Georg – Das leise Ende der Dinge

Rücklicht
Ich sitze wieder in diesem Raum. Gleiche Wände, gleiche Schatten. Nur das Licht ist anders – milder, weicher, irgendwie älter. Als hätte es selbst die Jahre gespürt, die ich fort war. Draußen vor dem Fenster stehen die Bäume noch. Grauer Stamm, dunkles Laub, und dieses eine Astgabeln-Geflecht, das schon immer wie ein müdes Tier über den Zaun hing.
Ich bin nicht wegen der Erinnerung zurückgekommen. Ich glaube, ich habe einfach aufgehört, woanders sein zu wollen.
Der Stuhl knarrt unter mir, als ich mich ein Stück nach vorn lehne. Die Hände ruhen auf den Knien, die Jacke ist staubig vom Zug. Ich habe nichts mitgebracht außer einem Buch ohne Umschlag und der Liste mit den Dingen, die ich noch zu klären hätte – eine Liste, die ich nie angefangen habe.
Früher war hier Lachen. Geräusche von Küche, Fernsehgebrabbel, Stimmen aus dem Flur. Jetzt nur das Klopfen der Heizung. Die Pfeife im Schacht klingt wie ein müder Atemzug. Vielleicht ist das Haus auch alt geworden. Oder nur ich.
Im Spiegel über dem alten Kamin sehe ich mein Gesicht – tiefe Falten, braune Schatten unter den Augen. Der Blick, der mir begegnet, fragt nicht mehr. Er wartet.
Morgen werde ich in den Schuppen gehen. Die Werkbank steht bestimmt noch. Und vielleicht finde ich dort etwas, das mir sagt, warum ich eigentlich gegangen bin.
Der Schuppen
Die Tür klemmt. Ich muss mit der Schulter dagegen, einmal, zweimal, bis sie knackt. Der Geruch ist noch derselbe – feucht, modrig, metallisch. Irgendwas zwischen Öl und Zeit. Als hätte die Luft hier drinnen all die Jahre einfach gestanden und gewartet, dass ich endlich zurückkomme.
Ich streiche mit der Hand über die alte Hobelbank. Das Holz ist rissig, aufgesprungen wie ein vertrockneter Fluss. Daneben ein Schraubstock, noch eingerastet. Ich löse ihn und höre das vertraute Knarzen. Wie früher. Ich war kein besonders guter Handwerker. Aber Marie meinte immer, es ginge nicht ums Ergebnis.
„Es geht ums Tun, Georg. Ums Bleiben, während alles andere weggeht.“
Sie hatte das gesagt, kurz nachdem unser Vater gestorben war. Ich weiß noch, dass ich genickt habe, ohne zu verstehen. Heute klingt es nach einer Warnung.
In der Ecke liegt noch die alte Werkzeugkiste. Ich ziehe sie vorsichtig heraus. Darunter: Ein Pappkarton, mit Gaffa-Tape umwickelt, halb eingesunken in den feuchten Dielen. Ich reiße das Band ab – die Pappe bricht fast auseinander. Darin: Ein Tonbandgerät. Das alte Uher-Modell von Marie. Und drei Spulen. Beschriftet in ihrer Schrift.
1. Dienstag
2. Hausflur
3. Für G.
Ich setze mich auf den klapprigen Hocker, der wackelt wie früher. Staub liegt auf allem. Ich wickle die erste Spule ein, drücke „Play“.
Nichts.
Dann ein Knacken. Rauschen. Und Maries Stimme.
„Wenn du das hörst, dann bist du zurück. Oder jemand hat deinen Platz eingenommen. Aber ich glaube nicht an Zufälle. Also… hallo Georg.“
Ich halte den Atem an. Ihre Stimme klingt wie früher. Nur mit einem Schatten drin, den ich damals nicht hören wollte. Vielleicht war ich schon zu weit weg.
Sie spricht weiter, ruhig, lakonisch, wie sie war. Keine Erklärungen. Nur Fragen. Gedanken. Kleine Sätze, wie aus dem Halbschlaf. Als würde sie gegen die Stille im Haus anreden.
„Du hast doch gewusst, dass das Schweigen nicht ewig hält, oder? Dass irgendwann jemand kommt und fragt, wo du warst. Und warum du nie zurückgeschrieben hast.“
Ich schalte ab. Der Schuppen ist still. Nur mein Atem. Und irgendwo draußen ein Vogel, der klingt, als wüsste er alles.
Ich lege das Tonband zurück. Nicht weil ich es nicht hören will – sondern weil ich weiß, dass ich es noch öfter hören muss. Nicht heute. Vielleicht morgen. Vielleicht mit einem Glas Wein. Oder einem alten Foto daneben.
Draußen wird es dämmerig. Ich schließe die Tür nicht ganz. Irgendetwas sagt mir, dass ich heute Nacht nicht der Einzige bin, der zurückgekehrt ist.
Fidi
Der Wirt kennt mich nicht mehr. Ist auch nicht der Alte. Zu jung, zu glatte Stirn. Er fragt nichts, zapft einfach, nickt vage in Richtung der Ecke. Da sitzt er. Fidi. Gleicher Platz wie immer. Rücken zur Wand, Blick zur Tür. Als würde er immer noch warten, dass einer reinkommt, der nie mehr kommt.
