
Die Sonne hing tief über Moguéran, ihr Licht zog lange Schatten über das Kopfsteinpflaster und legte einen warmen Schimmer auf die Fensterläden. Es war einer dieser seltenen Tage, an denen die Bretagne wie ein Postkartenmotiv wirkte, nicht wie das graue, nasse Ende der Welt. Ich saß auf dem Balkon, ein altes Notizbuch vor mir, ein Glas Wein in der Hand
Mein Handy vibrierte auf dem wackeligen Tisch. Ich hob es auf, ohne viel Eile – Nachrichten hier draußen waren selten dringend. Als ich den Namen sah, stockte ich kurz. Marie.
„Ich vermisse Moguéran. Und ein bisschen dich“, stand da, nur das. Keine Frage, keine Anrede, nur diese zwei Sätze.
Ich starrte auf die Worte, als könnten sie sich plötzlich bewegen, mehr erzählen. Mein erster Impuls war, das Handy wegzulegen, sie schmoren zu lassen, so wie sie mich hatte schmoren lassen. Wochenlang keine Nachricht, nicht mal ein Lebenszeichen. Jetzt das.
Aber ich konnte nicht anders. Meine Finger tippten schneller, als mein Kopf denken konnte.
„Ein bisschen? Das klingt ja, als wär ich knapp hinter den Crêpes vom Markt auf deiner Liste.“
Der Hund sah mich an, schief, wie immer, wenn ich mit mir selbst sprach – oder mit ihr. Sein Blick hatte etwas Fragendes, fast schon Anklagendes.
„Ich mein ja nur“, murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm.
Das Handy vibrierte wieder.
„Die Crêpes sind unangefochten auf Platz eins. Aber du bist dicht dran.“
Ich lachte, ein trockenes, kurzes Lachen, das in der stillen Straße fast unangebracht laut klang. Natürlich. So war sie immer gewesen. Nie zu viel geben, immer ein bisschen zurückhalten, als hätte sie Angst, dass man sie für zu einfach halten könnte.
„Warum schreibst du mir?“
Die Frage war raus, bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte. Der Hund legte sich zu meinen Füßen, den Kopf auf die Pfoten, und blinzelte träge in die Sonne.
Die Antwort kam schneller, als ich erwartet hatte.
„Weil ich nicht weiß, wo ich sonst hinschreiben soll.“
Ich runzelte die Stirn. Da war sie wieder, diese leise Ambivalenz, die sie immer mit sich trug. Ich wollte wütend sein, oder wenigstens genervt, aber es ging nicht. Stattdessen legte sich eine leise Wärme über mich, ein Gefühl, das ich nicht so recht benennen konnte.
„Moguéran ist noch da“, schrieb ich. „Ich auch.“
Das war alles, was ich zustande brachte. Keine Vorwürfe, keine Erklärungen. Ich sah zu, wie die Nachricht verschwand, und ließ das Handy neben dem Cidre liegen.
Die Sonne stand inzwischen tiefer, das Licht wurde weicher, goldener. Die Geräusche der Straße – ein paar Stimmen, das Rumpeln eines Fahrrads über die Steine – schienen plötzlich lauter, deutlicher. Ich spürte den rauen Stoff des Stuhls unter meinen Armen, roch die salzige Luft, die immer einen Hauch von Algen mit sich brachte.
Marie und ich hatten oft hier gesessen, genau an diesem Tisch, mit Blick auf die Straße. Sie hatte immer gesagt, dass Moguéran sie an etwas erinnerte, das sie nie wirklich erklären konnte. „Es ist… wie ein Ort aus einem Buch, das ich mal gelesen hab“, hatte sie einmal gesagt, während sie ihren Tee umrührte. „Oder aus einem Traum, den ich fast vergessen habe.“
Ich hatte damals nur genickt. Vielleicht lag es daran, dass ich nie wirklich fort war. Für mich war Moguéran kein Traum, sondern eine Art Stillstand. Ein Ort, an dem die Zeit langsamer ging, manchmal fast stehen blieb.
Das Handy vibrierte wieder.
„Vielleicht komme ich zurück“, schrieb sie. „Nur für ein paar Tage. Wäre das okay?“
Ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog, eine Mischung aus Freude, Unsicherheit und dieser unterschwelligen Wut, die ich immer unterdrückte, wenn es um sie ging.
„Klar“, schrieb ich. „Wann?“
Die Antwort kam nicht sofort. Der Hund hatte sich inzwischen auf den Rücken gedreht, die Beine in die Luft gestreckt, während er zufrieden schnarchte. Ich nahm einen Schluck Wein, ließ den Blick über die Straße schweifen, wo die Schatten länger wurden und die ersten Lichter in den Fenstern aufflackerten.
Es war, als hätte sich etwas verschoben, kaum merklich, aber doch spürbar. Der Gedanke, dass sie zurückkommen könnte, löste eine seltsame Unruhe in mir aus, eine Art prickelnde Erwartung, gemischt mit der Angst, dass alles wieder so enden würde wie vorher.
„In ein paar Wochen vielleicht“, kam die Antwort schließlich.
Ich starrte auf die Worte, fühlte das Gewicht, das in ihrer Unverbindlichkeit lag. Aber es war besser als nichts. Vielleicht war es genau das, was Moguéran ausmachte – das ständige Gefühl, dass etwas passieren könnte, aber nie wirklich musste.
Ich legte das Handy weg, stand auf und trat auf die Straße hinaus. Die Luft war kühl geworden, aber sie hatte etwas Klareres, Frischeres. Der Hund trottete hinter mir her, neugierig schnüffelnd.
Der Hafen lag ruhig, das Wasser glänzte im letzten Licht des Tages. Ich ging bis zum Rand des Kais, setzte mich auf die kalten Steine und sah den Wellen zu.
Marie würde zurückkommen. Oder auch nicht. Und ich würde hier sein, mit dem Hund, dem Wein und diesem kleinen Ort, der mehr über mich wusste, als ich manchmal wollte.
„Ein bisschen reicht manchmal auch“, sagte ich leise. Der Hund legte den Kopf schief, und ich grinste. Ja, vielleicht tat es das.