Hautgedächtnis

Ich wache auf und die Welt riecht nach Pisse und kaltem Schweiß. Meine Augen brennen, als würde jemand Sand reinstreuen. Das Licht, das durch die kaputten Jalousien fällt, ist schmutzig gelb. Zone 6 halt. Hier ist selbst das Sonnenlicht dreckig.

Meine Haut juckt. Überall. Die Narben auf meinem Arm fangen wieder an zu pochen, als wären sie frisch. Ich kratze nicht. Hab gelernt, dass es nur schlimmer wird.

Der Wecker zeigt 14:30. Scheißegal. Zeit spielt hier keine Rolle. Nur das Überleben zählt.

Ich stehe auf, und meine Knie knacken wie trockenes Holz. Achtundzwanzig und fühle mich wie eine Oma. Danke für nichts, Leben.

Die Wohnung ist ein Loch. Drei mal vier Meter, eine Kochplatte, die mehr Strom frisst als Licht gibt, und ein Fenster, das aussieht, als hätte jemand mit Steinen darauf geschmissen. Aber es ist mein Loch. Vorerst.

Ich gehe zum Spiegel. Mein Gesicht starrt zurück – müde Augen, zu scharfe Wangenknochen, Lippen, die aussehen, als hätten sie zu viel Schlechtes gesagt. Und die Tätowierungen. Überall. Auf meinem Hals schlängelt sich eine Linie, die aussieht wie eine Straßenkarte. Oder wie Blitze. Oder wie Risse in einem Fenster.

Ich erinnere mich nicht, wann ich sie gemacht habe. Alle.

Das ist das Problem mit meinem Gedächtnis. Es ist wie ein kaputtes Radio – mal funktioniert es, mal nicht. Manchmal höre ich Stimmen, die nicht da sind. Manchmal sehe ich Gesichter, die ich nicht kenne, aber trotzdem erkenne.

Ich ziehe mir eine Jeans an. Die Beine sind zu lang, aber ich hab sie günstig gekriegt. Günstig heißt hier: gestohlen oder von einer Leiche. Ich frage nicht nach.

Ein Klopfen an der Tür. Nicht das normale Klopfen von Nachbarn oder Drogendealern. Das hier ist rhythmisch. Drei kurz, zwei lang, drei kurz.

Ich kenne diesen Rhythmus.

Ich gehe zur Tür, aber öffne nicht. „Wer ist da?“

Stille.

Ich warte. Geduldiger als ein Raubtier. In Zone 6 lernst du das schnell – wer ungeduldig ist, ist tot.

Dann höre ich Schritte, die sich entfernen. Langsam. Als hätte derjenige alle Zeit der Welt.

Ich warte noch fünf Minuten, dann öffne ich die Tür einen Spalt. Der Flur ist leer. Riecht nach Schimmel und altem Urin. Aber da ist was anderes. Ein Geruch, den ich kenne, aber nicht einordnen kann.

Ich schaue nach unten. Ein Zettel liegt vor meiner Tür. Sauber gefaltetes Papier. Viel zu sauber für Zone 6.

Ich nehme ihn mit rein und mache die Tür zu. Drei Schlösser. Alle.

Der Zettel fühlt sich teuer an. Nicht das Recycling-Zeug, das wir hier verwenden. Das ist echtes Papier.

Ich falte ihn auf.

„Finja. Wir müssen reden. Café Luna, 18:00. Komm allein. – M“

Mein Herz fängt an zu rasen. M. Nur eine Person nennt mich bei diesem Namen. Nur eine Person, die ich kenne, schreibt so förmlich.

Marc.

Ich hab ihn seit zwei Jahren nicht gesehen. Seit dem Vorfall. Seit der Nacht, an die ich mich nicht erinnern will.

Ich schaue auf die Uhr. 15:15. Zweieinhalb Stunden bis zum Treffen. Genug Zeit, um zu verschwinden. Genug Zeit, um zu packen und diese verfickte Stadt zu verlassen.

Aber ich werde nicht gehen. Ich kann nicht.

Weil da dieses Gefühl ist. Dieses Kribbeln in meinem Bauch, das mir sagt, dass das hier wichtig ist. Dass das hier der Grund ist, warum ich immer noch hier bin.

Ich gehe zum Fenster und schaue raus. Zone 6 ist ein Friedhof aus Beton und zerbrochenen Träumen. Kinder spielen zwischen rostigen Autos. Ihre Mütter schauen aus Fenstern, die aussehen wie müde Augen.

Und da ist er wieder. Dieser Geruch. Süßlich. Wie Parfüm, aber… anders.

Ich drehe mich um. Meine Wohnung ist leer. Natürlich ist sie leer. Aber der Geruch ist da.

Ich kenne diesen Geruch.

Ich gehe zum Badezimmer und schaue in den Spiegel. Die Tätowierung auf meinem Hals bewegt sich. Nein, das ist Unsinn. Tätowierungen bewegen sich nicht. Aber es sieht aus, als würde sie sich bewegen.

Ich schließe die Augen und atme tief ein. Eins, zwei, drei. Wie es Dr. Kellner mir beigebracht hat, bevor er verschwunden ist.

Als ich die Augen wieder öffne, ist alles normal. Die Tätowierung ist nur eine Tätowierung. Der Geruch ist weg.

Aber der Zettel liegt immer noch auf dem Tisch.

Ich schaue auf die Uhr. 15:30.

Zweieinhalb Stunden bis Marc. Zweieinhalb Stunden bis zu Antworten auf Fragen, die ich nicht mal stellen kann.

Ich gehe zum Schrank und hole meine Jacke. Leder, schwarz, mit Rissen an den Ellbogen. Sie hat schon bessere Tage gesehen, aber sie hält warm.

Unter der Jacke ist meine Waffe. Eine kleine Pistole, die ich von einem Toten gekriegt hab. Sie funktioniert. Das reicht.

Ich stecke den Zettel in die Tasche und gehe zur Tür.

Zone 6 wartet draußen. Mit all ihren Geheimnissen und Lügen.

Und Marc wartet auch.

Ich atme tief ein und gehe raus.

Die Jagd beginnt. Wieder.

Der Auftraggeber

Das Café Luna sieht aus wie alle anderen Cafés in Zone 6 – zu dunkel, zu schmutzig, zu laut. Aber es ist neutral. Hier fragt keiner nach Namen oder Vergangenheit. Hier kaufst du Kaffee und Schweigen.

Ich bin eine Stunde zu früh. Gewohnheit. Wer als Erster da ist, wählt den Platz, sieht die Ausgänge, kennt die Gesichter.

Ich setze mich in die Ecke, Rücken zur Wand, Blick zur Tür. Der Kaffee schmeckt wie warmes Wasser mit Benzin. Ich trinke ihn trotzdem.

17:45. Ich warte.

17:58. Die Tür geht auf.

Marc sieht genauso aus wie vor zwei Jahren. Graue Haare, zu teurer Anzug für Zone 6, Schuhe, die mehr kosten als meine Miete. Er lächelt, aber es erreicht seine Augen nicht.

Er setzt sich mir gegenüber. Bestellt Kaffee, obwohl wir beide wissen, dass er ihn nicht trinken wird.

„Finja.“

„Marc.“

Wir schauen uns an. Wie zwei Katzen, die um dasselbe Territorium kämpfen.

„Du siehst gut aus“, sagt er.

„Du lügst.“

Er lacht. Das Lachen ist echt. Das macht es noch schlimmer.

„Ich hab einen Auftrag für dich.“

„Ich bin raus.“

„Seit wann?“

„Seit du mich im Stich gelassen hast.“

„Das war kompliziert.“

„Bullshit.“

Der Kaffee kommt. Marc rührt Zucker rein, obwohl er keinen Zucker mag. Alte Gewohnheit. Wenn man nervös ist, macht man Sachen, die keinen Sinn ergeben.

„Hör zu“, sagt er. „Das hier ist anders.“

„Das sagst du immer.“

„Diesmal ist es wahr.“

Ich lehne mich zurück. Die Pistole unter meiner Jacke ist warm. Beruhigend.

„Erzähl.“

„Jemand hat was gestohlen. Etwas Wichtiges.“

„Was?“

„Eine Datei.“

„Welche Art von Datei?“

„Die Art, die Leute umbringt.“

Ich trinke einen Schluck Kaffee. Er ist kalt geworden. „Und?“

„Ich will, dass du sie zurückholst.“

„Wo ist sie?“

„Nordsektor.“

Ich verschlucke mich fast. „Nordsektor? Du meinst das Territorium der Eisernen Stille?“

„Ja.“

„Du bist verrückt.“

„Ich bin verzweifelt.“

Das ist neu. Marc ist nie verzweifelt. Marc ist derjenige, der andere verzweifelt macht.

„Wer hat sie gestohlen?“

„Das weißt du nicht?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Weil du dabei warst.“

Die Welt wird still. Nicht das normale Still von Zone 6. Das andere Still. Das Still, das in deinem Kopf passiert, wenn alles zusammenbricht.

„Was sagst du da?“

„Vor zwei Jahren. Die Nacht, an die du dich nicht erinnerst.“

„Ich erinnere mich an nichts.“

„Genau.“

Ich stehe auf. Zu schnell. Mein Stuhl fällt um. Andere Gäste schauen her. Ich setze mich wieder.

„Erklär das.“

„Du warst dabei, als die Datei gestohlen wurde. Du und zwei andere.“

„Wer?“

„Einer ist tot. Der andere ist verschwunden. Du bist die Einzige, die noch da ist.“

„Ich war dabei?“

„Ja.“

„Und ich erinnere mich nicht?“

„Nein.“

„Warum?“

„Das ist der Punkt. Das ist das, was wir rausfinden müssen.“

Mein Kopf fängt an zu schmerzen. Hinten, da wo die Haut besonders dünn ist. Wo die Tätowierung am dunkelsten ist.

„Was ist in der Datei?“

„Informationen über ein Projekt. Mnem.“

„Mnem?“

„Schon mal gehört?“

Hab ich. Aber ich weiß nicht woher. Es ist wie ein Wort, das du auf der Zunge hast, aber nicht aussprechen kannst.

„Vielleicht.“

„Vielleicht reicht.“

„Wie viel?“

„Fünfzigtausend.“

„Hundert.“

„Siebzig.“

„Deal.“

Wir geben uns die Hand. Seine ist weich. Zu weich. Meine ist hart. Zu hart.

„Wann fange ich an?“

„Jetzt.“

„Jetzt?“

„Die Datei ist in Bewegung. Wenn wir warten, ist sie weg.“

„Und wenn ich sage, nein?“

„Dann bist du in einer Woche tot.“

„Bedrohst du mich?“

„Ich warne dich.“

„Vor wem?“

„Vor den Leuten, die die Datei wollen.“

„Wer sind diese Leute?“

„Die Eiserne Stille ist nur der Anfang.“

Er steht auf. Legt Geld auf den Tisch. Zu viel Geld. Als würde er sich entschuldigen.

„Finja.“

„Was?“

„Pass auf dich auf.“

„Seit wann kümmerst du dich?“

„Seit immer.“

Er geht. Lässt mich mit dem kalten Kaffee und den heißen Fragen allein.

Ich schaue auf die Uhr. 18:30.

Nordsektor. Eiserne Stille. Eine gestohlene Datei, die ich gestohlen haben soll.

Und eine Vergangenheit, die aussieht wie ein schwarzes Loch.

Ich trinke den Kaffee aus. Er schmeckt immer noch scheiße.

Aber siebzigtausend sind siebzigtausend.

Ich stehe auf und gehe.

Zone 6 ist dunkel geworden. Aber Dunkelheit ist mein Freund.