Ich nehme mein Bier, gehe langsam rüber. Die Bretter unter meinen Schritten knarren laut. Ich könnte mich hinsetzen, ohne was zu sagen. Aber das wäre zu einfach.
„Fidi.“
Er hebt den Blick. Seine Augen brauchen einen Moment. Dann ein kaum merkliches Zucken im Mundwinkel. Kein Lächeln. Mehr so ein Echo davon.
„Georg. Na schau an.“
Er klopft neben sich auf die Bank. Ich setze mich. Kein Händeschütteln, kein Schulterklopfen. Männer wie wir machen das nicht mehr.
„Bier?“, frage ich.
Er hebt sein Glas. „Schon da.“
Wir trinken. Eine ganze Weile sagt keiner was. Nur der Fernseher überm Tresen brummt leise. Irgendein Sport, stumm geschaltet. Die Fliegen tanzen um die Deckenlampe.
„Hab gehört, du bist wieder da“, sagt Fidi irgendwann. „Marie ist tot, aber das weißt du wohl.“
Ich nicke. Langsam. „Drei Jahre jetzt.“
„Keiner hat gewusst, wohin du gegangen bist. Auch sie nicht, sagt man.“
„Ich wusste es selbst nicht.“
Er dreht sein Glas. „Kommt vor.“
Dann wieder Schweigen. Aber kein kaltes. Eher eins, das was mitträgt. Wie ein alter Mantel, der nie ganz trocken wird.
„Du weißt, dass sie dir geschrieben hat?“, fragt er.
Ich nicke. „Die Briefe kamen. Ich hab sie nicht gelesen.“
Fidi schaut mich an. Erst richtig jetzt. „Das ist ’ne verdammte Leistung, weißt du das?“
Ich nicke wieder. Nicht aus Trotz. Weil ich’s weiß.
„Und warum jetzt?“, fragt er. „Nach all den Jahren?“
„Keine Ahnung“, sag ich. „Vielleicht, weil nichts mehr übrig ist. Und weil das Haus nicht von allein stirbt.“
Er kippt sein Glas leer, bestellt noch eins. Dann sagt er, ohne mich anzusehen:
„Clara hat dich gesehen. In der Apotheke. Du hast ihre Mutter mal gekannt, nicht wahr?“
Ich sage nichts.
„Sie fragt sich, ob du dich erinnerst.“
Ich erinnere mich an vieles. An ihre Stimme. An die Art, wie sie ihren Kaffee trank – immer mit einem Spritzer Milch, nie umrühren. An einen Sommertag im Maisfeld. An ein Versprechen, das ich nie ausgesprochen habe.
„Ich erinnere mich“, sage ich leise.
Fidi nickt, als hätte er genau das erwartet. Dann legt er die Hand auf meinen Unterarm, kurz, fest.
„Geh morgen zu ihr. Sie wartet nicht ewig.“
Dann steht er auf. Ohne Abschied. Ohne Blick zurück.
Apotheke
Die Glocke über der Tür klingt hell, fast zu hell für diesen grauen Vormittag. Ich trete ein, warte einen Moment, bis sich meine Augen ans Licht gewöhnen. Es riecht nach Lavendel, Desinfektionsmittel und Papier – wie früher, aber ordentlicher. Steriler.
Die Regale sind neu. Keine handbeschrifteten Gläser mehr, keine vergilbten Etiketten. Nur saubere Verpackungen, alles standardisiert. Die Zeit hat hier einen weißen Kittel übergezogen.
„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“
Die Stimme kommt aus dem Hinterzimmer. Dann tritt sie hervor – Clara. Genau wie Fidi sagte. Sie ist nicht mehr das Kind von damals. Dunkle Haare, schmaler Mund, kluge Augen. Und ein Blick, der sofort erkennt, wer ich bin.
„Herr Brenner“, sagt sie. Kein Lächeln. Nur dieser messerscharfe Blick.
„Ich brauche nichts“, sage ich. „Ich wollte nur…“
„Sehen, ob ich ihr ähnlich sehe?“
Ich blinzle. Sie geht um den Tresen herum, stellt sich vor mich wie jemand, der sich bewusst in die Schusslinie stellt.
„Sie haben meine Mutter gut gekannt. Sagen die Leute.“
Ich nicke. Sie verschränkt die Arme, wartet.
„Wir waren… jung“, sage ich. „Und dumm. Vielleicht mehr von dem zweiten.“
Sie lässt das stehen. Dann zeigt sie auf den kleinen runden Tisch am Fenster. Zwei Stühle, ein Becher mit Teebeuteln, ein Kalender von vor zwei Jahren.
„Setzen Sie sich. Ich mache Tee. Sie mögen Tee, nehme ich an.“
Ich gehorche. Sie verschwindet, kommt zurück mit zwei Bechern. Kamille. Kein Zucker. Keine Milch. Nur Wärme und Stille.
„Sie hat oft von Ihnen gesprochen“, sagt Clara, ohne mich anzusehen. „Nicht viel, aber wenn, dann mit einer Art… Nachklang. Wie ein Lied, das nie ganz verklungen ist.“
Ich schlucke.
