Farida – Keine Haut vergisst

„Manche Narben wachsen nach innen.
Manche erinnern dich daran, wer du warst.
Und manche lügen.“
– Fragment aus Protokoll Mnem/27, nicht verifiziert
Kapitel 1 – „Hautgedächtnis“
Ich wache nicht auf, ich schalte nur um. Von der einen Stille in die andere. Keine Stimme, kein Geräusch außer dem Knacken der Wand hinter mir, die nachts atmet, als wäre sie ein lebendiger Organismus. Feuchtigkeit sammelt sich in den Fugen. Manchmal tropft sie auf den Boden, als zähle jemand Sekunden rückwärts.
Ich sitze im Flur, Rücken an der Wand, eine Zigarette zwischen den Fingern, die ich nicht rauche. Es geht nicht ums Rauchen. Es geht ums Halten. Um irgendwas, das nicht wegrutscht.
Die Tattoos auf meinen Armen ziehen leicht. Als würden sie sich bewegen, kaum sichtbar, aber fühlbar. Das da am rechten Unterarm – das war ein Fehler. Oder vielleicht auch nicht. Schwer zu sagen, was Fehler sind, wenn alles, was du tust, dich wenigstens irgendwie am Leben hält.
Ich heiße Farida. Man nennt mich so. Ich erinnere mich nicht, wann ich zum letzten Mal jemandem gesagt habe, wie ich wirklich heiße. Vielleicht, weil der Name an ein anderes Ich gebunden ist. Eins, das in einem anderen Körper gelebt hat. Ohne Narben. Ohne diese ewige Kälte unter der Haut.
Ich stehe auf, strecke mich, knirsche mit den Schultern. Der Tag draußen wird grau, wie immer. Und ich? Ich muss los. Es gibt was zu holen. Informationen. Oder vielleicht nur einen Grund, den nächsten Tag zu überstehen.
Kapitel 2 – Der Auftraggeber
Die Stadt atmet flach.
Wie ein Tier, das sich tot stellt.
Ich gehe durch die Gasse hinter dem alten Thermenkomplex, wo es noch nach Schwefel riecht, obwohl da seit Jahren kein Wasser mehr fließt. Die Lampen flackern in regelmäßigen Abständen. Als würden sie mich warnen oder zählen.
Eins. Zwei. Drei.
Dann Dunkelheit.
Marceau wartet im Schatten eines abgedeckten Schirms. Dieselbe Ecke wie früher. Dieselber Geruch nach billigem Alkohol und teurem Parfum, das er sich nicht mehr leisten kann.
„Du siehst scheiße aus“, sagt er.
Ich zucke mit den Schultern. „Du riechst schlimmer.“
Er grinst. Kein echtes Grinsen, eher ein Reflex. Wie wenn man einen alten Hund streichelt und er das Maul aufmacht. Ich setz mich ihm gegenüber. Tisch aus Beton. Zwei gläserne Hälften eines Fensters dienen als Platte. Zwischen uns liegt nichts. Außer der Vergangenheit.
„Ich hab was für dich“, sagt er und schiebt mir ein Datenmodul hin. Winzig. Alt. Wahrscheinlich noch aus der Vorstrukturära. Ich nehm es nicht sofort.
„Ich bin raus“, sag ich.
„Klar. So raus wie ich nüchtern.“
Wir sagen eine Weile nichts. Im Hintergrund brüllt jemand. Ein Streit. Oder Liebe. Kann man nicht unterscheiden in der Zone 6. Irgendwas klirrt. Dann wieder Stille.
„Sie haben was gestohlen“, sagt Marceau. „Nicht irgendwas. Was aus dem alten Archiv. Weißt du noch… dieses eine…“
Er tippt sich an die Brust.
Wo mein Tattoo liegt.
Ich schau ihn an. Zu lange.
Er spürt es. Wird nervös. Fasst sich an die Nase, obwohl da nichts juckt.
„Sag’s ganz“, murmel ich. „Nicht andeuten.“
Er lehnt sich vor. Die Stimme wird tiefer. Fast ehrfürchtig.
„Ein Fragment. Aus der Mnem-Reihe. Nicht komplett. Aber der Code ist noch aktiv.“
Mnem.
Es ist, als würde etwas in meinem Magen aufwachen. Kalt. Schwer. Etwas, das sich nicht wegdenken lässt.
„Was willst du von mir?“, frage ich.
„Du holst es zurück. Bevor sie es entschlüsseln. Bevor sie merken, was sie da wirklich haben.“
„Wer sind sie?“
„Die Stille Ordnung. Und ihre neuen Jäger.“
Ich lache. Kurz. Es klingt nicht echt.