Ich hab Arbeit zu erledigen.

Grenze Nord

Ich pack meine Sachen. Nicht viel – ein paar Klamotten, die Waffe, etwas Geld. Alles passt in einen Rucksack, den ich vor drei Jahren von einem Dealer gekauft hab. Er riecht immer noch nach Gras und Schweiß.

Nordsektor. Ich bin schon mal da gewesen. Vor langer Zeit. Als ich noch jung und dumm war. Damals hab ich gedacht, ich wäre unsterblich.

Jetzt weiß ich es besser.

Die Grenze zwischen Zone 6 und Nordsektor ist eine Mauer. Drei Meter hoch, mit Stacheldraht obendrauf. Aber Mauern sind für ehrliche Leute. Ich bin nicht ehrlich.

Ich kenne einen Weg. Durch die Kanalisation. Stinkt wie die Hölle, aber es funktioniert.

22:00. Die Straßen sind leer. Nur Dealer und Prostituierte sind noch draußen. Und Typen wie ich.

Ich gehe zur alten Textilfabrik. Vor zehn Jahren haben sie hier Kleider gemacht. Jetzt machen sie Platz für Ratten und Junkies.

Der Eingang zur Kanalisation ist im Keller. Ein Gully, der aussieht wie alle anderen. Aber er führt nach Norden.

Ich steige runter. Das Wasser ist kniehoch und kalt. Es riecht nach allem, was die Stadt nicht haben will. Ich atme durch den Mund. Hilft ein bisschen.

Der Tunnel ist lang. Zu lang. Ich gehe eine Stunde, dann noch eine. Meine Beine fangen an zu brennen. Die Tätowierungen auf meinen Armen kribbeln.

Ich bleibe stehen. Höre zu.

Da ist was. Ein Geräusch. Wie Schritte, aber… leiser. Als würde jemand versuchen, keine Schritte zu machen.

Ich drehe mich um. Der Tunnel ist leer. Natürlich ist er leer. Wer würde freiwillig hier runter gehen?

Ich gehe weiter.

Das Geräusch kommt wieder. Näher diesmal.

Ich ziehe die Waffe. Das Metall ist kalt und beruhigend. Ich lade durch. Das Geräusch echot in dem Tunnel wie ein Schuss.

„Wer ist da?“

Keine Antwort.

„Ich hab eine Waffe!“

Immer noch keine Antwort.

Ich warte. Fünf Minuten. Zehn.

Nichts.

Ich stecke die Waffe weg und gehe weiter.

Eine Stunde später erreiche ich den Nordsektor. Der Ausgang ist in einem Park. Nachts ist er verlassen. Tagsüber spielen hier Kinder, deren Eltern genug Geld haben, um in einem Park zu spielen.

Ich klettere raus. Meine Klamotten sind nass und stinken. Ich rieche wie ein Obdachloser. Perfekt. Obdachlose sind unsichtbar.

Nordsektor ist anders als Zone 6. Hier sind die Straßen sauber. Die Häuser sind ganz. Die Leute schauen dir in die Augen, wenn sie mit dir reden.

Ich hasse es hier.

Ich gehe durch die Straßen. Suche nach dem Gebäude, in dem die Datei sein soll. Marc hat mir eine Adresse gegeben. Bachstraße 47.

Ich finde es nach einer Stunde. Ein Bürogebäude. Zehn Stockwerke. Glas und Stahl. Sieht aus wie alles andere hier – zu sauber, zu perfekt.

Aber da ist was anderes. Wachen. Überall. Männer in schwarzen Uniformen, die aussehen, als würden sie gerne jemanden erschießen.

Eiserne Stille.

Ich hab von ihnen gehört. Fanatiker, die glauben, dass Ordnung wichtiger ist als Freiheit. Sie kontrollieren den Nordsektor mit eiserner Faust. Wer nicht pariert, verschwindet.

Ich beobachte das Gebäude zwei Stunden lang. Die Wachen wechseln jede Stunde. Immer vier Männer. Immer zur selben Zeit.

Um 02:00 ist Schichtwechsel. Dann hab ich fünf Minuten, in denen nur zwei Männer da sind.

Ich warte.

02:00. Die Wachen gehen rein. Zwei kommen raus.

Ich gehe zur Rückseite des Gebäudes. Hier ist es dunkler. Weniger Licht. Mehr Schatten.

Ich finde eine Feuerleiter. Rostig, aber stabil. Ich klettere hoch. Zum vierten Stock. Hier ist ein Fenster offen. Nur einen Spalt, aber es reicht.

Ich klettere rein.

Das Büro ist dunkel. Riecht nach Desinfektionsmittel und Angst. Ich mache meine Taschenlampe an. Der Strahl ist dünn, aber hell genug.

Ich durchsuche das Büro. Computer, Akten, Stifte. Nichts Besonderes. Nichts, was wie eine gestohlene Datei aussieht.

Ich gehe zum nächsten Büro. Dann zum nächsten.

Im fünften Büro finde ich ihn. Den Computer, der anders aussieht. Teurer. Wichtiger.

Ich schalte ihn an. Er braucht ein Passwort.

Ich tippe ein paar Sachen ein. „Passwort“, „123456“, „Eiserne Stille“. Nichts funktioniert.

Dann tippe ich „Mnem“.

Der Computer geht an.

Ich durchsuche die Dateien. Hunderte von ihnen. Aber eine ist anders. Größer. Verschlüsselt.

Ich kopiere sie auf einen USB-Stick.

Hinter mir ist ein Geräusch. Schritte. Echte Schritte diesmal.

Ich drehe mich um.

Ein Mann steht in der Tür. Große Gestalt, schwarze Uniform. Aber kein Gesicht. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Es ist da, aber es ist nicht da.

„Wer bist du?“ frage ich.

Er antwortet nicht. Macht keinen Schritt vorwärts. Macht keinen Schritt zurück.

Ich ziehe die Waffe. „Ich schieße!“

Er bewegt sich immer noch nicht.

Ich schieße.

Der Schuss echot durch das Gebäude. Aber der Mann ist weg. Als wäre er nie da gewesen.

Ich höre Schritte. Viele Schritte. Von unten.

Ich renne zum Fenster. Klettere raus. Rutsche die Feuerleiter runter. Meine Hände brennen von dem Metall.

Ich renne durch die Straßen. Zurück zum Park. Zurück zum Tunnel.

Hinter mir sind Stimmen. Rufe. Aber ich bin schon weg.

Ich springe in den Tunnel. Das Wasser ist kälter als vorher. Oder ich bin heißer.

Ich renne durch das Wasser. Stolpere. Stehe auf. Renne weiter.

Eine Stunde später bin ich zurück in Zone 6. Sicher. Vorerst.

Ich schaue auf den USB-Stick in meiner Hand. Klein. Unscheinbar.

Aber wichtig genug, dass jemand dafür töten würde.

Ich gehe nach Hause. Meine Wohnung riecht nach Pisse und kaltem Schweiß. Wie immer.

Aber jetzt riecht sie auch nach Angst.

Meiner Angst.

Der Mann ohne Echo

Ich kann nicht schlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn. Den Mann ohne Gesicht. Ohne Schatten. Ohne… alles.

05:30. Draußen wird es langsam hell. Zone 6 wacht auf. Kinder schreien, Hunde bellen, Junkies kotzen. Die Symphonie der Verdammten.

Ich stehe auf und gehe zur Küche. Mache Kaffee. Meine Hände zittern. Nicht viel, aber genug.

Der USB-Stick liegt auf dem Tisch. Ich hab ihn die ganze Nacht angestarrt. Als würde er mir Antworten geben.

Tut er nicht.

Ich stecke ihn in meinen Laptop. Ein altes Ding, das ich vor Jahren gekauft hab. Aber es funktioniert.

Die Datei ist da. Verschlüsselt. Ich hab keine Ahnung, wie ich sie öffnen soll.

Ich rufe Marc an. Kein Anschluss. Natürlich. Marc ist nur da, wenn er dich braucht.

Ich dusche. Das Wasser ist kalt. Immer kalt. Aber es hilft beim Denken.

Der Mann ohne Gesicht. Wer war das? Was war das?

Ich ziehe mich an. Jeans, T-Shirt, Jacke. Die Uniform der Verlorenen.

Ein Klopfen an der Tür. Nicht das normale Klopfen. Das rhythmische Klopfen von gestern.

Drei kurz, zwei lang, drei kurz.

Ich gehe zur Tür. Schaue durch den Spion. Der Flur ist leer.

Ich öffne die Tür. Niemand da. Aber auf dem Boden liegt ein Zettel.

Ich nehme ihn mit rein. Schließe die Tür. Alle drei Schlösser.

Der Zettel ist anders als gestern. Billiges Papier. Schmutzig. Wie aus Zone 6.

Ich falte ihn auf.

„Du wirst verfolgt. Pass auf. – Ein Freund.“

Ich schaue durch das Fenster. Die Straße ist normal. Kinder, Hunde, Junkies. Nichts Besonderes.

Aber da ist was. Ein Gefühl. Als würde jemand zuschauen.

Ich gehe zum Schrank. Hole meine zweite Waffe. Eine größere. Für größere Probleme.

Ich stecke sie in den Gürtel. Unter die Jacke.

Dann gehe ich raus.

Die Straße ist voll. Zu voll. Ich kenne die Gesichter hier. Jedes einzelne. Aber heute sind neue dabei. Gesichter, die nicht hierhergehören.

Ich gehe zum Café Luna. Vielleicht ist Marc da. Vielleicht hat er Antworten.

Das Café ist leer. Nur der Besitzer ist da. Ein alter Mann, der aussieht wie ein Vampir.

„Haben Sie Marc gesehen?“ frage ich.

„Wer?“

„Grauer Mann. Teurer Anzug.“

„Ach, den. Nein. Seit gestern nicht.“

Ich bestelle Kaffee. Setze mich in die Ecke. Warte.

Eine Stunde später kommt er. Der Mann ohne Gesicht.

Er steht vor dem Café und schaut rein. Ich kann ihn sehen, aber… nicht richtig. Es ist, als würde er da sein und nicht da sein zur gleichen Zeit.

Ich stehe auf. Gehe zur Tür.

Er ist weg.

Ich gehe raus. Schaue nach links, nach rechts. Nichts.

Dann höre ich ihn. Schritte. Aber keine Geräusche. Schritte, die still sind.

Ich drehe mich um. Er steht hinter mir. Zwei Meter entfernt. Zu nah.

„Was willst du?“ frage ich.

Er antwortet nicht. Bewegt sich nicht.

Ich ziehe die Waffe. „Ich schieße!“

Er macht einen Schritt vorwärts. Keinen Schritt. Ich weiß nicht, wie das geht. Aber er ist näher.

Ich schieße.

Die Kugel geht durch ihn durch. Als wäre er aus Luft.

Er macht noch einen Schritt. Keinen Schritt.

Ich renne.

Durch die Straßen von Zone 6. Vorbei an Kindern und Hunden und Junkies. Sie schauen mich an, als wäre ich verrückt.

Vielleicht bin ich das.

Ich renne eine Stunde. Dann noch eine. Meine Lungen brennen. Meine Beine auch.

Ich bleibe stehen. Schaue zurück.

Nichts. Niemand folgt mir.

Ich bin in der Altstadt. Hier ist es ruhiger. Ältere Häuser. Ältere Geheimnisse.

Ich gehe zu einem Café. Bestelle Kaffee. Meine Hände zittern immer noch.

„Geht’s Ihnen gut?“ fragt die Kellnerin.