„Und sie hat Fragen gehabt. Fragen, die niemand beantworten konnte.“
„Ich hatte keine Antworten mehr“, sage ich. „Damals nicht. Heute vielleicht ein paar.“
„Zu spät?“, fragt sie.
„Vielleicht. Oder gerade rechtzeitig.“
Sie trinkt, dann stellt sie die Tasse ab. „Sie ist gegangen, ohne Bitterkeit. Aber auch ohne Frieden.“
Ich sehe aus dem Fenster. Die Straße draußen ist leer. Nur ein alter Mann mit Hund. Ein Windstoß, der Laub aufwirbelt.
„Ich kann nichts wiedergutmachen“, sage ich. „Aber ich kann da sein.“
Clara schaut mich lange an. Dann lehnt sie sich zurück, als ob ihr plötzlich kalt geworden wäre.
„Dann fangen Sie an. Erzählen Sie mir, warum Sie gegangen sind.“
Ich öffne den Mund. Und merke, dass ich nicht weiß, wie man so etwas erzählt. Vielleicht mit einer Lüge. Vielleicht mit der Wahrheit, die keiner hören will. Oder mit einem Tonband, das noch immer im Schuppen liegt und leise von früher spricht.
Das Notizbuch
Ich finde es in der Küche. Zwischen einem Stapel alter Zeitungen und einer leeren Konservendose, die mal Tomaten enthielt oder Pfirsiche. Das Cover ist aus Stoff, ausgebleicht, mit einem eingestickten Vogel darauf. Maries Handschrift – krakelig, fast trotzig – steht in der Ecke:
„für später.“
Ich nehme es mit ins Wohnzimmer. Der alte Sessel quietscht, als ich mich hineinsetze. Die Lehne hat einen Riss, den ich damals mit Isolierband geflickt habe. Das Band hält noch. Der Rest nicht.
Ich blättere. Keine zusammenhängenden Sätze. Keine Einträge mit Datum oder Uhrzeit. Nur Gedanken. Fragmente. Marie eben.
„Georg hat das Fenster nie ganz zugemacht. Vielleicht wollte er, dass die Dinge rein und raus können, ohne zu klopfen.“
„Manchmal atmet das Haus nachts. Ich höre es, wenn ich wach liege. Als würde es sich erinnern.“
„Fidi hat was gesagt. Aber ich glaube, er erinnert sich falsch. Oder ich tu es.“
„Claras Mutter hat im März das Lächeln verloren. Ich hab’s auf dem Küchenstuhl gesehen.“
„Wenn Georg je zurückkommt, soll er wissen, dass ich nicht gewartet habe. Ich habe gelebt, verdammt nochmal.“
Ich halte inne. Muss schlucken.
„Ich habe das Tonband nur gemacht, weil das Reden irgendwann zu viel wurde. Weil man irgendwann die Stimme verliert, wenn niemand mehr antwortet.“
„Ich wünschte, er hätte wenigstens einmal geschrieben. Einen Satz. Oder nur seinen Namen.“
Ich schlage das Buch zu. Atme durch. Und noch mal.
Die Worte hängen in mir wie Nebel in den Ästen. Nicht greifbar, aber da. Alles, was nicht gesagt wurde, steht dazwischen. Zwischen diesen Zeilen, zwischen mir und der Welt, die ich verlassen hatte, weil sie zu laut, zu schmerzhaft oder zu wahr war.
Ich gehe in den Flur, lehne mich an die Wand neben dem Garderobenspiegel. Sehe mich nicht wirklich an – mehr so ein Verschwimmen. Wie Wasser auf Glas.
Auf dem kleinen Tisch unter dem Spiegel liegt ein zweiter Brief. Ohne Umschlag. Ohne Adresse. Nur ein Wort:
„Jetzt.“
Ich falte ihn auf. Drei Zeilen. Maries Schrift.
„Wenn du das liest, dann frag Fidi nach dem See.
Frag ihn, was du dort zurückgelassen hast.
Und frag dich, ob du es wiederhaben willst.“
Sonntag
Der Morgen ist trüb, wie mit Asche gefiltert. Keine Sonne, kein Regen – nur dieses bleierne Dazwischen. Ich gehe zu Fuß. Kein Ziel, nur Bewegung. Der Weg zum See kennt mich noch. Jeder Tritt in den Kies, jede Wurzel, die über den Pfad wächst, sagt: Du warst schon mal hier. Du hast’s nur vergessen.
Die Luft riecht nach feuchtem Holz, nach Moos und altem Wasser. Als ich die Böschung erreiche, sehe ich ihn. Jakob. Sitzt auf dem Steg, die Beine baumeln über dem Wasser, ein Stück Brot in der Hand, das er nicht isst. Er dreht den Kopf kaum, als ich näher komme.
„Du schon wieder“, sagt er.
„Und du auch“, sag ich. Setze mich neben ihn.
Wir starren beide aufs Wasser. Es bewegt sich kaum. Nur leichte Ringe, wo ein Käfer kämpft.
„Warst du schon mal hier?“, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern. „Ich komm her, wenn zu Hause keiner redet.“
„Dann bist du oft hier.“
Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht. Dann wieder Stille.
„Weißt du, was hier mal war?“, frage ich.