„Das ist Selbstmord.“
„Nee. Das ist Vergangenheit.“
Er schaut mich jetzt ernst an. „Deine. Unsere. Vielleicht… mehr.“
Ich nehme das Modul schließlich doch.
Es fühlt sich an wie ein Zahn aus Eis. Glatt. Kalt. Falsch.
„Und wenn ich ablehne?“
„Dann nehmen sie dich trotzdem“, sagt Marceau leise. „Aber ohne Vorbereitung.“
Ich stehe auf.
„In drei Tagen bin ich durch Nord. Wenn ich’s nicht bin, verbrenn meine Akte.“
„Hast du noch eine?“, fragt er.
Ich geh, ohne zu antworten.
Hinter mir flackert das Licht wieder.
Eins. Zwei.
Dunkel.
Kapitel 3 – Grenze Nord
Die Grenze beginnt nicht mit Zäunen.
Sie beginnt mit Schweigen.
Der Weg nach Nord führt durch drei Zonen, die offiziell nicht mehr existieren. Ich schleiche mich durch Hinterhöfe, vorbei an verfallenen Antennenmasten und rostenden Drohnenleibern. Keiner sieht mich. Die, die mich sehen könnten, sehen weg. So funktioniert es hier.
Mein Rucksack wiegt kaum was. Ein Messer. Zwei Injektoren. Drei Riegel, die nach nassem Gummi schmecken. Und das Modul. Eingewickelt in Stoff, der mal ein Tuch war. Vielleicht von mir, vielleicht von jemandem, der nie zurückkam. Ist egal.
Am Rand der dritten Zone beginnt der Nebel.
Er ist nicht natürlich. Nichts hier ist natürlich.
Ich kenne den Übergangspunkt. Eine schmale Metallbrücke über den stillgelegten Wärmekanal. Früher floss hier Energie. Jetzt fließt nur noch Zeit – langsam, zäh, wie Teer.
Ich ducke mich unter ein loses Rohr, das wie ein verdrehtes Rückgrat aus der Mauer ragt. Der Nebel legt sich um mich wie Haut. Zu dicht, um wirklich zu sehen. Zu dünn, um sich darin zu verlieren. Und er riecht nach… Eisen. Blut? Oder ist das mein Zahnfleisch?
Ich höre Schritte.
Nicht meine.
Ich drehe mich nicht um.
Der Mann ohne Echo geht nicht wie andere. Seine Schritte sind keine Schritte. Eher Abwesenheiten von Geräusch.
Ich bleibe stehen. Zähle in meinem Kopf.
Eins. Zwei. Nichts.
Dann ein Kratzen. Ganz leicht. Wie Fingernägel an Papier. Oder Glas. Ich greife zum Messer.
„Farida“, sagt eine Stimme.
Ich reagiere nicht. Nicht auf Stimmen, die im Nebel wohnen.
„Du solltest nicht hier sein“, fährt sie fort. Ruhig. Ohne Eile.
„Ich war nie irgendwo richtig“, sage ich. Und drehe mich um.
Nichts.
Natürlich.
Ich taste mich weiter, Schritt für Schritt, bis ich das alte Wachhäuschen erreiche. Eingestürzt. Aber im Boden: ein Gitter. Kaum sichtbar. Ich reiße es auf. Darunter eine Luke. Abwärts. In die Untergänge.
Die Grenze zu Nord verläuft unterirdisch.
Ich steige hinab.
Zwei Meter. Drei. Dann Dunkelheit.
Ich atme durch.
Schließe die Luke.
Und gehe in die Zone, in der niemand atmet.
Kapitel 4 – Der Mann ohne Echo
Die Dunkelheit hier unten ist alt.
Nicht einfach finster.
Sondern erinnernd.
Jeder Schritt hallt zu mir zurück, aber nicht so, wie er sollte. Der Klang ist dumpfer, wie durch Stoff gefiltert. Manchmal ganz ohne Echo. Als würde die Luft selbst entscheiden, was sie weitergibt und was nicht.
Ich hab eine kleine Lampe. Sie flackert. Funktioniert nicht richtig. Vielleicht auch besser so. Man sieht weniger. Fühlt dafür mehr.
Links die Mauer: glatt, fast feucht. Rechts: eine offene Leitung, leer. Ich krieche drunter durch. Mein Rücken streift den Rost. Es riecht nach altem Kabelbrand und kaltem Schweiß.
Ich höre ihn zum ersten Mal beim dritten Abgang. Nicht laut. Nicht deutlich.
Nur das: eine Pause im Geräusch.
Wie wenn jemand Luft anhält.
Ich bleibe stehen. Warte.
Und da ist er wieder.
Kein Schatten.
Keine Bewegung.
Nur das Fehlen von allem.