„Ja. Nur müde.“

„Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.“

„Vielleicht hab ich das.“

Sie lacht. „Hier gibt’s keine Geister. Nur Verrückte.“

„Was ist der Unterschied?“

„Verrückte kann man erschießen.“

Ich trinke den Kaffee. Er schmeckt besser als in Zone 6. Alles schmeckt besser als in Zone 6.

Ich denke an den Mann ohne Gesicht. Wer war das? Was war das?

Und warum kann ich durch ihn durchschießen?

Mein Handy klingelt. Unbekannte Nummer.

„Ja?“

„Finja?“

„Wer ist da?“

„Jemand, der helfen will.“

„Wer?“

„Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass du in Gefahr bist.“

„Das weiß ich.“

„Nein. Du weißt nicht, wie groß die Gefahr ist.“

„Dann erzähl.“

„Nicht am Telefon. Treffen wir uns.“

„Wo?“

„Tiefzone. Eingang bei der alten Kirche. Mitternacht.“

„Woher soll ich wissen, dass du nicht einer von denen bist?“

„Weil ich dir schon mal geholfen hab.“

„Wann?“

„Vor zwei Jahren. In der Nacht, an die du dich nicht erinnerst.“

Die Leitung wird tot.

Ich schaue auf die Uhr. 16:30. Achteinhalb Stunden bis Mitternacht.

Achteinhalb Stunden, um zu entscheiden, ob ich dem Fremden traue.

Oder ob ich renne.

Ich trinke den Kaffee aus.

Rennen war noch nie meine Stärke.

Verhörzelle 17

Ich gehe nach Hause. Meine Wohnung riecht nach Angst und kaltem Schweiß. Wie immer.

Aber diesmal ist es anders. Diesmal riecht sie auch nach Erinnerungen.

Ich setze mich aufs Bett. Schaue an die Decke. Da sind Flecken. Wasserflecken. Oder Blutflecken. Ich hab nie gefragt.

Ich schließe die Augen. Versuche, mich zu erinnern.

Vor zwei Jahren. Die Nacht, an die ich mich nicht erinnere.

Aber es ist, als würde ich versuchen, Wasser zu greifen. Nichts da.

Dann ist da was. Ein Geräusch. Wie Schritte. Aber nicht richtige Schritte.

Ich öffne die Augen. Meine Wohnung ist leer. Natürlich ist sie leer.

Aber das Geräusch ist da. In meinem Kopf.

Ich gehe zum Badezimmer. Schaue in den Spiegel. Mein Gesicht ist müde. Zu müde für achtundzwanzig Jahre.

Die Tätowierung auf meinem Hals kribbelt. Wie immer, wenn ich nervös bin.

Ich schaue genauer hin. Die Linien sehen aus wie eine Karte. Aber von was?

Plötzlich bin ich nicht mehr in meiner Wohnung.

Ich bin in einer Zelle. Vier Wände. Kein Fenster. Eine Lampe, die zu hell ist.

Verhörzelle 17.

Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Aber ich weiß es.

Ich sitze auf einem Stuhl. Meine Hände sind gefesselt. Jemand sitzt mir gegenüber. Ein Mann in einem weißen Kittel.

„Finja“, sagt er. „Hörst du mich?“

Ich will antworten, aber meine Stimme funktioniert nicht. Als wäre sie weggenommen worden.

„Das ist normal“, sagt der Mann. „Die Behandlung braucht Zeit.“

Behandlung? Welche Behandlung?

Er hält etwas in der Hand. Ein Gerät. Sieht aus wie ein Tablet, aber anders. Die Oberfläche glüht.

„Projekt Mnem“, sagt er. „Du bist Nummer 47.“

Mnem. Das Wort brennt in meinem Kopf.

„Wir werden deine Erinnerungen neu ordnen“, sagt er. „Die schlechten entfernen. Die guten verstärken.“

Ich will schreien. Kann nicht.

„Keine Sorge“, sagt er. „Du wirst dich an nichts erinnern.“

Das Gerät in seiner Hand wird heller. Mein Kopf fängt an zu brennen.

Dann bin ich wieder in meiner Wohnung.

Im Badezimmer. Vor dem Spiegel. Mein Gesicht ist schweißnass.

Die Erinnerung ist weg. Aber das Gefühl bleibt. Das Gefühl von kaltem Metall an meinen Handgelenken. Von Licht, das zu hell ist.

Ich schaue auf die Uhr. 19:30. Viereinhalb Stunden bis zu dem Treffen.

Ich gehe zur Küche. Mache Essen. Dosenravioli. Schmeckt wie Pappe, aber es ist billig.

Während ich esse, denke ich nach. Projekt Mnem. Verhörzelle 17. Der Mann im weißen Kittel.

War das echt? Oder träume ich?

Mein Handy klingelt. Marc.

„Wo bist du?“ frage ich.

„Beschäftigt.“

„Ich hab die Datei.“

„Gut. Bring sie mir.“

„Wo?“

„Nicht am Telefon. Treffen wir uns morgen.“

„Marc.“

„Was?“

„Was ist Projekt Mnem?“

Stille. Zu lange Stille.

„Woher kennst du den Namen?“

„Das spielt keine Rolle. Was ist es?“

„Etwas, was nicht existieren sollte.“

„Aber es existiert.“

„Nicht mehr.“

„Was ist mit den Leuten, die daran gearbeitet haben?“

„Tot. Verschwunden. Oder verrückt.“

„Und ich?“

„Du warst nie dabei.“

„Lügner.“

„Finja…“

„Verhörzelle 17. Sagt dir das was?“

Wieder Stille.

„Ich muss Schluss machen.“

„Marc!“

Aber er ist weg.

Ich werfe das Handy gegen die Wand. Es bricht nicht. Schade.

22:00. Zwei Stunden bis zu dem Treffen.

Ich packe meine Sachen. Waffen, Geld, den USB-Stick. Alles, was ich zum Überleben brauche.

Die alte Kirche ist eine halbe Stunde zu Fuß. Durch die dunklen Straßen der Altstadt.

Ich gehe raus. Zone 6 ist nachts anders. Gefährlicher. Ehrlicher.

Die Prostituierten stehen an den Straßenecken. Ihre Gesichter sind wie Masken. Zu viel Makeup, zu wenig Hoffnung.

Die Dealer verkaufen Träume und Albträume. Gleicher Preis für beides.

Die Junkies kaufen beides.

Ich gehe vorbei. Bin kein Kunde für das, was sie verkaufen.

Die alte Kirche ist ein Skelett aus Stein. Vor hundert Jahren haben hier Leute gebetet. Jetzt beten hier nur noch Ratten.

Der Eingang zur Tiefzone ist hinter der Kirche. Ein Gully, der aussieht wie alle anderen. Aber dieser führt nach unten. Weit nach unten.

23:45. Ich bin früh. Gewohnheit.

Ich warte. Schaue zu, wie die Schatten länger werden.

00:00. Mitternacht.

Schritte. Echte Schritte diesmal. Mit Geräusch.

Eine Frau kommt aus der Dunkelheit. Mittleren Alters, kurze Haare, Arbeitskleidung. Sieht aus wie jemand, der mit ihren Händen arbeitet.

„Finja?“

„Ja.“

„Ich bin Teyla.“

„Woher kennst du mich?“

„Lange Geschichte. Hast du Zeit?“

„Hab ich was anderes?“

Sie lächelt. Das erste echte Lächeln, das ich seit Tagen gesehen hab.

„Komm mit“, sagt sie.

Sie geht zum Gully. Steigt runter. Ich folge ihr.

Die Tiefzone ist anders als die Kanalisation. Hier ist es trocken. Und warm. Und… sicher.

„Willkommen in der Unterwelt“, sagt Teyla.

Flucht in die Tiefzone

Die Tiefzone ist größer als ich gedacht hab. Kilometer von Tunneln und Höhlen, die unter der Stadt liegen wie ein zweites Nervensystem.

Teyla führt mich durch das Labyrinth. Sie kennt jeden Weg. Jeden Abzweig. Als wäre sie hier geboren.

„Wie lange bist du schon hier unten?“ frage ich.

„Fünfzehn Jahre.“

„Warum?“

„Oben ist gefährlicher.“

Wir gehen eine Stunde lang. Vorbei an verlassenen U-Bahn-Stationen, alten Luftschutzräumen, Kellern, die vergessen wurden.

„Hier“, sagt Teyla. Sie zeigt auf eine Tür. Rostig, aber stabil.

Wir gehen rein.

Der Raum ist wie eine Bibliothek. Aber statt Büchern sind da Karten. Hunderte von Karten. An den Wänden, auf dem Boden, an der Decke.

„Mein Zuhause“, sagt Teyla.

„Du bist Kartographin.“

„Ja. Kartographin der vergessenen Wege.“

Sie geht zu einem Tisch. Darauf liegt eine Karte der Stadt. Aber nicht die Stadt, wie sie oben ist. Die Stadt, wie sie unten ist.

„Warum hast du mich hergebracht?“ frage ich.

„Weil du Hilfe brauchst.“

„Woher weißt du das?“

„Weil du verfolgt wirst.“

„Von wem?“

„Von jemandem, der keine Spuren hinterlässt.“

„Du meinst den Mann ohne Gesicht.“

„Du hast ihn gesehen?“

„Ja. Aber ich konnte durch ihn durchschießen.“

„Das ist normal.“

„Normal?“

„Er ist nicht ganz da.“

„Was meinst du?“

„Er ist ein Echo. Ein Überbleibsel von etwas, was mal war.“

Ich setze mich auf einen Stuhl. Mein Kopf tut weh. Zu viele Informationen. Zu wenig Sinn.

„Erzähl mir von Projekt Mnem“, sagt Teyla.

„Woher weißt du davon?“

„Ich weiß viele Dinge.“

„Ich weiß nichts darüber.“

„Lügst du mich an?“

„Nein. Ich erinnere mich nicht.“

„Warum nicht?“

„Das ist das Problem.“

Sie geht zu einer anderen Karte. Diese zeigt nicht Straßen oder Gebäude. Diese zeigt… ich weiß nicht, was sie zeigt.

„Das sind Erinnerungswege“, sagt sie.

„Was?“

„Wege, die Erinnerungen nehmen. In deinem Kopf.“

„Das ist Unsinn.“

„Ist es das?“

Sie kommt zu mir. Schaut auf meinen Hals. Auf die Tätowierung.

„Zeig mir deinen Arm“, sagt sie.

Ich ziehe die Jacke aus. Meine Arme sind voller Tätowierungen. Linien, Kreise, Symbole.

„Mein Gott“, sagt sie.

„Was?“

„Das sind keine normalen Tätowierungen.“

„Was sind sie dann?“

„Karten.“

„Karten wovon?“

„Von den Versorgungsrouten. Den alten.“

„Welche Versorgungsrouten?“

„Die, die seit zwanzig Jahren verschüttet sind.“

Ich schaue auf meine Arme. Die Linien sehen aus wie Straßen. Wie Wege. Wie…

„Das ist unmöglich“, sage ich.

„Warum?“

„Weil ich sie nicht gemacht hab.“

„Wer dann?“

„Ich weiß es nicht.“

Teyla geht zu einem Schrank. Holt eine Lupe raus. Schaut sich meine Tätowierungen genauer an.

„Die sind alt“, sagt sie. „Mindestens zwei Jahre.“

„Das kann nicht sein.“

„Warum nicht?“

„Weil ich mich erinnern würde.“

„Nicht, wenn dein Gedächtnis gelöscht wurde.“

Das Wort ‚gelöscht‘ echot in meinem Kopf. Wie ein Schuss in einem leeren Raum.

„Projekt Mnem“, sage ich.