„Ein Steg.“
„Mehr als das.“
Ich schaue hinaus. Dahin, wo das Wasser dunkler wird, fast schwarz. Ich erinnere mich an eine Nacht, vielleicht Sommer. Vollmond. Marie hat am Ufer gesessen, Fidi im Wasser. Ich war am Rand, nackt, betrunken, verliebt. Und irgendwo in all dem war Claras Mutter. Ihre Stimme. Ihr Haar, das im Licht aussah wie Silber, obwohl es nur blond war.
Ich hatte ihr hier etwas versprochen. Kein großes Versprechen. Nur, dass ich bleibe.
Ich bin gegangen.
Jakob wirft einen Brotkrümel ins Wasser. Die Wellen kreisen sich darum, als wollten sie es verschlucken.
„Was hast du verloren, Alter?“, fragt er.
Ich atme durch. „Mehr, als ich mitzählen kann.“
„Findste’s wieder?“
„Weiß nicht. Vielleicht.“
Er nickt. Dann steht er auf.
„Ich geh jetzt“, sagt er. „Aber du bleibst noch, oder?“
Ich nicke.
„Weil das Wasser nicht sagt, was es weiß“, murmelt er, als er geht. „Man muss einfach still genug sein, um’s zu hören.“
Ich bleibe sitzen. Lange. Irgendwann fängt es an zu nieseln. Das Wasser wird unruhiger, aber in mir ist plötzlich etwas ruhig. Nur ein Gedanke. Klar, wie eine Stimme auf Band:
„Frag Fidi nach dem See.“
Ein alter Brief
Der Regen hört erst auf, als ich die Haustür hinter mir schließe. Die Tropfen laufen noch an den Fensterscheiben entlang, als würden sie zögern, loszulassen. Ich ziehe die nasse Jacke aus, hänge sie an den Haken, der früher Maries gehörte. Ihr grüner Mantel hängt nicht mehr da. Natürlich nicht. Aber ich sehe ihn trotzdem.
In der Küche tropft der Wasserhahn. Das Geräusch ist kaum hörbar, aber es bohrt sich ins Hirn, wie eine Uhr, die zählt, was fehlt.
Ich brauche Tee. Oder wenigstens etwas Warmes. Beim Öffnen der obersten Schublade fällt ein Kuvert heraus. Zwischen Gummibändern, Schrauben und alten Streichholzschachteln – wie ein fremder Fisch in trübem Wasser. Ich hebe es auf.
Keine Marke, kein Absender. Nur mein Name. „Georg“. In ihrer Handschrift. Etwas verwaschen, als hätte sie beim Schreiben gezögert. Oder geweint.
Ich halte den Brief lange in der Hand. Dann gehe ich ins Wohnzimmer, setze mich auf den Sessel, der inzwischen mein Ritualplatz geworden ist. Das Knarzen gehört dazu. Wie das Aufreißen des Umschlags, das leise Rascheln des Papiers.
Zwei Seiten. Keine Anrede.
Ich habe dich nicht gesucht, Georg.
Aber ich habe aufgehört, aufzuhören, an dich zu denken.
Vielleicht liegt darin der Fehler. Oder die Wahrheit.
Ich habe das, was wir damals waren, nicht in den Rahmen gesetzt, den andere erwartet haben. Ich habe es getragen.
Wie ein warmes Stück Metall in der Tasche.
Dein Verschwinden hat Löcher gerissen. In andere. In mich.
Ich habe lange gedacht, du kommst zurück. Nicht als Held. Nur als jemand, der nicht mehr wegrennt.
Wenn du das liest, bin ich vielleicht nicht mehr da.
Aber der See ist noch da.
Dort hast du sie zurückgelassen.
Die Frage, die du nicht gestellt hast.
Den Blick, den du nicht erwidert hast.
Vielleicht ist es noch Zeit, Georg.
Vielleicht.
M.
Ich falte das Papier nicht sofort zusammen. Ich halte es wie ein Relikt. Etwas, das nicht mir gehört, aber ohne mich nicht mehr vollständig ist.
Ich stehe auf, gehe in den Flur. Die Jacke ist noch feucht, aber das ist egal. Der Himmel draußen hat sich aufgehellt. Das Licht bricht durch wie eine Erinnerung, die sich nicht mehr verdrängen lässt.
Ich muss zu Fidi. Heute. Jetzt.
Denn ich habe genug gewartet.
Das Fest
Ich finde Fidi auf dem Kirchplatz. Er steht neben dem Bierstand, Zigarette in der einen, ein Plastikteller mit Bratwurst in der anderen Hand. Er sieht mich kommen, sagt nichts. Nur dieses winzige Nicken, das so viel heißt wie: „Na dann.“
Das Dorffest ist kleiner geworden. Weniger Stände, weniger Musik. Die Blaskapelle probt seit Jahren nicht mehr, stattdessen scheppert irgendeine Playlist aus zwei alten Lautsprechern. Irgendwo lachen Kinder, aber es klingt hohl. Als wüssten sie nicht, warum.
Ich stelle mich neben ihn. Wir sehen beide dem Mann am Grill zu, wie er mit stoischer Gleichgültigkeit die Würste wendet.
„Du wolltest was“, sagt Fidi nach einer Weile. Kein Vorwurf, kein Interesse. Nur eine Feststellung.
