Geisterstunde

Es begann, wie es immer beginnt: mit einem Hauch. Kaum mehr als ein Zittern der Luft, ein Flüstern, das nicht ganz da und doch überdeutlich war. Der Vollmond hing wie ein stummes Orakel am Himmel, blass und glotzend, sein Licht ein kalter Strahl, der alles berührte, aber nichts erwärmte. Wolken schoben sich träge vorüber, zerrissen wie alte Tücher, und der Sturm spielte ein Lied, das keinem Ohr gehörte – eine Melodie aus Wehklagen und Zorn, ein Chor, in dem jedes Blatt mitsang.
Die Straßen glänzten noch vom Regen, schwarz wie eine endlose, leere Ader. Hier, im Herz der Dunkelheit, stand ich, allein und doch nicht wirklich allein, denn die Nacht atmete. Es war ein langsames, schweres Atmen, und ich spürte es in den Rippen, als trüge ich es selbst in mir.
Ein Schatten flog, nein, tanzte über die gepflasterten Wege, aber da war niemand. Nur ein flüchtiges Spiel des Lichts, sagten die Vernunft und die Logik in mir, doch ihre Stimmen klangen hohl, als wären sie längst verhallt. Und dann kamen sie, die Blätter, tanzend und taumelnd, als hätten sie einen eigenen Willen, sich drehend in einem stummen Wirbel, und ich schwor – ja, ich schwor! – sie formten Gesichter. Die Stimmen der Vergangenheit
„Es ist eine Lüge, dass die Toten schweigen.“ Dieser Gedanke kam aus dem Nichts und fuhr mir wie ein Splitter ins Hirn. Waren es meine Worte? Waren es meine Gedanken? Ich wusste es nicht. Alles, was ich wusste, war, dass ich weitergehen musste, obwohl der Wind stärker wurde, mich packte, an mir zerrte wie eine unsichtbare Hand.
Das Haus lag vor mir. Ein Monolith aus Stein und Schatten, mit Fenstern, die aussahen wie blinde Augen. Es stand still, aber es lauerte. Jedes Brett, jede Mauer erzählte Geschichten von Stimmen, die längst verklungen waren, und trotzdem klopften sie an mein Trommelfell wie ein ferner Herzschlag.
Drinnen war die Luft schwer, dick wie altes Blut, und die Zeit schien sich aufzulösen, tropfte langsam, quälend, wie ein undichter Hahn. Der Raum war leer, und doch fühlte er sich überfüllt an, als würden die Geister der Vergangenheit – die, die ich gerufen hatte – still um mich her stehen.
Die unzuverlässige Realität
Was wollte ich hier? Die Frage stellte sich wie ein Spiegel in meinen Gedanken, und das Echo war keine Antwort, sondern ein Labyrinth. Vielleicht wollte ich etwas finden. Oder etwas verlieren. Vielleicht war es nur das Spiel der Nacht, die mit mir ihre Rätsel trieb.
Da war ein Lachen, ein leises, kratzendes Kichern, das durch die Wände sickerte. Oder kam es von innen? Ich drehte mich um, schnell, zu schnell, und die Welt schwankte. Der Vollmond war jetzt hinter einem Schleier aus Wolken, sein Licht kaum mehr als ein fahler Hauch.
Dann eine Stimme, weiblich, so vertraut, dass es wehtat. „Warum bist du zurückgekommen?“ Sie kam nicht von außen, sondern aus den tiefsten Schluchten meiner Erinnerung.
„Du bist tot,“ flüsterte ich.
„Das sind wir alle, irgendwann.“
Der Tanz der Geister
Die Nacht begann zu pulsieren, ein eigenartiger Rhythmus, der nicht ganz der meinen war. Die Gesichter in den Blättern erschienen wieder, formten groteske Masken des Schmerzes und der Freude, ununterscheidbar, und das Lachen wurde lauter.
Der Raum um mich her verlor seine Form, dehnte sich aus und zog sich zusammen, ein lebendiges Ding, das mich verschlucken wollte. Plötzlich war ich nicht mehr sicher, ob ich stand oder fiel. Die Toten tanzten, keine Skelette, sondern Silhouetten aus Schatten, die ineinander griffen und sich wieder lösten, flüchtig wie Atem.
„Erinnerst du dich?“ Die Stimme war wieder da, sanfter diesmal, aber umso eindringlicher.
„An was?“ Meine Stimme klang brüchig, fremd.
„An uns. An alles. An nichts.“
Die Spirale der Zeit
Zeit wurde ein Kreis, ein Strudel, der mich nach unten zog. Bilder blitzten auf – ein Gesicht, eine Berührung, ein Schmerz, der so süß war, dass er mich zerbrach. Die Vergangenheit war keine Erinnerung mehr, sondern eine Gegenwart, die mich fest umklammerte.
Die Geister, die ich gerufen hatte, waren nicht draußen, sondern in mir. Frauen, Geliebte, Feinde, Spiegel meiner selbst. Ihre Stimmen klangen wie Lieder, verzerrt und wunderschön, und sie flüsterten Wahrheiten, die ich nicht hören wollte.
Ich wusste nicht, wie lange ich dort stand, in diesem toten Raum, der lebendig war. Minuten, Stunden, ein Leben? Und dann – Stille.
Der Sturm hatte aufgehört. Der Vollmond schaute wieder herab, kalt und gleichgültig. Der Raum war wieder leer, oder vielleicht war er es nie gewesen.
„Es ist vorbei,“ sagte ich laut, aber die Worte klangen hohl. War es wirklich vorbei? Oder hatte es gerade erst begonnen?
Draußen tanzten die Blätter weiter, als hätten sie nie aufgehört. Und die Nacht atmete, leise und schwer, ein ewiges Echo von Dingen, die niemals ganz verschwinden.