„Ja.“

„Sie haben mein Gedächtnis gelöscht.“

„Nicht gelöscht. Neu organisiert.“

„Was ist der Unterschied?“

„Die Erinnerungen sind noch da. Du kannst nur nicht darauf zugreifen.“

„Wie kriege ich sie zurück?“

„Das ist gefährlich.“

„Warum?“

„Weil es einen Grund gibt, warum sie entfernt wurden.“

Ich stehe auf. Gehe zur Karte an der Wand. Schaue auf die Linien und Symbole.

„Warum hilfst du mir?“ frage ich.

„Weil ich dabei war.“

„Wobei?“

„In der Nacht, an die du dich nicht erinnerst.“

Ich drehe mich um. Schaue sie an. Wirklich an.

„Wer bist du?“

„Jemand, der einen Fehler gemacht hat.“

„Welchen Fehler?“

„Ich hab dir vertraut.“

„Mir?“

„Du warst anders. Vor zwei Jahren.“

„Wie anders?“

„Kälter. Grausamer.“

„Und jetzt?“

„Jetzt bist du menschlich.“

Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist.

„Teyla.“

„Ja?“

„Die Datei, die ich gestohlen hab. Was ist da drin?“

„Die Namen.“

„Welche Namen?“

„Von allen, die an Projekt Mnem gearbeitet haben.“

„Und?“

„Von allen, die Opfer waren.“

„Wie viele Opfer?“

„Hunderte.“

Ich setze mich wieder hin. Meine Beine sind schwach geworden.

„Bin ich ein Opfer?“

„Du bist kompliziert.“

„Was meinst du?“

„Du warst beides. Opfer und Täter.“

Das ist, als würde jemand einen Eimer kaltes Wasser über mich schütten.

„Ich hab anderen Menschen das angetan?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil sie dir gesagt haben, dass es richtig ist.“

„Wer sind ’sie‘?“

„Das wirst du herausfinden.“

Teyla geht zum Tisch. Nimmt eine kleine Karte und gibt sie mir.

„Das ist der Weg zum Archivisten“, sagt sie.

„Wer ist das?“

„Jemand, der die Wahrheit kennt.“

„Warum gehst du nicht mit mir?“

„Weil er mich nicht sehen will.“

„Warum nicht?“

„Weil ich die bin, die ihn verraten hat.“

Ich nehme die Karte. Sie ist warm. Als wäre sie lebendig.

„Finja.“

„Ja?“

„Pass auf dich auf. Die Wahrheit kann töten.“

„Ist sie das wert?“

„Das musst du entscheiden.“

Ich stehe auf. Gehe zur Tür.

„Finja.“

Ich drehe mich um.

„Wenn du die Wahrheit findest“, sagt sie, „vergib mir.“

„Wofür?“

„Das wirst du verstehen.“

Ich gehe raus. Zurück in die Tunnel. Zurück in die Dunkelheit.

Aber jetzt hab ich eine Karte. Und ein Ziel.

Der Archivist wartet.

Karten aus Haut

Der Weg zum Archivisten führt tiefer in die Tiefzone. Vorbei an Orten, die aussehen wie aus einem Albtraum.

Ich folge Teylas Karte. Jede Markierung bringt mich weiter nach unten. Weiter weg von der Welt oben.

Nach zwei Stunden erreiche ich eine Tür. Metall, verrostet, mit einem Symbol darauf. Einem Symbol, das ich kenne, aber nicht einordnen kann.

Ich klopfe.

„Wer ist da?“ Die Stimme ist alt. Brüchig.

„Finja. Teyla hat mich geschickt.“

„Teyla…“ Die Stimme wird leiser. „Die kleine Verräterin.“

„Sie hat gesagt, Sie kennen die Wahrheit.“

„Wahrheit? Welche Wahrheit? Es gibt so viele.“

„Über Projekt Mnem.“

Stille. Dann das Geräusch von Schlössern, die aufgehen. Viele Schlösser.

Die Tür öffnet sich.

Der Mann, der davorsteht, sieht aus wie ein Gespenst. Dünne weiße Haare, blasse Haut, Augen, die zu viel gesehen haben.

„Kommen Sie rein“, sagt er. „Aber schnell. Die Wände haben Ohren.“

Ich gehe rein. Der Raum ist voller Bildschirme. Hunderte von ihnen. Auf jedem läuft was anderes. Zahlen, Buchstaben, Bilder.

„Willkommen in meinem Reich“, sagt er. „Ich bin der Archivist. Früher hieß ich Janus Korr.“

„Was machen Sie hier?“

„Ich sammle. Alles, was vergessen werden soll.“

Er geht zu einem der Bildschirme. Tippt etwas ein. Ein Video erscheint.

Ich sehe mich selbst. Aber anders. Jünger. Die Haare länger. Die Augen kälter.

„Das sind Sie“, sagt Janus. „Vor zwei Jahren.“

Ich im Video sitze in einem Raum. Weiße Wände, weiße Decke, weißer Boden. Vor mir sitzt ein Mann. Derselbe Mann aus meiner Erinnerung. Der Mann im weißen Kittel.

„Finja“, sagt er im Video. „Heute ist ein wichtiger Tag.“

„Warum?“ antworte ich im Video.

„Heute vergessen Sie alles.“

Ich schaue weg vom Bildschirm. „Ausschalten.“

„Nein“, sagt Janus. „Sie müssen das sehen.“

„Ich will nicht.“

„Aber Sie müssen.“

Ich im Video stehe auf. Gehe zu einer Wand. Darauf ist eine Karte. Eine große Karte der Stadt.

„Die Versorgungsrouten“, sage ich im Video.

„Ja“, sagt der Mann im Kittel. „Sie haben sie memoriert.“

„Alle?“

„Alle.“

„Und jetzt?“

„Jetzt übertragen wir sie.“

„Wohin?“

„Auf Ihre Haut.“

Das Video stoppt.

„Was bedeutet das?“ frage ich.

„Sie waren ein Speicher“, sagt Janus. „Ein menschlicher Computer.“

„Für was?“

„Für Informationen, die zu wichtig waren, um sie normal zu speichern.“

„Welche Informationen?“

„Karten. Pläne. Geheimnisse.“

Janus geht zu einem anderen Bildschirm. Tippt wieder etwas ein. Eine andere Aufnahme erscheint.

Diesmal bin nicht ich es. Diesmal ist es Teyla. Auch jünger. Auch anders.

„Sie haben uns alle benutzt“, sagt Janus. „Als lebende Festplatten.“

„Wer sind ’sie‘?“

„Die Regierung. Das Militär. Konzerne. Jeder, der Geheimnisse hatte.“

„Und das Projekt?“

„Wurde zu gefährlich. Zu viele Leute wussten zu viel.“

„Also haben sie es beendet.“

„Sie haben versucht, es zu beenden.“

„Was meinst du?“

„Einige von uns sind entkommen.“

Janus zeigt auf seine Schläfe. Dort ist eine Narbe. Klein, aber tief.

„Ich hab mein eigenes Gedächtnis gelöscht. Teilweise.“

„Warum?“

„Weil das, was ich wusste, zu gefährlich war.“

„Und ich?“

„Sie haben Ihnen ein neues Gedächtnis gegeben. Ein harmloses.“

„Aber die Tätowierungen sind geblieben.“

„Ja. Die konnten sie nicht entfernen, ohne Sie zu töten.“

Ich schaue auf meine Arme. Die Linien und Symbole. Jetzt verstehe ich. Es sind Karten. Echte Karten.

„Was für Informationen trage ich?“

„Das müssen Sie selbst herausfinden.“

„Wie?“

„Indem Sie den Karten folgen.“

„Wohin führen sie?“

„Zu den Orten, an die Sie sich nicht erinnern.“

Janus geht zu einem Schrank. Holt eine Kamera raus. Eine alte.

„Das hier hab ich vor zwei Jahren aufgenommen“, sagt er. „In der Nacht, als alles schiefgelaufen ist.“

Er zeigt mir das Foto.

Ich sehe mich. Teyla. Und einen dritten Mann. Wir stehen vor einem Gebäude. Einem Gebäude, das ich kenne.

„Das ist das Gebäude im Nordsektor“, sage ich.

„Ja.“

„Wir haben die Datei gestohlen.“

„Nein. Sie haben sie zurückgeholt.“

„Was?“

„Die Datei gehörte ursprünglich Ihnen. Ihnen allen.“

„Ich verstehe nicht.“

„Es sind die Aufzeichnungen von Projekt Mnem. Alle Namen. Alle Opfer. Alle Täter.“

„Und jetzt?“

„Jetzt ist sie wieder in den falschen Händen.“

„In wessen Händen?“

„In den Händen derer, die das Projekt finanziert haben.“

Mein Kopf fängt an zu schmerzen. Zu viele Informationen. Zu wenig Zeit.

„Janus.“

„Ja?“

„Der Mann ohne Gesicht. Wer ist das?“

„Ein Nebenprodukt.“

„Wovon?“

„Von dem Versuch, perfekte Soldaten zu schaffen.“

„Soldaten?“

„Soldaten ohne Erinnerungen. Ohne Angst. Ohne Gewissen.“

„Und er jagt mich.“

„Er jagt jeden, der mit dem Projekt zu tun hatte.“

„Warum?“

„Weil das seine Programmierung ist.“

Ich stehe auf. Gehe zur Tür.

„Wo gehen Sie hin?“ fragt Janus.

„Die Datei zurückholen.“

„Das ist Selbstmord.“

„Vielleicht. Aber es ist das Richtige.“

„Wie wollen Sie das machen?“

„Indem ich den Karten folge.“

„Welchen Karten?“

Ich zeige auf meine Arme.

„Den Karten auf meiner Haut.“

Der Archivist

Janus schaut mich an, als wäre ich verrückt geworden. „Sie können die Karten nicht lesen.“

„Warum nicht?“

„Weil sie verschlüsselt sind.“

„Wie entschlüssele ich sie?“

„Das weiß nur einer.“

„Wer?“

„Dr. Henning. Der Mann im weißen Kittel.“

„Ist er noch am Leben?“

„Das weiß ich nicht.“

„Wo finde ich ihn?“

„Das ist das Problem. Er ist verschwunden. Vor zwei Jahren. In derselben Nacht.“

Ich setze mich wieder hin. Meine Beine sind müde. Mein Kopf auch.

„Gibt es noch andere Möglichkeiten?“

„Eine.“

„Welche?“

„Es gibt jemanden, der die Karten lesen kann.“

„Wer?“

„Ein Kind. In der Außenzone.“

„Ein Kind?“

„Ja. Aber es ist… besonders.“

„Wie besonders?“

„Es kann Dinge, die es nicht können sollte.“

Janus geht zu einem anderen Bildschirm. Tippt etwas ein. Ein Foto erscheint.

Ein kleines Mädchen. Neun oder zehn Jahre alt. Dunkle Haare, große Augen. Sieht normal aus.

„Das ist sie“, sagt Janus.

„Wie heißt sie?“

„Das weiß niemand. Sie spricht nicht.“

„Wie kann sie dann helfen?“

„Sie summt.“

„Was?“

„Sie summt Melodien. Und diese Melodien… sie bedeuten etwas.“

„Was bedeuten sie?“

„Koordinaten. Orte. Geheimnisse.“

Ich schaue das Foto genauer an. Das Kind sieht so normal aus. So unschuldig.