Ich nicke. „Der See.“
„Was damit?“
„Du weißt was.“
Er nimmt einen Bissen, kaut lange, schaut nicht her. Dann: „Marie hat’s dir also gesagt.“
„Schreiben lassen. Zwischen Zeilen.“
„Tja.“ Fidi zieht an der Zigarette, pustet den Rauch langsam aus. „War nicht meine Idee.“
„Was war meine Idee?“
Er sieht mich jetzt an. Und für einen Moment ist da etwas in seinem Blick – Müdigkeit, vielleicht. Oder Gnade.
„Dein Verschwinden. Dein Schweigen. Deine Weigerung, zu sagen, was war. Sie hat’s getragen, klar. Aber sie hat nie aufgehört, dich zu verteidigen. Selbst als du es nicht mehr verdient hast.“
Ich spüre, wie mein Herz kurz stolpert. Dann wieder gleichmäßig schlägt, als hätte es sich daran gewöhnt.
„Was hab ich zurückgelassen, Fidi? Sag es.“
Er dreht sich halb zu mir. „Nicht was. Wen.“
Ein Lachen, kurz, trocken, bitter. Meins.
„Claras Mutter.“
„Hanna“, sagt er. Und der Name klingt, als würde er gerade freigelassen, nach Jahren in irgendeinem Keller.
„Du hast sie weggeschoben, Georg. Als sie dich brauchte. Als es ernst wurde. Und du bist nicht nur aus dem Dorf gegangen. Du bist aus ihr rausgegangen. Mitten im Satz.“
Ich schlucke. Die Stimmen um uns werden lauter, ein Tusch aus der Lautsprecherbox, dann Applaus. Irgendwer hat gewonnen. Wir nicht.
„Und was war am See?“, frage ich.
Fidi wirft den Teller in den Mülleimer, die Zigarette hinterher. Dann lehnt er sich näher zu mir.
„Sie hat dir was gegeben. Damals. In der Nacht. Etwas, das du nicht angenommen hast.“
„Was?“
„Einen Satz. Du hättest nur ja sagen müssen. Oder wenigstens bleiben.“
Ich drehe mich um, sehe auf den Platz. Lichterketten. Pappbecher. Leben im Wartestand.
„Ist sie deswegen… gegangen?“
Fidi sieht mich schräg an. „Sie ist geblieben. Jahre lang. Aber nicht mehr bei sich.“
Ich will etwas sagen, aber da ruft plötzlich jemand: „Georg?“
Ich drehe mich um. Clara. In einem blauen Kleid. Nicht festlich, aber fest genug, um aufzufallen. Ihre Haare offen. Ihr Blick offen.
„Kommen Sie“, sagt sie. „Ich möchte Ihnen was zeigen.“
Fidi lächelt schief.
„Na siehste. Vielleicht kriegste diesmal die Kurve.“
Abendschatten
Clara sagt nichts, als wir durch die dunkler werdenden Gassen gehen. Nur das leise Klacken ihrer Schritte auf dem Pflaster, und manchmal ihr Atem, ruhig, fast trotzig. Ich folge ihr. Nicht weil ich muss, sondern weil es keinen anderen Weg gibt.
Sie bleibt schließlich vor dem alten Haus ihrer Mutter stehen – dem Haus, das früher mal eine kleine Pension war. Ich war oft hier. Hinter dem linken Fenster im ersten Stock haben wir gesessen, geredet, geschwiegen. Dort war das Leben verdichtet, warm, gefährlich.
Clara öffnet die Tür. Die Diele ist schmal, der Teppich alt. Sie führt mich nach oben. Im Flur hängen Fotos, schwarzweiß, verwischt. Ich erkenne niemanden, nur Stimmungen.
Im Zimmer steht ein Tisch, darauf ein kleiner Kasten, mit Samt ausgeschlagen. Daneben eine Vase mit getrocknetem Mohn. Es riecht nach Zeit.
„Sie hat das aufgehoben“, sagt Clara. „All die Jahre.“
Ich trete näher. Im Kasten liegt ein Stück Papier. Gefaltet, vergilbt. Clara nickt mir zu. Ich öffne es vorsichtig.
Es ist meine Handschrift. Krumm, hastig. Ich kenne den Satz:
„Ich bleibe. Wenn du willst.“
Ich habe ihn nie ausgesprochen. Nur geschrieben. Und nie abgegeben.
„Sie hat ihn gefunden“, sagt Clara. „Drei Wochen nach deiner Abreise. In deiner Jacke. Sie hatte ihn gewaschen. Als sie den Zettel sah, hat sie nur genickt.“
Ich setze mich. Die Knie wollen nicht mehr stehen. Der Satz flimmert auf dem Papier, als wäre er jetzt erst geschrieben worden.
„Sie hat dich geliebt“, sagt Clara. „Aber sie hat nie gewartet.“
Ich schaue sie an. In ihrem Blick liegt nichts Vorwurfsvolles. Nur Klarheit. Und ein Rest von Hoffnung, den ich nicht verdient habe.
„Ich war feige“, sage ich.
„Vielleicht“, sagt sie. „Vielleicht warst du einfach nur du.“
Ein Licht flackert draußen. Straßenlaterne oder ein verirrter Gedanke.