Ich lehne mich gegen die Wand. Spüre die Kälte durch mein Shirt. Ziehe das Messer. Kein Geräusch. Keine Reaktion. Aber irgendwas ist hier. Ich weiß es. Mein Nacken weiß es. Meine Knie wissen es.
„Du bist nicht echt“, sage ich.
Das Echo kommt zurück. Aber nur mein letzter Satz.
Nicht der erste.
„Du… bist echt“, haucht es zurück.
Ich friere. Nicht wegen der Temperatur.
„Wer schickt dich?“, flüstere ich.
Keine Antwort. Nur ein leichtes Ticken. Wie eine Uhr.
Wie ein Herz.
Oder ein Mechanismus.
Ich gehe rückwärts. Langsam. Messer vor mir.
Dann eine Berührung. Hauchzart.
Mein Rücken.
Ich drehe mich. Schnell.
Nichts.
Nur Wand.
Aber da, wo meine Schulter gerade war, ist jetzt ein Abdruck.
Eine dunkle Spur. Kein Handabdruck.
Ein Abdruck von Abwesenheit. Von Nicht-Sein.
Ich gehe schneller. Nicht rennen. Nicht stolpern.
Zwei Gänge weiter die Tür. Alt. Angeschlagen mit rotem Lack. Zeichen drauf, die ich nicht lesen kann. Vielleicht will ich das auch gar nicht.
Ich drücke sie auf. Dahinter: Treppen. Aufwärts.
Ich laufe.
Zähle die Stufen.
Nicht, um sie zu wissen.
Nur um was zu zählen.
Oben: Licht. Blass. Künstlich.
Ich trete raus – in die Tiefzone.
Und hinter mir?
Kein Laut. Kein Tritt. Kein Echo.
Nur das Gefühl, dass etwas folgt, das kein Schatten wirft.
Kapitel 5 – Verhörzelle 17
Die Zelle war kleiner als eine Erinnerung.
Keine Fenster. Kein Spalt. Nur eine Lampe, die nie ganz leuchtet.
Und nie ganz aus ist.
Ich war 19. Vielleicht auch 20.
Kein Ausweis, keine Uhr. Kein eigener Name mehr.
Sie nannten mich nur „Fall 72-B“.
Die Tage verschwimmen dort. Man denkt, man wird verrückt – aber das ist nicht das Ziel.
Das Ziel ist: dass du zweifelst, bevor du denkst.
Dass du dich fragst, ob es je anders war.
Ich saß auf einer Bank aus Metall.
Rücken an der Wand. Arme über den Bauch gekreuzt.
Sie kamen immer zu zweit. Einer stellte Fragen. Der andere schwieg.
Die Fragen waren nicht schwer.
Nur falsch.
„Wie oft haben Sie die Struktur betreten?“
„Welche Subjekte haben Sie berührt?“
„Gibt es Restbilder in Ihrem Kopf?“
Ich sagte nichts.
Nicht aus Trotz.
Weil ich es wirklich nicht wusste.
Am vierten Tag gaben sie mir ein Stück Papier.
Darauf: eine Skizze.
Ein Kreis, von Linien durchzogen.
In der Mitte: ein Punkt.
„Erkennen Sie dieses Symbol?“, fragte der Fragesteller.
Ich nickte. Reflex.
Weil es brannte – genau dort, wo mein Tattoo heute sitzt.
Sie nahmen mich mit.
In einen weißen Raum.
Wände aus Glas, so schmutzig, dass man nur Schemen sah.
In der Mitte ein Tisch. Darauf eine Metallplatte. Und eine Stimme aus dem Lautsprecher.
„Berühren Sie die Fläche.“
Ich zögerte. Dann tat ich’s.
Es war…
Ich weiß nicht.
Wie ein Blitz in der Seele. Wie wenn jemand mit kalten Fingern durch deine Kindheit greift.
Und dir sagt, was du damals gedacht hast, als du allein auf der Treppe saßt.
Danach war ich nicht mehr dieselbe.
Sie ließen mich gehen. Ohne Erklärung. Ohne Warnung.
Nur mit dem Tattoo.
Und der Ahnung, dass irgendwas in mir lebt, das nicht zu mir gehört.
Kapitel 6 – Flucht in die Tiefzone
Man hört die Stadt atmen, wenn man tief genug sinkt.
Nicht dieses Schnaufen der Oberfläche – hupende Transporte, flimmernde Werbepanels, das ewige Flüstern der Überwachung.
Nein. Hier unten ist das Atmen tiefer. Schwerer. So, als würde etwas Altes in den Schächten liegen. Und träumen.
Ich gleite an Rohren entlang, vorbei an alten Wartungstüren, die aussehen, als wären sie nie für Menschen gedacht gewesen.