„Wo finde ich sie?“

„In der Außenzone. Sektor 12.“

„Das ist am anderen Ende der Stadt.“

„Ja.“

„Wie komme ich da hin?“

„Durch die Tunnel. Aber es ist gefährlich.“

„Warum?“

„Weil er da ist.“

„Wer?“

„Der Mann ohne Gesicht.“

„Er ist überall.“

„Nein. Er ist nur dort, wo Sie hingehen.“

„Was meinst du?“

„Er folgt Ihnen. Immer.“

Das erklärt vieles. Die Schritte, die keine Schritte sind. Das Gefühl, beobachtet zu werden.

„Warum folgt er mir?“

„Weil Sie der Schlüssel sind.“

„Zu was?“

„Zu allem.“

Janus geht zu einem Schrank. Holt eine kleine Box raus. Gibt sie mir.

„Was ist das?“

„Ein Scanner. Für Ihre Tätowierungen.“

„Wie funktioniert er?“

„Halten Sie ihn über die Linien. Er zeigt Ihnen, was sie bedeuten.“

Ich nehme die Box. Sie ist schwer. Und warm.

„Janus.“

„Ja?“

„Warum hilfst du mir?“

„Weil ich schuld bin.“

„Woran?“

„An allem. Ich hab das Projekt entwickelt.“

Das ist wie ein Schlag in den Magen.

„Du hast Projekt Mnem entwickelt?“

„Ja.“

„Du hast Menschen zu Speichern gemacht?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil ich dachte, es wäre richtig.“

„Und jetzt?“

„Jetzt weiß ich, dass es falsch war.“

„Deshalb hilfst du mir.“

„Ja.“

Ich stehe auf. Gehe zur Tür.

„Finja.“

„Was?“

„Das Kind in der Außenzone. Seien Sie vorsichtig.“

„Warum?“

„Weil sie mehr weiß, als gut für sie ist.“

„Was meinst du?“

„Sie ist wie Sie. Ein Speicher.“

„Für was?“

„Für alles, was verloren gegangen ist.“

Ich öffne die Tür.

„Janus.“

„Ja?“

„Wenn ich das hier überlebe“, sage ich, „dann erzählst du mir alles.“

„Alles?“

„Alles. Auch die Teile, die du vergessen hast.“

„Das wird wehtun.“

„Mir oder dir?“

„Uns beiden.“

Ich gehe raus. Zurück in die Tunnel. Zurück in die Dunkelheit.

Aber jetzt hab ich einen Plan. Und ein Ziel.

Das Kind in der Außenzone wartet.

Und vielleicht hat sie die Antworten, die ich brauche.

Der Scanner in meiner Tasche ist warm. Als würde er leben.

Wie die Karten auf meiner Haut.

Stimmenfänger

Die Außenzone ist das Ende der Welt. Hier hört die Stadt auf und fängt das Nichts an.

Ich brauch sechs Stunden, um durch die Tunnel zu kommen. Sechs Stunden in der Dunkelheit, mit nur dem Gefühl, dass er mich verfolgt.

Der Mann ohne Gesicht.

Ich höre ihn nicht. Sehe ihn nicht. Aber ich spüre ihn.

Sektor 12 ist ein Friedhof aus rostigen Containern und zerbrochenen Träumen. Hier leben die, die nirgendwo anders leben können.

Es ist 06:00, als ich ankomme. Die Sonne geht gerade auf. Aber hier ist sie grau. Wie alles andere.

Ich frage herum. Nach einem Kind, das nicht spricht. Das nur summt.

„Ah, die kleine Verrückte“, sagt eine alte Frau. „Die ist bei den Müllcontainern.“

„Welche Müllcontainer?“

„Am Ende. Da, wo niemand hingeht.“

Ich gehe dorthin. Vorbei an Menschen, die aussehen wie Gespenster. Vorbei an Kindern, die zu alt sind für ihr Alter.

Die Müllcontainer stehen in einer Reihe. Wie Soldaten. Aber Soldaten, die den Krieg verloren haben.

Ich höre sie, bevor ich sie sehe.

Ein Summen. Leise, aber klar. Eine Melodie, die ich nicht kenne, aber trotzdem erkenne.

Sie sitzt auf einem der Container. Das Kind aus dem Foto. Dunkle Haare, große Augen. Aber in echt ist sie noch kleiner. Noch zerbrechlicher.

„Hallo“, sage ich.

Sie hört auf zu summen. Schaut mich an. Ihre Augen sind alt. Zu alt für ein Kind.

„Ich heiße Finja.“

Sie antwortet nicht. Aber sie nickt.

„Ich brauch deine Hilfe.“

Sie neigt den Kopf. Wie ein Vogel.

Ich zeige ihr meinen Arm. Die Tätowierungen.

„Kannst du das lesen?“

Sie springt vom Container runter. Kommt zu mir. Schaut auf die Linien und Symbole.

Dann fängt sie wieder an zu summen.

Aber diesmal ist es anders. Diesmal ist die Melodie… bekannt.

Ich hol den Scanner raus. Halte ihn über meine Tätowierung.

Das Display leuchtet auf. Zahlen erscheinen. Koordinaten.

„Das sind Orte“, sage ich.

Das Kind nickt.

„Welche Orte?“

Sie zeigt in eine Richtung. Nach Norden.

„Dahin?“

Sie nickt wieder.

„Was ist da?“

Sie öffnet ihren Mund. Als würde sie sprechen wollen. Aber kein Ton kommt raus.

Stattdessen summt sie wieder.

Diesmal erkenne ich die Melodie. Es ist ein Kinderlied. Eins, das ich als Kind gehört, hab. Bevor… bevor alles schiefgelaufen ist.

„Du kennst mich“, sage ich.

Sie nickt.

„Woher?“

Sie zeigt auf ihren Kopf. Dann auf meinen.

„Du hast meine Erinnerungen?“

Sie nickt.

„Wie?“

Sie zeigt auf ihre Augen. Dann auf meine Tätowierungen.

Plötzlich verstehe ich. Sie ist wie ich. Ein Speicher. Aber nicht für Karten oder Pläne.

Sie ist ein Speicher für Erinnerungen.

„Du sammelst sie“, sage ich.

Sie nickt.

„Die Erinnerungen von allen.“

Sie nickt wieder.

„Auch meine.“

Sie summt. Eine traurige Melodie diesmal.

Ich setze mich neben sie. Auf den Boden. Zwischen den Müllcontainern.

„Kannst du mir zeigen?“

Sie schaut mich an. Lange. Als würde sie abwägen.

Dann legt sie ihre Hand auf meine.

Und plötzlich bin ich woanders.

Ich bin in einem Labor. Weiße Wände, weiße Decke, weiße Geräte. Alles ist zu hell.

Ich sitze auf einem Stuhl. Meine Hände sind gefesselt. Vor mir steht Dr. Henning.

„Finja“, sagt er. „Heute ist ein wichtiger Tag.“

„Ich will nicht“, sage ich.

„Du hast keine Wahl.“

„Ich bin kein Versuchskaninchen.“

„Du bist viel mehr als das.“

Er hält ein Gerät in der Hand. Sieht aus wie eine Tätowiermaschine. Aber es ist anders. Es glüht.

„Das wird wehtun“, sagt er.

„Ich hasse dich.“

„Das ist normal.“

Er setzt das Gerät an meinen Arm. Ich schreie.

Dann bin ich wieder in der Außenzone. Neben dem Kind.

Mein Arm brennt. Als wäre die Erinnerung echt.

„Das war real“, sage ich.

Das Kind nickt.

„Wann war das?“

Sie hält drei Finger hoch. Dann zeigt sie auf den Himmel.

„Vor drei Tagen?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Vor drei Jahren?“

Sie nickt.

Drei Jahre. Nicht zwei. Ich hab ein ganzes Jahr verloren.

„Was ist in dem Jahr passiert?“

Sie summt wieder. Eine andere Melodie. Dunkel. Bedrohlich.

Der Scanner in meiner Hand vibriert. Ich schaue aufs Display. Neue Koordinaten erscheinen.

„Das ist ein anderer Ort“, sage ich.

Das Kind steht auf. Zeigt in eine andere Richtung. Nach Süden.

„Dahin?“

Sie nickt.

„Was ist da?“

Sie öffnet ihren Mund wieder. Diesmal kommt ein Ton raus. Nur einer. Aber er ist klar.

„Mnem.“

Das erste Wort, das sie spricht. Und es ist das Wort, das alles verändert.

Plötzlich ist da ein Geräusch. Schritte. Echte Schritte.

Männer in schwarzen Uniformen kommen um die Ecke. Eiserne Stille.

„Da ist sie“, sagt einer.

„Laufen“, flüstere ich dem Kind zu.

Aber sie läuft nicht. Sie schaut die Männer an. Und lächelt.

„Sie kann uns nicht entkommen“, sagt der Mann.

„Warum nicht?“ frage ich.

„Weil wir sie verfolgen.“

„Mit was?“

Er zeigt auf einen kleinen Apparat in seiner Hand. Darauf blinkt ein roter Punkt.

„Sie haben einen Sender“, sagt er. „In ihrem Kopf.“

Das Kind nickt. Als wäre das normal.

„Seit wann?“ frage ich.

„Seit sie geboren wurde“, sagt der Mann.

„Was wollt ihr von ihr?“

„Dasselbe, was wir von Ihnen wollen.“

„Und das ist?“

„Die Informationen in ihrem Kopf.“

Ich ziehe meine Waffe. „Das wird nicht passieren.“

„Sie können uns nicht alle erschießen.“

Er hat recht. Es sind zu viele.

Aber das Kind lächelt immer noch.

„Warum lächelst du?“ frage ich.

Sie zeigt nach oben. In den Himmel.

Ich schaue hoch. Da ist nichts. Nur graue Wolken.

Dann höre ich es. Ein Summen. Aber nicht von dem Kind.

Von oben.

Ein Hubschrauber.

Aber nicht irgendeiner. Einer mit dem Logo der Eiserne Stille.

„Verstärkung“, sagt der Mann. „Sie sind umzingelt.“

Das Kind geht zu mir. Nimmt meine Hand.

„Was machst du?“ frage ich.

Sie summt wieder. Aber diesmal ist es anders. Diesmal ist es… laut.

So laut, dass es wehtut.

Die Männer halten sich die Ohren zu. Schreien.

„Was zur Hölle…?“ sagt einer.

Das Summen wird lauter. Und lauter.

Der Hubschrauber oben fängt an zu wackeln. Als würde ihn was stören.

„Hör auf!“ schreit der Mann.

Aber das Kind hört nicht auf.

Das Summen wird zu einem Schrei. Einem Schrei, der nicht menschlich ist.

Die Männer fallen um. Einer nach dem anderen.

Der Hubschrauber stürzt ab. Kracht in einen der Container.

Explosion. Feuer. Rauch.

Das Kind hört auf zu summen. Lächelt mich an.

„Was bist du?“ frage ich.

Sie antwortet nicht. Kann nicht antworten.

Aber ich weiß es jetzt. Sie ist kein normales Kind. Sie ist was anderes.

Sie ist eine Waffe.

„Wir müssen weg“, sage ich.

Sie nickt.

Wir rennen. Durch die Außenzone. Vorbei an brennenden Containern und toten Männern.

Hinter uns sind Sirenen. Mehr Hubschrauber. Mehr Männer.

Aber wir sind schneller.

Wir rennen eine Stunde. Dann noch eine.

Bis wir sicher sind. Vorerst.

Wir stoppen in einem verlassenen Gebäude. Eine alte Fabrik.

„Wer bist du wirklich?“ frage ich.

Das Kind schaut mich an. Öffnet ihren Mund.

„Echo“, sagt sie.

„Echo?“

„Ich bin Echo.“

Das zweite Wort, das sie spricht.

„Echo wovon?“

„Von allen.“

„Allen was?“

„Allen Stimmen.“

Und plötzlich verstehe ich. Sie ist nicht nur ein Speicher für Erinnerungen.