„Und du?“, frage ich. „Warum zeigst du mir das?“
Clara lächelt schmal. „Weil ich wollte, dass du es siehst. Bevor du’s wieder vergisst.“
Ich lehne mich zurück. Das Zimmer atmet. Der Mohn raschelt im Luftzug. Und irgendwo draußen ruft ein Vogel, obwohl es längst Nacht ist.
Stromausfall
Es beginnt mit einem Flackern. Erst die Flurlampe. Dann das Summen aus der Küche. Dann: Dunkelheit. Absolute, ehrliche, dichte Dunkelheit.
Ich sitze noch immer im Zimmer von Hanna, dem Satz auf dem Schoß, als das Licht stirbt. Clara steht reglos, als hätte sie es erwartet. Sie sagt nichts, nimmt nur eine Kerze vom Fensterbrett, zündet sie mit einem alten Streichholz an. Der Docht fängt langsam Feuer, dann lodert es, gelb und flackernd, wie eine Geschichte, die man nur leise erzählen darf.
„Das passiert manchmal“, sagt sie. „Wenn der Wind aus Nordwesten kommt. Oder wenn zu viele Leute gleichzeitig vergessen haben, warum sie hier sind.“
Ich lächle. Müde.
„Vielleicht hat das Haus auch einfach genug gesehen“, murmele ich.
Clara gibt mir die Kerze. „Dann geh. Für heute.“
„Wohin?“
„Zu dir. Zum Schuppen. Oder wohin du immer flüchtest, wenn’s zu echt wird.“
Ich will etwas sagen. Irgendwas mit Reue oder Dank oder Bleiben. Aber sie sieht mich nur an – fest, klar, wie jemand, der nicht verhandelt.
Ich gehe.
Draußen ist es still. Kein Straßenlicht, kein Fernseher, keine Stimme. Nur meine Schritte und das Zittern der Kerzenflamme. Ich biege in den Garten ein, hinterm Haus. Laufe am Flieder vorbei, der sich im Wind beugt. Der Schuppen steht da wie immer. Wartend. Als hätte er nie etwas anderes getan.
Ich öffne die Tür. Innen ist es nicht dunkler als draußen. Ich stelle die Kerze auf den Tisch. Ihr Licht tanzt über das Tonbandgerät, über die Hobelbank, über den Karton mit den Spulen.
Ich nehme die dritte. Für G.
Ich atme tief durch. Drücke „Play“.
Maries Stimme. Ruhiger. Leiser. Als wäre sie nicht mehr ganz da.
„Georg. Ich hoffe, du hast bis hierhin durchgehalten.
Wenn nicht, dann bist du nicht du.
Ich will dir nichts vorwerfen. Ich will dich nur erinnern.
An das, was du warst, bevor du beschlossen hast, nichts mehr zu sein.
Du bist gegangen, ja. Aber du warst schon vorher weg.
Und ich… ich hab versucht, die Lücken zu füllen.
Mit Ordnung. Mit Pflastersteinen. Mit Notizen auf vergilbtem Papier.
Vielleicht reicht das nicht. Aber es war alles, was ich hatte.
Wenn du das hier hörst, dann ist da vielleicht noch ein Rest von dir übrig.
Und wenn du willst…
dann hör auf, zu fliehen.“
Stille.
Das Band läuft weiter, aber da kommt nichts mehr. Nur das leere Surren. Dann klickt es. Ende.
Ich lehne mich zurück. Die Kerze ist fast runtergebrannt. Wachsflecken auf dem Holz. Ich sehe hinaus in die Dunkelheit, sehe… etwas?
Eine Bewegung. Zwischen den Bäumen.
Eine Gestalt. Klein. Still. Jakob.
Er steht da. Wie ein Schatten, der nichts will. Ich öffne die Tür, aber er sagt nichts.
„Willst du rein?“, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern. Dann: „Ich kann auch draußen schlafen.“
Ich hole eine Decke. Er nimmt sie ohne Dank. Legt sich auf die Bank unter dem Vordach. Die Augen offen. Der Himmel wolkenverhangen.
„Was machst du da draußen?“, frage ich leise.
„Ich warte, dass du redest“, sagt er.
Dann dreht er sich zur Seite.
Und ich bleibe da, mit der letzten Stimme meiner Schwester im Ohr.
Jakob bleibt
Der Morgen kommt zögerlich. Ein blasses Grau, das sich wie Staub über die Bäume legt. Ich öffne die Schuppentür vorsichtig, als könnte ich damit das, was draußen liegt, ungeschehen machen. Aber Jakob liegt noch da, zusammengerollt unter der alten Wolldecke, die nach Garage riecht und nach längst vergangenen Wintern.
Er schläft nicht. Öffnet nur langsam die Augen, als hätte er sowieso gewusst, dass ich komme.
„Ich hab geschnarcht, oder?“, fragt er.
„Wie ein alter Bär“, sage ich.
Er grinst. Dann setzt er sich auf, streckt sich, reibt sich den Nacken.