Unter mir das Rattern eines vergessenen Systems – vielleicht Lüftung, vielleicht was anderes.
Ich will’s nicht wissen.
Die Luft schmeckt metallisch.
Ich lutsche an einem Stück Stoff, um die Trockenheit zu überlisten. Funktioniert nicht. Aber es beschäftigt die Gedanken.
Nach etwa zwei Kilometern: Licht.
Ein schwacher, flackernder Streifen, der von einer Lichtquelle kommt, die wahrscheinlich schon vor zehn Jahren gewartet werden wollte.
Daneben: ein Gitter. Verrostet, offen wie ein aufgerissener Mund.
Ich zwänge mich hindurch.
Dann: ein Hohlraum.
Alt. Breit.
Wände mit Plakatresten aus der Vorstrukturzeit. Gesichter, die längst niemand mehr kennt.
Und dann hör ich sie.
Die Stimme.
„Du kommst zu spät für den Anfang. Aber noch früh genug fürs Ende.“
Ich drehe mich. Da steht sie.
Teyla.
Schlank. Bewegungen wie Wasser.
In der Hand: eine faltbare Karte, die sich langsam entrollt, als hätte sie ein Eigenleben.
„Ich brauch einen Durchgang nach Nordzentrum“, sage ich.
Sie schüttelt den Kopf.
„Da geht keiner mehr durch.“
Pause.
„Außer dem Echo.“
Mir wird kalt. Nicht von außen. Von innen.
Ich zieh das Modul aus der Tasche. Zeig es ihr.
„Ich weiß, was du suchst“, sagt sie. „Aber du suchst nicht allein.“
„Ich bin immer allein“, murmel ich.
„Nicht heute.“
Sie blickt an mir vorbei.
Ich dreh mich nicht um.
Weil ich weiß, was da steht. Oder besser: was da nicht steht.
Teyla kommt näher. Berührt mein Handgelenk.
Ihre Finger sind kühl. Ihre Augen ruhig.
„Deine Haut…“, sagt sie leise. „Sie trägt ein Muster. Aber es verschiebt sich.“
Ich starre sie an.
„Das geht nicht.“
„Doch“, sagt sie. „Wenn das Muster nicht für dich gemacht wurde.“
Stille.
Dann setzt sie sich, breitet die Karte aus.
Sie zeigt Tunnel, Gänge, verborgene Routen.
Und eine rote Linie, die pulsiert.
Genau dort, wo mein Tattoo endet.
„Wenn du dorthin willst“, sagt Teyla, „musst du zuerst durch dich selbst.“
Ich verstehe nicht alles.
Aber ich weiß: ich habe keine Wahl.
Ich bleibe über Nacht.
Und träume von Türen ohne Klinken.
Kapitel 7 – Karten aus Haut
Ich wache auf, bevor das Licht angeht.
Nicht, weil ich es höre. Sondern weil mein Körper es weiß.
Die Tiefzone hat keinen Morgen. Kein Lichtwechsel, kein Vogel, kein Radiofetzen aus dem Oberbau. Nur das leise Summen der Stromadern irgendwo hinter der Wand.
Teyla sitzt schon an ihrer Karte. Ihre Finger fahren die Linien entlang, als würden sie schreiben, ohne Tinte.
Als ich mich räuspere, sagt sie nichts. Sie zeigt nur auf einen Spiegel an der Wand – alt, rissig, zu dreckig, um etwas zu erkennen.
„Zieh dein Shirt aus“, sagt sie.
Ich ziehe es aus.
„Dreh dich.“
Ich dreh mich.
Ihre Finger berühren meine Schulterblätter, fahren über das Tattoo. Die Berührung ist leicht, fast medizinisch.
Ich halte still.
„Es sind keine Symbole“, sagt sie leise. „Es sind Wege. Koordinaten. Überlagerte Routen. Manche stimmen nicht mehr, andere…“
Pause.
„…führen zu Orten, die es offiziell nie gab.“
Ich drehe mich zurück. Zieh das Shirt wieder über.
„Du meinst, ich bin eine Karte?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Nicht du. Aber das, was man dir eingebrannt hat.“
Ich setze mich zu ihr. Schaue auf ihre große Papierkarte.
Sie zeigt auf einen Punkt in der Mitte. „Sieh her. Hier. Die sogenannte Brücke 13. Sie existiert nicht mehr. Laut jedem offiziellen Plan. Aber auf dir?“
Sie hebt eine transparente Folie, auf der mein Rücken nachgezeichnet ist.
Der Punkt ist da.
„Was ist da?“, frage ich.
„Ein Eingang“, sagt sie. „Zum Archiv.“
Ich atme durch.