Sie ist ein Speicher für Stimmen. Für alles, was je gesagt wurde.

„Du hörst alles“, sage ich.

Sie nickt.

„Auch das, was nicht gesagt wird.“

Sie nickt wieder.

„Was hörst du jetzt?“

Sie zeigt nach draußen.

„Er kommt.“

„Wer?“

„Der Mann ohne Gesicht.“

Ich schaue zum Fenster. Die Straße ist leer.

Aber ich spüre ihn. Wie immer.

„Was will er?“

„Dich.“

„Warum?“

„Weil du der Schlüssel bist.“

„Zu was?“

„Zu ihm.“

Das verstehe ich nicht. Aber Echo lächelt wieder.

„Er ist nicht echt“, sagt sie.

„Was meinst du?“

„Er ist eine Kopie.“

„Eine Kopie wovon?“

„Von dir.“

Der Spiegelraum

Echo führt mich tiefer in die Fabrik. Vorbei an kaputten Maschinen und zerbrochenen Fenstern.

„Hier ist es“, sagt sie.

„Was ist hier?“

„Der Raum, der nichts reflektiert.“

Wir stehen vor einer Tür. Metall, ohne Griff, ohne Schloss. Sie sieht aus wie eine Wand.

„Wie öffnet man sie?“ frage ich.

Echo legt ihre Hand auf die Tür. Sie geht auf. Lautlos.

Dahinter ist Schwärze. Nicht die normale Schwärze der Nacht. Etwas anderes. Etwas, das Licht verschluckt.

„Da geh ich nicht rein“, sage ich.

„Du musst.“

„Warum?“

„Weil er da ist.“

„Der Mann ohne Gesicht?“

„Nein. Du.“

Das ergibt keinen Sinn. Aber mit Echo ergibt nichts Sinn.

Ich gehe in den Raum.

Es ist, als würde ich in Wasser gehen. Aber Wasser, das aus Dunkelheit besteht.

Hinter mir schließt sich die Tür.

Ich bin allein.

Ich mache meine Taschenlampe an. Der Strahl verschwindet einfach. Als wäre das Licht nie da gewesen.

„Echo?“ rufe ich.

Keine Antwort.

Ich gehe vorwärts. Meine Schritte machen kein Geräusch.

Dann sehe ich ihn.

Den Mann ohne Gesicht.

Er steht in der Mitte des Raums. Regungslos.

„Wer bist du?“ frage ich.

Er antwortet nicht. Wie immer.

Ich gehe näher. Schritt für Schritt.

Als ich nah genug bin, sehe ich es.

Er hat ein Gesicht. Mein Gesicht.

Aber es ist… leer. Als wäre es aus Wachs gemacht.

„Du bist ich“, sage ich.

Er nickt.

„Aber wie?“

Er zeigt auf seine Stirn. Da ist eine Narbe. Klein, aber tief.

Wie die Narbe von Janus.

„Sie haben dich gemacht“, sage ich.

Er nickt wieder.

„Aus mir.“

Er nickt.

„Warum?“

Er öffnet seinen Mund. Zum ersten Mal höre ich seine Stimme.

Es ist meine Stimme.

„Um dich zu ersetzen.“

„Zu ersetzen?“

„Wenn du tot bist.“

„Bin ich tot?“

„Nicht mehr.“

Das ist verwirrend. Aber er erklärt es.

„Du warst tot. Für drei Tage.“

„Wann?“

„Vor drei Jahren.“

„Was ist passiert?“

„Du hast dich gewehrt.“

„Gegen wen?“

„Gegen sie. Die Macher.“

„Und?“

„Sie haben dich getötet.“

„Aber ich lebe.“

„Jetzt ja.“

„Warum?“

„Weil ich dir mein Leben gegeben hab.“

Das verstehe ich nicht. Aber er erklärt weiter.

„Ich bin eine Kopie. Von deinem Geist. Deinen Erinnerungen.“

„Und?“

„Aber Kopien sind nicht perfekt.“

„Was meinst du?“

„Ich hab keine Seele.“

„Und ich?“

„Du hast meine.“

Jetzt verstehe ich. Er ist das, was ich hätte werden sollen. Perfekt. Ohne Gefühle. Ohne Zweifel.

Aber es ist schiefgelaufen.

„Was willst du von mir?“ frage ich.

„Mich vervollständigen.“

„Wie?“

„Indem du stirbst.“

Er zieht eine Waffe. Meine Waffe. Die, die ich verloren hab.

„Das wird nicht passieren“, sage ich.

„Doch.“

„Warum?“

„Weil ich dich bin. Aber besser.“

Er zielt auf mich.

Aber dann passiert was Seltsames.

Seine Hand fängt an zu zittern.

„Was ist los?“ frage ich.

„Ich… ich kann nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil du Teil von mir bist.“

Die Waffe fällt zu Boden.

„Und wenn du stirbst“, sagt er, „sterbe ich auch.“

„Also sind wir verbunden.“

„Ja.“

„Für immer.“

„Ja.“

Ich hebe die Waffe auf. Ziele auf ihn.

„Aber ich kann dich töten“, sage ich.

„Ja.“

„Soll ich?“

„Das musst du entscheiden.“

Ich schaue ihn an. Mein anderes Ich. Mein perfektes Ich.

Und ich weiß, was ich tun muss.

Ich senke die Waffe.

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil du Teil von mir bist.“

„Der schlechte Teil.“

„Alle Teile sind wichtig.“

Er lächelt. Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne.

„Danke.“

„Wofür?“

„Dafür, dass du mich leben lässt.“

„Was machst du jetzt?“

„Das, was ich immer gemacht hab.“

„Und das ist?“

„Dich beschützen.“

Er geht zur Tür. Sie öffnet sich automatisch.

„Warte“, sage ich.

Er dreht sich um.

„Die Datei. Wo ist sie?“

„Bei denen, die sie gestohlen haben.“

„Wer ist das?“

„Die, die uns gemacht haben.“

„Wo finde ich sie?“

„Folge den Karten.“

„Welchen Karten?“

Er zeigt auf meine Arme.

„Den Karten auf deiner Haut.“

Dann ist er weg.

Ich bin wieder allein. In der Dunkelheit.

Aber jetzt ist sie nicht mehr bedrohlich.

Jetzt ist sie… beruhigend.

Ich gehe zur Tür. Sie öffnet sich.

Echo wartet draußen.

„Ist er weg?“ fragt sie.

„Nein. Aber er ist auch nicht hier.“

„Wo ist er?“

„Überall. Wo ich bin.“

„Ist das gut oder schlecht?“

„Ich weiß es nicht.“

Wir gehen aus der Fabrik raus. Zurück in die Welt.

Zurück zu den Problemen, die gelöst werden müssen.

Die Datei ist immer noch da draußen. Bei Leuten, die sie nicht haben sollten.

Und ich bin die Einzige, die sie aufhalten kann.

Mit Hilfe der Karten auf meiner Haut.

Riss im Muster

Echo und ich verstecken uns in einem verlassenen Lagerhaus. Außen ist es still geworden. Zu still.

„Sie suchen uns“, sagt Echo.

„Wer?“

„Alle.“

Sie hat recht. Eiserne Stille, die Regierung, die Leute hinter Projekt Mnem. Alle wollen uns.

Ich hole den Scanner raus. Scanne meine Tätowierungen. Eine nach der anderen.

Koordinaten erscheinen. Viele Koordinaten.

„Das sind zu viele Orte“, sage ich.

„Nicht alle sind wichtig“, sagt Echo.

„Welche sind wichtig?“

Sie summt. Eine komplizierte Melodie.

Der Scanner reagiert. Filtert die Koordinaten. Jetzt sind es nur noch drei.

„Drei Orte“, sage ich.

„Drei Teile“, sagt Echo.

„Teile wovon?“

„Von der Wahrheit.“

Ich schaue auf die Koordinaten. Der erste Ort ist in der Altstadt. Der zweite in Zone 6. Der dritte… der dritte kenne ich nicht.

„Wo ist das?“ frage ich und zeige auf die dritte Koordinate.

Echo wird blass. „Das sollte nicht da sein.“

„Warum nicht?“

„Weil das der Ort ist, wo alles angefangen hat.“

„Wo ist das?“

„Unter der Stadt. Tief unter der Stadt.“

„Ein Labor?“

„Das Hauptlabor.“

„Von Projekt Mnem?“

„Von allem.“

Mein Handy klingelt. Marc.

„Wo bist du?“ fragt er.

„Sicher.“

„Du bist nicht sicher. Niemand ist sicher.“

„Was ist passiert?“

„Sie haben Janus gefunden.“

Mein Herz macht einen Sprung. „Ist er…?“

„Tot. Ja.“

„Wann?“

„Vor einer Stunde.“

Ich schaue zu Echo. Sie weint. Tränen, die zu alt sind für ein Kind.

„Marc.“

„Ja?“

„Wer hat ihn getötet?“

„Das willst du nicht wissen.“

„Doch.“

„Du.“

„Was?“

„Dein Doppelgänger. Der Mann ohne Gesicht.“

Das kann nicht sein. Er war bei mir. Er hat mir geholfen.

„Das ist unmöglich.“

„Warum?“

„Weil er bei mir war.“

„Es gibt mehr als einen.“

Das ist wie ein Schlag in den Magen.

„Wie viele?“

„Das weiß niemand.“

„Wer macht sie?“

„Die, die das ursprüngliche Projekt geleitet haben.“

„Sind sie noch am Leben?“

„Ja. Und sie wollen dich.“

„Warum?“

„Weil du der Prototyp bist.“

„Der Prototyp wovon?“

„Von allem, was sie erschaffen haben.“

Ich lege auf. Echo schaut mich an.

„Janus ist tot“, sage ich.

Sie nickt. Als hätte sie es gewusst.

„Wir müssen zu den drei Orten“, sage ich.

„Das ist gefährlich.“

„Alles ist gefährlich.“

„Nicht alles ist Selbst Mord.“

„Was schlägst du vor?“

„Nur zu einem.“

„Welchem?“

„Dem wichtigsten.“

„Welcher ist das?“

Sie zeigt auf die dritte Koordinate. Die unter der Stadt.

„Das Hauptlabor?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil da die Antworten sind.“

„Auf welche Fragen?“

„Auf alle.“

Ich packe meine Sachen. Nicht viel. Waffen, der Scanner, etwas Geld.

„Kommst du mit?“ frage ich Echo.

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil ich da nicht hingehöre.“

„Wo gehörst du hin?“

„Nirgendwo.“

„Das ist nicht wahr.“

„Doch.“

Sie gibt mir etwas. Eine kleine Karte. Handgezeichnet.

„Was ist das?“

„Der Weg.“

„Zum Labor?“

„Ja.“

„Woher hast du das?“

„Von Janus. Bevor er gestorben ist.“

„Wann hat er dir das gegeben?“

„Eben.“

Das ist unmöglich. Janus ist vor einer Stunde gestorben. Echo war die ganze Zeit bei mir.

Aber die Karte ist da. Echt und warm.

„Echo.“

„Ja?“

„Was bist du wirklich?“

„Ich bin das, was übrigbleibt.“

„Wovon?“

„Von allen, die gestorben sind.“

Das erklärt viel. Aber nicht alles.

„Siehst du sie? Die Toten?“

„Ich höre sie.“

„Was sagen sie?“

„Dass du vorsichtig sein sollst.“

„Sonst noch was?“

„Dass es eine Falle ist.“

„Was ist eine Falle?“

„Das Labor.“

„Warum?“

„Weil sie wissen, dass du kommst.“

„Woher?“

„Weil du keine Wahl hast.“

Sie hat recht. Ich hab keine Wahl. Ich muss die Wahrheit finden.