„Gibt’s was zu essen?“
Ich nicke. „Wenn du mit trockenen Brötchen und kaltem Kaffee leben kannst.“
„Kann ich.“
In der Küche ist alles still, wie jeden Morgen. Nur das Radio knackt kurz, findet aber keinen Sender. Ich stelle den Kessel auf den Herd, fische zwei Brötchen aus der Blechdose. Jakob setzt sich auf den Hocker, sieht mir zu, wie ich Butter kratze.
„Das Band hast du gehört, oder?“, fragt er.
Ich drehe mich zu ihm um. Er sieht mich an, als hätte er das Recht auf Antwort.
„Ja“, sage ich. „Das Band hab ich gehört.“
„Und?“
„Und es war, als würde jemand deine Gedanken zu Ende sprechen. Nach Jahren. Ohne Bitterkeit. Einfach so.“
Jakob nickt langsam. Kaut dann schweigend an seinem Brötchen.
„Ich hab auch mal ein Band gemacht“, sagt er. „Für meine Mutter. Hab’s aber nie abgeschickt. War zu feige.“
Ich sehe ihn an. „Du bist nicht feige.“
„Doch. Manchmal. Wenn ich merke, dass mir was wichtig ist.“
Der Satz trifft mich. Ohne Umweg.
„Warum kommst du her, Jakob?“, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht weil du der Einzige bist, der auch nicht weiß, was er hier eigentlich noch soll.“
Ich lache leise. „Fairer Punkt.“
Wir trinken Kaffee, schweigen wieder. Draußen tropft es vom Dach, gleichmäßig, fast beruhigend.
„Du musst zurück, oder?“, frage ich schließlich. „Zur Schule. Oder nach Hause.“
„Was ist das schon, ‚zurück‘?“, sagt er. „Du bist doch auch hier, oder? Also ist das auch mein Hier.“
Ich sehe ihn an. Lange. Dann sage ich:
„Dann bleib. Für einen Moment.“
Und er bleibt.
Die Wahrheit
Der Tag zieht sich wie alter Kaugummi. Jakob streicht mit einem rostigen Pinsel die Fensterrahmen ab, nur halbherzig, aber mit Ausdauer. Ich repariere das Dach des Schuppens, obwohl es nicht danach gefragt hat. Wir reden kaum. Aber es ist kein unangenehmes Schweigen. Es ist wie ein gemeinsames Halten des Atems.
Nachmittags klopft es.
Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass das Geräusch real ist. Nicht Erinnerung, nicht Einbildung. Clara steht im Türrahmen, ohne Mantel, nur mit einem dünnen Schal, als wollte sie demonstrieren, dass Kälte nichts mit Temperatur zu tun hat.
„Kommst du mit?“, fragt sie.
„Wohin?“
„Zum See.“
Ich nicke. Jakob bleibt zurück. Kein Kommentar. Kein Blick. Nur ein kurzes Nicken, das mehr sagt als jede Frage.
Der Weg ist derselbe wie neulich. Und doch anders. Ich sehe mehr. Den umgekippten Baum, das eingerissene Schild. Die Spuren im Matsch, vielleicht vom Reh, vielleicht von uns selbst.
Clara bleibt an derselben Stelle stehen wie ich vor Tagen. Der Steg. Der Horizont. Das Wasser – still, fast ehrfürchtig.
„Ich habe hier gesessen“, sage ich. „Damals.“
„Ich weiß.“
„Und ich habe nicht gewusst, wie sehr ich schon fort war. Selbst als ich noch da saß.“
Clara nimmt einen Stein, wirft ihn flach. Er hüpft dreimal, dann versinkt er.
„Sie hat dir was erzählt, bevor du gingst, oder?“, fragt sie.
Ich nicke.
„Sie war schwanger“, sage ich.
Clara sagt nichts.
„Und ich… ich hab’s nicht begriffen. Oder nicht glauben wollen. Ich hab gedacht, sie will mich binden. Dabei wollte sie nur, dass ich bleibe.“
Ein Wind zieht auf, fegt über das Wasser, greift in meine Stimme.
„Und das Kind?“, frage ich leise.
„War nie da“, sagt Clara. „Hat es nicht geschafft.“
Stille.
„Ich hab nie gewusst, ob ich’s hätte sein können“, sagt sie dann. „Aber ich hab dich trotzdem gehasst, eine Zeit lang. Für das, was du warst. Oder nicht warst.“
Ich nicke. Weil das alles ist, was ich tun kann.
„Und jetzt?“, frage ich.
Sie sieht mich an. Der Wind fährt ihr durchs Haar. Der See glitzert wie eingerissene Erinnerung.
„Jetzt weiß ich, dass du nie wirklich böse warst“, sagt sie. „Nur feige. Und feige Menschen tun niemandem weh. Außer denen, die sie lieben.“
Ich will etwas sagen, aber sie hebt die Hand.
„Lass gut sein“, sagt sie. „Du bist da. Das reicht nicht. Aber es ist ein Anfang.“
Dann geht sie. Einfach so. Den Weg zurück, den wir gekommen sind.
Ich bleibe noch. Schaue auf das Wasser, das alles genommen hat und doch nichts behalten konnte.
Dann flüstere ich, zu niemandem und vielleicht genau deshalb:
„Es tut mir leid.“
Und zum ersten Mal klingt es nicht wie Flucht.