Das Archiv.
Ein Ort, von dem nur die Paranoiden sprechen.
Oder die Sterbenden.
„Du weißt, was das bedeutet, oder?“, fragt sie.
Ich nicke.
„Ich bin kein Mensch mit Erinnerungen. Ich bin ein Speicher mit Laufzeit.“
Teyla schweigt.
Dann sagt sie: „Du bist mehr als das. Aber du musst dich entscheiden. Willst du’s wissen? Wirklich?“
Ich antworte nicht.
Ich nehme die Folie. Stecke sie ein.
„Ich geh zur Brücke.“
„Allein?“
„Wie sonst?“
Sie sieht mich an. Lange.
Dann: „Wenn du zurückkommst, bring mir ein Fragment. Ein beliebiges.“
„Warum?“
Sie lächelt schmal. „Weil ich auch jemand war, bevor ich begann, nur noch zu lesen, was andere hinterlassen haben.“
Kapitel 8 – Der Archivist
Ich finde ihn im Südwurm.
So nennen sie die alte Verbindungsschleuse zwischen Tiefzone und Netzblock 5. Früher ein Datenknotenpunkt. Heute nur noch ein bröckelnder Zylinder aus Beton und Kabelsalz, besprüht mit Sprüchen wie „Ich war hier – aber nicht freiwillig“ und „Erinnerung ist ein Virus“.
Er nennt sich Janus. Aber alle sagen der Archivist.
Weil er mehr speichert als lebt.
Oder vielleicht, weil er das eine nicht mehr vom anderen trennt.
Ich finde ihn in einem Raum ohne Fenster, aber mit hunderten Bildschirmen. Keiner zeigt etwas Echtzeitmäßiges. Nur Standbilder. Alte Aufnahmen. Kameras, die nie mehr abschalten.
Einer zeigt mich.
Zwanzig Jahre jünger.
Lächelnd.
Unmöglich.
Ich schlage den Bildschirm aus.
Er schaut auf. Blinzelt.
Die Augen: zu groß. Die Haut: grau wie nasser Beton.
Aber seine Stimme ist klar.
„Du bist spät“, sagt er.
„Für was?“, frage ich.
„Für alles.“
Ich setz mich ihm gegenüber. Kein Tisch. Nur der vibrierende Boden zwischen uns.
„Ich brauch eine Antwort“, sag ich.
Er schüttelt den Kopf.
„Die Frage ist wichtiger.“
Ich zeige ihm das Modul.
Er sieht es an, als wär’s ein alter Bekannter.
Dann: „Die Struktur ist beschädigt. Aber der Kern lebt.“
„Was ist drauf?“, frage ich.
„Ein Protokoll“, sagt er. „Fragmentiert. Nichts vollständiges. Aber du bist drin.“
Ich spüre, wie mir der Magen hochrutscht.
„Ich?“
„Nicht dein Name. Aber dein Muster.“
„Muster?“
Er dreht sich zu einem Bildschirm. Tippt eine Reihe Zeichen ein.
Ein Hologramm flackert auf – pulsierend, organisch.
Mein Tattoo. Vergrößert.
Und dazwischen: Mikrocodes.
Beweglich.
Wie Haut, die lebt.
„Du bist nicht nur Trägerin“, sagt er. „Du bist Trägerin zweiter Ordnung. Ein Verteilerpunkt.“
Ich versteh’s nicht ganz. Vielleicht will ich’s auch nicht.
„Warum?“, frage ich.
„Weil jemand einen Speicher brauchte, den man nicht hacken kann. Nur manipulieren. Von innen.“
Ich will schreien. Tu’s nicht.
Ich frag stattdessen: „Wer hat das getan?“
Er sieht mich lange an.
Dann sagt er:
„Du.“
Stille.
Nur das Surren der alten Rechner.
Und mein Puls, der gegen die Wände schlägt.
Kapitel 9 – Stimmenfänger
Ich gehe nicht mehr. Ich schleiche.
Jeder Schritt ein Gedanke, den man besser nicht laut ausspricht.
Der Weg zur Brücke 13 führt durch den Außenring. Offiziell evakuiert. Inoffiziell: voll mit den Falschen. Den Unsichtbaren. Den Abgelegten.
Ich bewege mich durch Gänge aus Lichtfetzen und Staub. Der Boden klebt. Die Wände atmen. Irgendwo tropft es – kein Wasser. Eher Öl. Oder etwas, das nicht benannt werden will.
Dann sehe ich sie.
Das Kind.
Sitzt auf einem umgestürzten Projektor, die Beine baumelnd. Barfuß. Blasse Haut, wie von innen beleuchtet. Und es summt.
Eine einfache Melodie. Alt.