„Echo.“

„Ja?“

„Falls ich nicht zurückkomme…“

„Du kommst zurück.“

„Woher weißt du das?“

„Weil du musst.“

„Warum?“

„Weil sonst alle sterben.“

„Alle wer?“

„Alle wie wir.“

„Wie viele sind das?“

„Mehr, als du denkst.“

Ich gehe zur Tür. Die Stadt wartet draußen. Mit all ihren Geheimnissen und Lügen.

„Echo.“

„Ja?“

„Danke.“

„Wofür?“

„Für alles.“

Sie lächelt. Zum letzten Mal.

„Vergiss mich nicht“, sagt sie.

„Das werd ich nicht.“

„Auch wenn sie dein Gedächtnis wieder löschen?“

„Auch dann.“

Ich gehe raus. In die Nacht.

Zum Hauptlabor. Zu den Antworten.

Zu der Wahrheit, die mich umbringen könnte.

Das Protokoll

Der Eingang zum Hauptlabor ist da, wo ich ihn nicht erwartet hab. Unter einer Metzgerei in der Altstadt.

Der Besitzer ist ein alter Mann mit blutigen Händen.

„Ich will in den Keller“, sage ich.

„Welchen Keller?“

„Den tiefen.“

Er schaut mich an. Lange.

„Das kostet extra.“

„Wie viel?“

„Alles, was Sie haben.“

Ich gebe ihm mein Geld. Alles.

Er führt mich durch den Laden. Vorbei an hängenden Fleischstücken, die aussehen wie Menschen.

„Hier“, sagt er.

Er zeigt auf eine Falltür im Boden. Ich hätte sie nie gesehen.

„Wie tief ist es?“

„Tief genug.“

Ich öffne die Tür. Darunter ist eine Leiter. Metall, rostig, aber stabil.

Ich klettere runter.

Eine Stunde lang. Immer tiefer.

Bis ich den Boden erreiche.

Es ist ein Gang. Lang, gerade, mit Neonlicht an der Decke.

Ich folge dem Gang. Meine Schritte echoen in der Stille.

Nach zehn Minuten erreiche ich eine Tür. Automatisch. Mit einem Scanner daneben.

Ich halte meine Hand davor.

Die Tür geht auf.

Dahinter ist das Labor.

Es ist größer als ich gedacht hab. Riesig. Wie eine Kathedrale.

Aber statt Bänken sind da Maschinen. Hunderte von Maschinen.

Und statt eines Altars ist da ein Computer. Groß. Zu groß.

„Willkommen, Finja.“

Ich drehe mich um.

Dr. Henning steht hinter mir. Der Mann im weißen Kittel.

„Du bist tot“, sage ich.

„Das dachtest du.“

„Janus hat gesagt…“

„Janus hat gelogen.“

„Warum?“

„Weil ich ihn darum gebeten hab.“

Er geht zu dem großen Computer. Tippt etwas ein.

Der Bildschirm leuchtet auf. Darauf erscheint ein Name.

„Projekt Mnem“, lese ich.

„Das Projekt, das dich gemacht hat.“

„Ich dachte, es wäre beendet.“

„Das war ein Fehler.“

„Wessen Fehler?“

„Meiner.“

Er tippt wieder. Mehr Informationen erscheinen.

Namen. Hunderte von Namen.

„Das sind alle Teilnehmer“, sagt er.

„Opfer?“

„Teilnehmer. Das ist wichtig.“

„Warum?“

„Weil ihr alle freiwillig gemacht habt.“

„Das ist eine Lüge.“

„Ist es das?“

Er zeigt auf den Bildschirm. Dort ist ein Dokument. Mit meiner Unterschrift.

„Das hab ich nie unterschrieben.“

„Doch. Vor vier Jahren.“

„Ich erinnere mich nicht.“

„Weil du es vergessen solltest.“

„Warum hab ich unterschrieben?“

„Weil du sterben wolltest.“

Das ist wie ein Messerstich.

„Was?“

„Du warst selbstmörderisch. Depressiv. Am Ende.“

„Das ist nicht wahr.“

„Doch. Und wir haben dir eine Alternative angeboten.“

„Welche Alternative?“

„Ein neues Leben. Als jemand anderes.“

„Als Speicher.“

„Als perfekter Mensch.“

„Perfekt?“

„Ohne schlechte Erinnerungen. Ohne Schmerz. Ohne Angst.“

„Aber es ist schiefgelaufen.“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil Perfektion langweilig ist.“

Er tippt wieder. Ein Video erscheint.

Ich sehe mich selbst. Vor vier Jahren. Aber ich sehe… leer aus. Wie tot.

„Das war ich?“

„Ja.“

„Und jetzt?“

„Jetzt bist du interessant.“

„Interessant?“

„Du hast Emotionen. Zweifel. Angst.“

„Das ist schlecht?“

„Nein. Das ist menschlich.“

Er geht zu einer anderen Maschine. Größer als die anderen.

„Das hier ist die Lösung“, sagt er.

„Lösung wofür?“

„Für das Problem, dass wir geschaffen haben.“

„Welches Problem?“

„Hunderte von Menschen mit gelöschten Erinnerungen.“

„Was willst du machen?“

„Sie zurückgeben.“

„Die Erinnerungen?“

„Alle.“

„Auch die schlechten?“

„Besonders die schlechten.“

Das verstehe ich nicht.

„Warum?“

„Weil schlechte Erinnerungen wichtig sind.“

„Warum?“

„Weil sie uns menschlich machen.“

Er zeigt auf die Maschine.

„Das hier ist das Protokoll. Der Rückgängig-Knopf.“

„Du willst alle Erinnerungen zurückgeben?“

„Ja.“

„Auch meine?“

„Besonders deine.“

„Warum?“

„Weil du der Erste warst.“

„Der Erste?“

„Der Prototyp.“

„Und wenn ich meine Erinnerungen zurückbekomme?“

„Dann erinnerst du dich an alles.“

„Auch an das, was ich getan hab?“

„Ja.“

„Auch an die schlechten Sachen?“

„Ja.“

Ich schaue auf die Maschine. Sie sieht aus wie ein Stuhl. Aber mit Kabeln und Elektroden.

„Was ist, wenn ich nein sage?“

„Dann bleibst du, wie du bist.“

„Ist das schlecht?“

„Nein. Aber es ist nicht vollständig.“

„Und wenn ich ja sage?“

„Dann wirst du ganz.“

„Aber auch kaputt?“

„Möglich.“

Ich setze mich auf den Stuhl.

„Finja“, sagt Dr. Henning. „Bist du sicher?“

„Nein.“

„Willst du es trotzdem machen?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil Echo recht hatte.“

„Was hat sie gesagt?“

„Dass alle sterben, wenn ich es nicht mache.“

„Sie ist klug.“

„Ja.“

Er legt mir die Elektroden an den Kopf. Sie sind kalt.

„Das wird wehtun“, sagt er.

„Das hast du schon mal gesagt.“

„Damals war es gelogen.“

„Und jetzt?“

„Jetzt ist es wahr.“

Er drückt einen Knopf.

Die Welt explodiert.

Ich erinnere mich an alles.

An mein erstes Leben. Bevor das Projekt.

An den Tod meiner Eltern.

An die Depression.

An den Wunsch zu sterben.

An die Unterschrift unter dem Vertrag.

An die ersten Experimente.

An den Schmerz.

An die anderen. Teyla. Janus. Die, die gestorben sind.

An die Nacht vor zwei Jahren. Als wir versucht haben zu fliehen.

An den Verrat.

An meinen eigenen Verrat.

Ich hab sie verraten. Alle.

Für Geld. Für Macht. Für ein neues Leben.

Ich war die Böse.

Und jetzt bin ich wieder ganz.

Kaputt, aber ganz.

Rückweg

Die Erinnerungen sind wie Gift. Sie brennen in meinem Kopf und wollen nicht aufhören.

Ich weiß jetzt alles.

Ich war nicht das Opfer. Ich war die Täterin.

Vor vier Jahren war ich eine andere Person. Jemand, der bereit war, alles zu tun, um zu überleben.

Sogar andere zu verraten.

„Wie fühlst du dich?“ fragt Dr. Henning.

„Wie ein Monster.“

„Das ist normal.“

„Normal?“

„Alle fühlen sich so, wenn sie sich an alles erinnern.“

„Die anderen auch?“

„Ja.“

„Teyla?“

„Sie war nicht unschuldig.“

„Janus?“

„Er war der Schlimmste von allen.“

„Und Echo?“

„Echo war nie Teil des Projekts.“

„Was ist sie dann?“

„Ein Nebenprodukt.“

„Wovon?“

„Von all dem Leid, das wir verursacht haben.“

Ich stehe auf. Die Elektroden fallen zu Boden.

„Ich muss gehen.“

„Wohin?“

„Zurück in die Stadt.“

„Warum?“

„Um es richtig zu machen.“

„Was richtig zu machen?“

„Das, was ich falsch gemacht hab.“

„Das ist gefährlich.“

„Alles ist gefährlich.“

„Sie werden dich töten.“

„Vielleicht ist das richtig.“

„Nein“, sagt er. „Das ist es nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil du jetzt die Chance hast, es zu ändern.“

„Wie?“

„Indem du die Wahrheit erzählst.“

„Wem?“

„Allen.“

Er gibt mir einen USB-Stick.

„Was ist das?“

„Alles. Alle Daten. Alle Namen. Alle Geheimnisse.“

„Die ursprüngliche Datei?“

„Und mehr.“

„Warum gibst du mir das?“

„Weil es Zeit ist, dass die Wahrheit rauskommt.“

„Was passiert mit dir?“

„Das ist nicht wichtig.“

„Doch. Es ist wichtig.“

„Ich werde hierbleiben. Und warten.“

„Worauf?“

„Auf das Ende.“

Ich nehme den USB-Stick. Er ist warm. Wie Leben.

„Dr. Henning.“

„Ja?“

„Tut es dir leid?“

„Jeden Tag.“

„Mir auch.“

Ich gehe zur Tür.

„Finja.“

Ich drehe mich um.

„Du warst nie ein Monster“, sagt er. „Du warst nur verloren.“

„Und jetzt?“

„Jetzt hast du die Chance, gefunden zu werden.“

Ich gehe raus. Zurück durch den Gang. Zurück die Leiter hoch.

Der Metzger wartet oben.

„Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?“ fragt er.

„Ja.“

„War es das wert?“

„Das weiß ich noch nicht.“

Ich gehe raus. In die Stadt. In die Nacht.

Zone 6 riecht immer noch nach Pisse und kaltem Schweiß. Aber jetzt riecht es auch nach Möglichkeiten.

Ich gehe zu einem Internetcafé. Eines, das Anonymität verkauft.

Ich setze mich an einen Computer. Stecke den USB-Stick rein.

Tausende von Dateien. Dokumente. Videos. Fotos.

Die ganze Wahrheit über Projekt Mnem.

Ich lade alles hoch. Auf jede Plattform, die ich finden kann.

Nachrichten-Websites. Soziale Netzwerke. Leak-Plattformen.

Alles.

Dann warte ich.

Eine Stunde später ist es überall.

Die Schlagzeilen schreien:

„GEHEIMES REGIERUNGSPROJEKT ENTHÜLLT“

„HUNDERTE OPFER VON GEDÄCHTNISEXPERIMENTEN“

„DIE WAHRHEIT ÜBER PROJEKT MNEM“

Mein Handy klingelt. Marc.