Das Haus verkauft sich nicht
Der Makler kommt pünktlich. Zu pünktlich. Glänzende Schuhe, aufgeräumter Blick, Aktenmappe wie aus einem Katalog. Er schaut sich um, als wäre das Haus ein lebendiges Wesen, das sich widerwillig mustern lässt.
„Ein bisschen aus der Zeit gefallen“, sagt er. Ich nicke. Er meint die Tapete, das Parkett, die Türrahmen, die knarren. Ich meine das alles. Und noch mehr.
„Die Lage ist… ruhig“, murmelt er, während er durch die Zimmer geht. „Manche nennen es abgelegen, ich sag lieber: entschleunigt.“
Ich folge ihm, sage nichts. Nur Marie hat einmal gesagt, das Haus sei wie ein alter Mensch – voller Geschichten, aber niemand hört mehr hin.
Der Makler stellt sich ins Wohnzimmer, schaut zum Fenster.
„Wenn man es ein wenig öffnet – mit hellen Farben, modernem Boden – dann hat das hier Potenzial. Die Substanz ist solide.“
Er meint Mauern. Ich denke an Stimmen, an Gerüche, an Spuren auf der Tapete, wo mal ein Bild hing. An Marie, wie sie barfuß über den kalten Flur lief. An Hanna, auf dem Sofa, ein Bein untergeschlagen, wie sie lachte, als wäre nichts zu verlieren.
„Ich weiß nicht, ob ich’s verkaufen kann“, sage ich.
Der Makler lächelt, professionell, einstudiert. „Natürlich können Sie. Es ist nur eine Frage des Preises.“
„Ich meine nicht den Marktwert.“
Er schaut mich irritiert an. Dann klappt er den Ordner zu.
„Manche Häuser wollen nicht verkauft werden“, sagt er. Und ich glaube, es ist das Ehrlichste, was er je gesagt hat.
Am Abend streiche ich über den Türrahmen der Küche. Dort, wo ich als Junge mein Wachstum eingeritzt hatte. Später Marie. Dann niemand mehr. Die letzte Kerbe ist alt.
Jakob sitzt auf der Treppe, ein Glas Wasser in der Hand, als wäre es Whiskey.
„War er da?“, fragt er.
Ich nicke.
„Und?“
„Das Haus sagt nein.“
Er grinst. „Häuser reden nicht.“
„Doch. Wenn man lange genug zuhört.“
Jakob trinkt einen Schluck, steht auf.
„Ich bleib noch ein paar Tage. Wenn’s okay ist.“
Ich nicke.
„Dann sag dem Haus Bescheid“, sagt er und geht in sein Zimmer.
Ich bleibe zurück. Der Flur atmet. Irgendwo knackt ein Balken. Und ich denke: Vielleicht muss man nicht alles loslassen. Vielleicht reicht es, stehen zu bleiben.
Nur ein bisschen.
Rückfahrt offen
Der Bahnhof liegt im Nebel, als hätte ihn die Zeit vergessen. Zwei Gleise, ein Schild, das schief hängt, und ein rostiger Fahrplan, den niemand mehr liest. Ich sitze auf der Bank unter dem Unterstand. Der Koffer neben mir ist zu. Vielleicht sogar leer. Ich weiß es nicht mehr genau.
Der Zug kommt in elf Minuten. Sagt das Blechschild. Ich starre darauf, als würde sich etwas ändern, wenn ich nur lang genug blinzle.
Jakob hat heute früh nicht viel gesagt. Nur:
„Du kannst fahren. Oder bleiben. Beides ist feige. Beides ist mutig.“
Dann hat er den Tisch gedeckt, wie jeden Morgen. Zwei Tassen, obwohl ich schon gepackt war. Ich habe den Tee getrunken. Langsam. Und zum ersten Mal ohne Eile.
Clara kam nicht vorbei. Kein Abschied. Kein Zettel an der Tür. Nur das Wissen, dass sie weiß.
Ich greife in die Jackentasche. Das Notizbuch von Marie ist da. Dünn, fast weich geworden. Ich blättere durch. Wieder diese Sätze, die wie Kieselsteine auf dem Grund eines Baches liegen:
„Vielleicht ist Rückkehr nicht das Gegenteil von Flucht. Vielleicht ist sie nur eine andere Richtung.“
„Was nicht ausgesprochen wird, bleibt bestehen. Wie feuchte Wände.“
„Wer schweigt, entscheidet trotzdem.“
Ich schlage das Buch zu. Der Zug rollt ein. Blaue Wagen, alt, wie aus einer anderen Zeit. Die Türen öffnen sich mit einem Zischen.
Ich stehe nicht auf.
Der Schaffner schaut kurz, nickt mir zu. Keine Frage, kein Druck. Nur: Jetzt wäre der Moment.
Ich bleibe sitzen.
Die Türen schließen sich wieder. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Mein Spiegelbild im Fenster: blass, durchscheinend. Wie jemand, der hier war. Oder wieder ist.
Als der Zug verschwindet, erhebt sich ein leichter Wind. Trägt den Geruch von Erde, Rauch, etwas Blühendem. Vielleicht Flieder. Vielleicht Erinnerung.
Ich nehme den Koffer, stehe auf. Gehe nicht zurück. Gehe nicht weg.
Ich gehe.