Ich kenne sie. Irgendwoher. Aus einem Traum vielleicht. Oder einem Albtraum.
Ich bleibe stehen.
„Wie heißt du?“, frage ich.
Keine Antwort.
Nur das Summen.
Ich gehe näher. Langsam.
Die Luft wird schwer.
Mein Tattoo zieht. Als würde etwas darin vibrieren.
„Was bist du?“, flüstere ich.
Das Kind hört auf zu summen.
Dann hebt es den Kopf.
Die Augen: farblos. Kein Weiß, kein Schwarz. Nur Grau. Wie vergessene Asche.
Es öffnet den Mund. Keine Stimme. Kein Laut.
Aber etwas kommt.
Nicht akustisch.
Gedanken. Bilder.
Nicht meine.
Ich sehe:
– eine Gruppe in weißen Kitteln, rund um ein Becken
– einen Körper, reglos, Haut aufgeschnitten, etwas wird eingesetzt
– ein Lichtblitz
– mein Gesicht. Jünger. Aber leer. Ohne alles.
Ich torkle zurück. Reiße mich los.
Das Kind sitzt wieder da. Als wär nichts gewesen.
Teyla hatte recht.
Ich bin nicht allein.
Nicht im Kopf. Nicht im Körper.
Ich gehe weiter. Schneller.
Keine Fragen mehr.
Nur eins bleibt:
Die Melodie.
Sie hat sich in mir festgesetzt.
Und ich summ sie, als ich die Brücke erreiche.
Ohne zu wissen, was sie bedeutet.
Oder wen sie ruft.
Kapitel 10 – Der Spiegelraum
Brücke 13 ist kein Übergang.
Sie ist ein Schnitt.
Zwischen dem, was war. Und dem, was sich erinnert, es gewesen zu sein.
Die Brücke ist aus Beton und Draht. Versiegelt mit Plomben, die längst verrostet sind.
Aber irgendjemand hat sie geöffnet.
Von innen.
Ich klettere über ein Gerüst aus alten Kabeln, lasse mich in einen Trichter fallen, der nach Ozongeruch und Verwesung riecht.
Dann: Stille. Kein Tropfen. Kein Summen. Nur… Vakuum.
Der Raum dahinter ist größer, als er sein sollte.
Rechteckig. Symmetrisch.
Wände aus poliertem Metall – aber kein Spiegelbild.
Ich stehe mitten im Raum.
Schaue mich um.
Ich bin da.
Aber nicht sichtbar.
Dann flackert Licht auf. Oben.
Ein Kegel trifft den Boden vor mir.
Darin: ein Mädchen.
Steht einfach da. Regungslos.
Ich gehe näher.
Es ist… ich.
Jünger. Viel jünger.
Zöpfe. Kein Tattoo.
Aber die Augen dieselben.
Ich flüstere: „Was ist das hier?“
Die Jüngere sagt nichts. Sie hebt nur langsam die Hand.
Zeigt auf ihre Brust.
Auf die Stelle, wo bei mir das Zeichen sitzt.
Bei ihr ist es blank.
„Du warst es nie“, flüstert sie.
Oder ich?
Oder niemand?
Plötzlich beginnen die Wände zu beben.
Schemen erscheinen. Bewegungen, wie Rauch unter Glas.
Ich sehe Gesichter.
Nicht fremd. Nicht vertraut.
Aber… gespeichert.
Die Stimmen kehren zurück.
Nicht laut. Aber eindeutig.
Fetzen von Fragen.
Von damals.
Von der Zelle.
Von davor.
„Was erinnern Sie?“
„Was bleibt, wenn wir gehen?“
„Sind Sie bereit, sich zu verlieren?“
Ich schreie.
Die Kleine schaut mich an. Traurig.
Dann beginnt sie zu verschwinden.
Wie Staub im Licht.
Ich renne aus dem Raum.
Herz wie ein Hammer.
Haut wie Feuer.
Hinter mir schließt sich die Tür.
Kein Knall.
Kein Geräusch.
Nur:
Ein ganz leises Echo.
Das sich wie mein eigener Atem anhört.
Kapitel 11 – Riss im Muster
Ich taste meine Haut im Dunkeln ab.
Nicht weil ich etwas suche.
Sondern weil ich prüfen will, ob ich noch da bin.
Der Raum liegt hinter mir, aber nicht die Bilder. Die Kleine mit meinem Gesicht. Die Schemen. Die Stimmen.
Sie kleben an mir wie Staub, den man nicht abschütteln kann.
Innenstaub.
Gedächtnisgruseln.
Ich finde einen alten Kontrollgang. Neonlicht blinkt über mir, ein nervöses Morsealphabet.
Mein Tattoo brennt wieder. Anders.