„Was hast du getan?“

„Das Richtige.“

„Du hast uns alle umgebracht.“

„Nein. Ich hab uns alle befreit.“

„Das ist dasselbe.“

„Nein. Es ist das Gegenteil.“

„Sie werden dich jagen.“

„Das tun sie sowieso.“

„Jetzt werden sie dich töten.“

„Vielleicht.“

„Wo bist du?“

„Das spielt keine Rolle.“

„Finja…“

„Marc.“

„Ja?“

„Erinnerst du dich?“

„Woran?“

„An alles.“

Stille. Lange Stille.

„Ja“, sagt er schließlich. „Ich erinnere mich.“

„Tut es dir leid?“

„Jeden Tag.“

„Mir auch.“

Ich lege auf. Gehe aus dem Internetcafé raus.

Die Straße ist voller Menschen. Aber sie sind anders. Sie schauen auf ihre Handys. Lesen die Nachrichten.

Die Wahrheit.

Ein Mann erkennt mich. Zeigt auf mich.

„Das ist sie“, sagt er. „Die aus den Nachrichten.“

Mehr Menschen schauen her. Bald ist ein Mob da.

„Mörderin!“ schreit jemand.

„Monster!“ schreit ein anderer.

Sie haben recht. Ich bin beides.

Aber ich renne nicht.

Stattdessen bleibe ich stehen.

„Ja“, sage ich. „Ich bin Finja. Und ich hab schreckliche Dinge getan.“

Die Menge wird still.

„Aber ich bin nicht die Einzige“, sage ich. „Wir waren alle beteiligt. Alle von uns.“

„Lügnerin!“ schreit jemand.

„Nein“, sage ich. „Die Wahrheit. Die ganze Wahrheit.“

Sirenen in der Ferne. Sie kommen näher.

„Ihr könnt mich töten“, sage ich. „Aber das ändert nichts an dem, was passiert ist.“

„Was sollen wir tun?“ fragt eine Frau.

„Vergebt mir“, sage ich. „Und vergebt euch selbst.“

„Warum?“

„Weil das der einzige Weg ist, wie wir weiterleben können.“

Die Sirenen sind jetzt sehr nah.

Schwarze Autos. Männer in Anzügen. Eiserne Stille.

Sie steigen aus. Ziehen ihre Waffen.

„Finja Chen“, sagt ihr Anführer. „Sie sind verhaftet.“

„Wofür?“

„Verrat. Mord. Terrorismus.“

„Ich hab die Wahrheit gesagt.“

„Die Wahrheit ist gefährlich.“

„Ja. Das ist sie.“

Sie legen mir Handschellen an. Führen mich zu einem der Autos.

Die Menge schaut zu. Still. Nachdenklich.

„Es ist vorbei“, sagt der Anführer.

„Nein“, sage ich. „Es fängt gerade erst an.“

Sie stecken mich in das Auto. Fahren weg.

Aber ich schaue zurück. Auf die Menschen, die immer noch dastehen.

Auf ihre Gesichter. Auf ihren Augen.

Sie wissen jetzt die Wahrheit.

Und die Wahrheit ist ansteckend.

Sie wird sich ausbreiten. Wie ein Virus.

Bis jeder sie kennt.

Das Auto fährt durch die Nacht. Weg von Zone 6. Weg von allem, was ich kenne.

Aber ich hab keine Angst.

Weil ich endlich weiß, wer ich bin.

Und was ich getan hab.

Und was ich noch tun muss.

Die Wahrheit ist frei.

Und das bin ich auch.

Auch wenn sie mich einsperren.

Auch wenn sie mich töten.

Die Wahrheit wird überleben.

Und das reicht.

Kein Licht, nur Muster

Sie bringen mich in ein Gefängnis. Aber nicht in ein normales. In eins ohne Fenster. Ohne Uhren. Ohne Zeit.

Meine Zelle ist weiß. Alles weiß.

Wie das Labor.

Ich sitze auf dem Bett und warte.

Drei Tage später kommt jemand.

Es ist nicht Dr. Henning. Es ist nicht Marc.

Es ist Echo.

Sie geht durch die Wand. Als wäre sie aus Luft.

„Hallo“, sage ich.

„Hallo“, sagt sie.

„Wie geht es dir?“

„Gut. Und dir?“

„Auch gut.“

„Lügst du?“

„Nein.“

Wir setzen uns zusammen auf das Bett.

„Was passiert da draußen?“ frage ich.

„Die Welt verändert sich.“

„Wie?“

„Die Menschen fragen Fragen.“

„Welche Fragen?“

„Die richtigen.“

„Und?“

„Einige finden Antworten.“

„Gute Antworten?“

„Wahre Antworten.“

Das ist gut. Das ist, was ich gewollt hab.

„Echo.“

„Ja?“

„Wirst du bei mir bleiben?“

„Solange du willst.“

„Für immer?“

„Wenn nötig.“

„Warum?“

„Weil du endlich ganz bist.“

„Auch die kaputten Teile?“

„Besonders die kaputten Teile.“

Ich lege mich hin. Schaue an die weiße Decke.

„Echo.“

„Ja?“

„Erzählst du mir eine Geschichte?“

„Welche Geschichte?“

„Eine wahre.“

„Alle meine Geschichten sind wahr.“

„Dann erzähl mir eine schöne.“

Sie denkt nach. Lange.

„Es war einmal ein Mädchen“, fängt sie an.

„Wie hieß es?“

„Finja.“

„Ach so.“

„Dieses Mädchen hatte ihr Gedächtnis verloren.“

„Wie traurig.“

„Ja. Aber es fand es wieder.“

„Wie?“

„Indem es mutig war.“

„Und dann?“

„Dann half es anderen, ihre Gedächtnisse zu finden.“

„Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil glücklich langweilig ist.“

„Was passierte stattdessen?“

„Sie lebten wahr bis ans Ende ihrer Tage.“

„Ist das besser?“

„Viel besser.“

Ich schließe die Augen.

„Echo.“

„Ja?“

„Ich bin müde.“

„Dann schlaf.“

„Bleibst du?“

„Ja.“

„Für immer?“

„Für immer.“

Ich schlafe ein.

In meinen Träumen sehe ich die Stadt. Zone 6. Die Altstadt. Den Nordsektor.

Aber sie ist anders. Heller. Offener.

Die Menschen schauen sich in die Augen, wenn sie miteinander reden.

Die Geheimnisse sind weg. Alle.

Und in der Tiefzone ist Teyla. Sie zeichnet neue Karten. Karten der Wahrheit.

Janus ist auch da. Lebendig. Gesund. Er sammelt Erinnerungen. Aber diesmal freiwillig.

Marc sitzt in einem Café. Er lächelt. Echt.

Und der Mann ohne Gesicht ist weg. Verschwunden. Weil er nicht mehr gebraucht wird.

Ich wache auf.

Echo sitzt immer noch neben mir.

„Wie lange hab ich geschlafen?“

„Eine Woche.“

„Eine Woche?“

„Die Zeit vergeht schnell, wenn man träumt.“

„Was ist passiert?“

„Draußen?“

„Ja.“

„Das Projekt wurde beendet. Offiziell.“

„Und die anderen?“

„Bekommen ihre Erinnerungen zurück. Alle.“

„Auch die schlechten?“

„Besonders die schlechten.“

„Ist das gut?“

„Es ist notwendig.“

„Und ich?“

„Du bleibst hier.“

„Für immer?“

„Nein. Nur bis du bereit bist.“

„Bereit wofür?“

„Zu vergeben.“

„Anderen?“

„Dir selbst.“

Ich stehe auf. Gehe zum Spiegel. Mein Gesicht ist älter geworden. Weiser. Trauriger.

Aber auch ehrlicher.

Die Tätowierungen auf meinen Armen sind verblasst. Nicht weg, aber schwächer.

„Warum verblassen sie?“ frage ich.

„Weil sie ihre Aufgabe erfüllt haben.“

„Welche Aufgabe?“

„Dich nach Hause zu führen.“

„Bin ich zu Hause?“

„Ja.“

„Hier? In einer Zelle?“

„Zuhause ist nicht ein Ort. Zuhause ist ein Gefühl.“

„Welches Gefühl?“

„Das Gefühl, zu wissen, wer du bist.“

Ich schaue wieder in den Spiegel. Diesmal lächle ich.

Es ist kein glückliches Lächeln. Aber es ist ein wahres.

„Echo.“

„Ja?“

„Danke.“

„Wofür?“

„Dass du mir geholfen hast, mich zu finden.“

„Du hast dich selbst gefunden.“

„Mit deiner Hilfe.“

„Mit aller Hilfe.“

Die Tür öffnet sich. Ein Wärter kommt rein.

„Zeit zu gehen“, sagt er.

„Wohin?“

„Nach Hause.“

„Aber das hier ist doch…“

„Nein. Das hier war nur ein Zwischenstopp.“

Ich schaue zu Echo. Aber sie ist weg. Verschwunden wie ein Traum.

„War sie je da?“ frage ich.

„Wer?“ fragt der Wärter.

„Niemand.“

Ich packe meine Sachen. Nicht viel. Ein paar Klamotten. Die Waffe hab ich nicht mehr.

Brauche ich auch nicht.

Ich gehe raus. Aus der Zelle. Aus dem Gefängnis.

Draußen ist es hell. Zu hell.

Aber diesmal tun meine Augen nicht weh.

Zone 6 wartet auf mich. Aber es ist nicht mehr dasselbe Zone 6.

Es ist sauberer. Heller. Hoffnungsvoller.

Die Menschen schauen mich an. Erkennen mich.

Aber sie schreien nicht. Sie zeigen nicht auf mich.

Stattdessen nicken sie. Respektvoll.

Ich hab das Richtige getan. Endlich.

Ich gehe zu meiner alten Wohnung. Sie ist leer. Natürlich.

Aber auf dem Tisch liegt ein Zettel.

„Willkommen zu Hause. – Ein Freund.“

Ich schaue aus dem Fenster. Die Straße ist voller Leben. Kinder spielen. Erwachsene reden. Alte Menschen sitzen in der Sonne.

Und in den Schatten zwischen den Häusern sehe ich sie. Echo. Sie winkt mir zu.

Dann ist sie weg.

Aber das ist okay.

Weil ich weiß, dass sie da ist. Immer.

In den Erinnerungen. In den Stimmen. In den Geschichten, die erzählt werden müssen.

Ich setze mich ans Fenster. Schaue zu, wie die Welt sich bewegt.

Langsam. Aber sicher.

In die richtige Richtung.

Die Tätowierungen auf meinen Armen sind jetzt ganz blass. Fast unsichtbar.

Aber sie sind noch da.

Wie Erinnerungen an eine Zeit, die vergehen musste.

Damit eine neue Zeit beginnen kann.

Eine Zeit der Wahrheit.

Ich schaue auf meine Hände. Sie zittern nicht mehr.

Ich bin zu Hause.

Endlich.


ENDE

„Manche Geschichten enden nicht mit ‚glücklich bis ans Ende aller Tage‘. Manche enden mit ‚wahr bis ans Ende aller Tage‘. Und das ist viel besser.“


Epilog:

Drei Monate später wird in Zone 6 ein kleines Café eröffnet. Es heißt „Echo“. Die Besitzerin ist eine Frau mit verblassenden Tätowierungen und einer rauchigen Stimme. Sie serviert guten Kaffee und hört zu, wenn Menschen ihre Geschichten erzählen wollen. Ihre wahren Geschichten.

Manchmal, wenn es sehr still ist, kann man sie summen hören. Melodien, die klingen wie Erinnerungen. Wie Hoffnung. Wie Vergebung.

Und manchmal, nur manchmal, summt jemand mit.