis
Ein Kaffee vorher wäre gut. Ich biege in eine Seitenstraße ein, wo ein kleines Café liegt, das ich noch nie besucht habe. Irgendwas mit „Bohne“ im Namen. Die Tür knarzt, als ich sie aufdrücke. Drinnen ist es warm und riecht nach frisch gemahlenem Kaffee und Zimt. Der Boden ist aus dunklem Holz, abgetreten von tausenden Schritten. An den Wänden hängen vergilbte Poster von Jazzkonzerten.
Eine Frau hinter der Theke blickt auf. Sie hat graumeliertes Haar, zu einem unordentlichen Dutt gebunden, und trägt eine Brille, die ihr ständig die Nase hinunterrutscht. Sie schiebt sie mit dem Finger wieder hoch, während sie mich ansieht. Weiterlesen