Nicht heiß.
Eher… rhythmisch. Wie ein Code, der senden will.
Ich reiße das Shirt hoch.
Schau auf die Linien.
Und sehe es sofort.
Ein Schnitt.
Nicht äußerlich.
Das Muster – es hat sich verschoben.
Eine Linie, die immer nach Osten verlief, knickt jetzt Richtung Süden.
Ein Zeichen ist hinzugekommen. Winzig. Zwischen zwei anderen, kaum sichtbar.
Aber es war nicht da.
Ich weiß das.
Weil ich mich erinnere.
Oder glaube, mich zu erinnern.
Ich knie mich hin.
Ritze mit dem Messer in die Wand: ein einfaches X.
Falls ich hier wieder vorbeikomme. Falls ich noch weiß, dass ich’s war.
Dann höre ich Schritte.
Nicht leise. Nicht verzögert.
Echte Schritte. Von echten Schuhen.
Ich drehe mich um.
Bereit.
Eine Frau tritt aus dem Schatten. Dunkler Mantel. Glatte Haare.
Augen wie aus Glas.
„Farida“, sagt sie. „Du bist also noch funktional.“
Ich sage nichts.
„Das Protokoll war nicht für Langzeitlaufzeiten gedacht.“
„Was bin ich?“, frage ich.
„Ein Versuch.“
„Bin ich allein?“
Sie lächelt.
„Du bist nie allein gewesen. Du bist ein Cluster.“
Ich weiche zurück.
„Und wenn ich nicht mehr will?“
„Dann überschreibst du dich selbst.“
Ich ziehe das Messer.
Nicht weil ich sie angreifen will.
Sondern weil es sich besser anfühlt, etwas Festes in der Hand zu haben.
„Mach Platz“, sage ich. „Ich geh weiter.“
Sie tritt zur Seite. Ohne Widerstand.
„Aber denk dran“, ruft sie mir nach, als ich gehe.
„Das Muster ändert sich nicht, weil du es willst. Sondern weil jemand es neu schreibt.“
Ich drehe mich nicht um.
Aber ich weiß:
In mir… hat jemand die Feder noch in der Hand.
Kapitel 12 – Das Protokoll
Der Ort ist kein Archiv.
Er ist eine Wunde.
Ich folge der Linie auf meiner Haut. Dem neuen Ast, der plötzlich da war.
Er führt mich in einen Raum, den es nicht geben sollte.
Keine Tür. Nur eine Wand, die weicher ist, als sie sein dürfte.
Ich drücke sie mit der flachen Hand.
Sie gibt nach.
Und dann bin ich drin.
Ein Hohlraum. Groß wie ein Fahrstuhlschacht.
Wände aus dunklem Glas, durchzogen von flackernden Adern aus Licht.
In der Mitte: ein Terminal.
Nicht alt. Nicht neu.
Zeitlos.
Wie etwas, das nie gebaut wurde, sondern gewachsen ist.
Ich lege das Modul auf die Platte.
Ein Summen beginnt.
Tief. Elektrisch.
Es durchläuft mich wie ein zweiter Puls.
Dann spricht die Stimme.
Neutral.
Aber weiblich.
Und sie sagt meinen Namen. Komplett.
„Farida Saran Halik.“
Ich friere.
Niemand nennt mich so. Niemand soll das tun.
„Zugriffsberechtigung: biologisch. Protokoll Mnem – Sektor III. Öffnung beginnt.“
Licht.
Kreisförmig.
Der Boden wird zu Daten. Beweglich. Fließend.
Ich sehe:
– Bilder aus einem Labor
– Reihen von Frauen, schlafend, jede mit einer Markierung
– mich selbst, in einem Tank
– Menschen, die mir nicht fremd sind
– und den Satz: „Erinnerung ist übertragbar.“
Ich sacke auf die Knie.
Nicht vor Schmerz.
Vor… Überforderung.
Die Stimme spricht weiter. Schneller.
„Mnem-Protokoll aktivierte Trägerpersonen mit variablen Erinnerungsclustern. Ziel: Transport von Informationen durch lebendes Medium. Auflösung bei Identitätskollision.“
Ich schreie:
„Was bin ich?!“
Antwort:
„Du bist Ergebnis.
Du bist Speicher.
Du bist Übergang.“
Ich spüre, wie sich etwas in mir löst.
Nicht körperlich.
Mental.
Ein Teil von mir… fällt ab.
Wird fremd.
Und gleichzeitig: verständlich.
Ich war nie nur Ich.
Ich war viele.
Trägerin von Geschichten, Geheimnissen, Protokollen, die zu gefährlich waren, um digital zu bleiben.
Ich stehe auf.
Wanke.
Nehme das Modul wieder an mich.
Die Stimme sagt noch etwas.
Leise.
Fast zärtlich.
„Letzte Information: Du hast zugestimmt.“
Ich verlasse den Raum.
Und frage mich,
ob man zustimmen kann,
wenn man nicht weiß, wer man ist.
Kapitel 13 – Rückweg
Die Gänge wirken enger.
Oder ich bin größer geworden.
Innen.
Ich gehe langsam. Nicht aus Vorsicht.
Aus… Unsicherheit.
Mit jedem Schritt verliere ich etwas.
Nicht greifbar.
Aber da.
Als würde der Gang mich abschälen, Schicht für Schicht.
Die Menschen, an denen ich vorbeikomme, sehen mich an, als hätten sie mich schon mal gesehen.
Oder nie.
Ihre Blicke kleben.
Wie Erinnerungen, die man nicht zuordnen kann.
Zurück in der Tiefzone finde ich Teyla.
Sie sitzt über einer Karte. Neue Linien. Frische Schnitte im Papier.
Als hätte sich die Stadt verändert, seit ich weg war.
Oder ich.
„Du hast’s gefunden“, sagt sie.
Ich nicke.
Reiche ihr das Modul.
Sie legt es zur Seite, rührt es nicht an.
„Es liegt jetzt an dir“, sagt sie.
„Was?“
„Ob du weiterträgst. Oder überschreibst.“
Ich setze mich.
Ziehe mein Shirt aus.
Sie schaut nicht weg.
Die Linien auf meiner Haut – sie haben sich weiter verändert.
Neue Muster. Fein wie Haarsträhnen.
Verbindungen, die gestern noch nicht da waren.
„Ich verliere mich“, flüstere ich.
Teyla schaut mich an.
Ehrlich. Ruhig.
„Vielleicht findest du dich so.“
Ich weiß nicht, ob das tröstet.
Aber es fühlt sich an wie das Gegenteil von Lüge.
Ich schlafe in ihrer Nähe.
Kein richtiger Schlaf. Eher ein Standby.
Träume in Codes.
Gesichter, die mich rufen mit Namen, die ich nicht kenne.
Am Morgen: Ich bin bereit.
Nicht geheilt.
Nicht sicher.
Aber bereit.
Ich nehme das Modul.
Nehme mich.
Nehme die Schuld.
Und gehe Richtung Oberzone.
Es ist Zeit, dass sie mich sehen.
So wie ich bin.
Oder war.
Oder werden könnte.
Kapitel 14 – Kein Licht, nur Muster
Die Oberzone beginnt mit Licht.
Aber es wärmt nicht.
Es blendet.
Ich stehe am Rand des Plateaus, wo früher einmal der Nord-Eingang war.
Jetzt: Ruine. Glasreste, eingerollte Metallplatten, ein Schild mit halbverbrannten Lettern:
„Hier beginnt die Struktur.“
Ich atme.
Nicht tief.
Nur genug, um zu wissen: ich bin noch hier.
Sie warten schon.
Drei Gestalten, in Grau. Gesichter hinter Visiertüchern, Stimmen aus dem Funk.
Aber ich höre sie nicht.
Ich gehe einfach weiter.
Die Hände offen.
Das Tattoo bloß.
Keiner hält mich auf.
Vielleicht, weil sie wissen, dass ich schon drinnen bin.
Nicht in ihrer Zone.
In ihrem System.
Ich betrete das Gebäude.
Es ist kein Ort.
Es ist ein Zustand.
Wände, die sich nicht wiederholen.
Gänge, die sich falten.
Licht, das keine Richtung kennt.
Dann:
Ein Raum.
Leer.
Kein Terminal. Kein Stuhl. Keine Kamera.
Nur ein Echo.
Und ich.
Ich setze mich auf den Boden.
Lege das Modul vor mich.
Lege meine Hände daneben.
Atme.
Und warte.
Nicht auf Erlösung.
Nicht auf Strafe.
Ich warte auf…
das Muster.
Und es kommt.
Nicht von außen.
Von innen.
Ein Zittern.
Ein Zucken der Haut.
Ein Licht unter der Oberfläche.
Mein Körper ist ein Speichermedium.
Aber auch: ein Sender.
Ich sende.
Zum ersten Mal bewusst.
Nicht, um zu zerstören.
Nicht, um zu fliehen.
Sondern um zurückzugeben, was nie ganz mir gehörte.
Die Muster beginnen sich zu lösen.
Nicht verschwinden –
sie wandern.
In die Luft.
In das Licht.
Ich schließe die Augen.
Und was ich sehe, ist kein Ende.
Es ist ein Netzwerk.
Kein Licht.
Nur Muster.