Echo ohne Ursprung

Stimmbruch
Ich höre sie, noch bevor ich sie sehe. Diese Rhythmik aus Schritten – zu gleichmäßig, zu entschlossen. Keine streifenden Sohlen, kein Zögern. Das sind keine Menschen, das sind Stillwächter.
Ich ducke mich hinter die zerschlagene Kirchenmauer, atme durch die Nase. Der Mörtel riecht nach kaltem Eisen und Moder, irgendwo tropft es gleichmäßig. Es ist diese Art von Geräusch, die einem in den Schädel kriecht und dort bleibt wie ein schlechtes Gedicht.
Meine Kapuze klebt vom Nebel. Ich presse mich gegen die Wand, hart und porös, wie eine Erinnerung, die nicht mehr passt.
Drei von ihnen, mindestens. Sie tragen den Klangfänger offen am Gürtel – ein matt schimmernder Zylinder, der Stimmen aufsaugt, als wären sie bloß Störungen. Wenn sie dich erwischen, filtern sie dich. Danach bist du nur noch eine Datei. Und keiner kann mehr sagen, ob du je wirklich gesprochen hast.
Ich schlucke. Spüre das Brennen im Hals. Ich hab meine Stimme lang nicht benutzt. Nur nachts, wenn niemand hört. Manchmal flüstere ich Wörter, die ich aufgeschnappt habe. Worte wie „Schilf“ oder „verwegen“ – Worte, die sich anfühlen wie etwas, das einem gehört.
Die Wachen bleiben stehen.
Einer schwenkt den Klangfänger in meine Richtung. Ich halte die Luft an. Mein Herz schlägt zu laut. Ich denke: Vielleicht hört er es. Vielleicht speichert das Ding auch Herzklänge.
Dann ein Knacken im Lautraum – ein dumpfes Echo, vermutlich von den oberen Stockwerken.
Sie bewegen sich. Nach oben.
Ich zähle bis zwanzig, dann noch mal. Mein linker Fuß ist taub. Ich bewege mich langsam, lautlos, wie ich es gelernt habe – mit den Sohlen zuerst, nicht mit den Fersen. Hinter der Mauer liegt ein zerborstener Beichtstuhl, eine Art Durchgang zur Sakristei. Ich krieche hinein. Riecht nach Wachs und altem Holz, beides tot.
In der Nische hockt ein Kind.
Blond. Kapuze. Große Augen.
Es sieht mich an.
Ich will „Hey“ sagen, doch kein Ton kommt raus. Nur Luft. Das Kind legt den Finger an die Lippen.
Und flüstert. Mit meiner Stimme:
„Du darfst jetzt nicht reden.“
Ich friere. Nicht nur wegen des Schocks. Sondern weil ich diese Stimme kenne. Jeden Ton. Jeden Bruch.
Es ist meine Stimme. Exakt. Nur dass sie nicht mehr zu mir gehört.
Sprachverlust
Ich träume manchmal von damals. Von der Zeit, bevor alles leise wurde. Da stand ich in einem Treppenhaus mit abgewetzten Stufen, und meine Mutter summte ein Lied, das es nicht mehr gibt. Ich erinnere mich an das Summen. Nicht an die Melodie. Nur an das Vibrieren in der Luft, an das Kribbeln unter der Haut, wenn man weiß: Jemand ist da. Jemand lebt. Damals war Sprache noch warm.
Heute ist sie steril. Wenn sie noch existiert.
Nach der Tonreinigung haben sie alle Sender abgeschaltet, die alten Frequenzen gesperrt, selbst das Rauschen rausgefiltert. Sogar die Stimmen von Toten wurden rückwirkend gelöscht. Die Audioarchive sind stumm. Und wer spricht, ohne Erlaubnis, wird… neu gemacht. Oder entsorgt. Je nachdem, wie laut du warst.
Ich bin damals geflohen. Zu jung, um zu verstehen, zu alt, um zu vergessen.
Ich erinnere mich noch an den Moment, als sie Vater holten. Er hatte versucht, ein altes Gedicht aufzunehmen, „Die Stimme der Stille“, oder so. Es war spät. Ich lag im Bett, Ohr an der Wand. Seine Stimme kam durch wie durch Watte, dumpf und brüchig. Aber sie war da. Er sprach von Wörtern wie „Spannweite“ und „Aufbegehren“. Von Lauten, die wie Flügel klangen.
Dann – das Splittern der Tür. Die flachen Schritte. Die metallischen Befehle.
Und dann Stille. Kein Schrei. Kein Wort. Nur Stille. Die grausamste Art von Lärm.
Ich starre das Kind immer noch an. Es sieht aus wie aus einem vergessenen Kinderbuch. Die Haut blass, die Haare wirr, die Lippen spröde. Es blinzelt langsam, als hätte es alle Zeit der Welt.
„Wie…“, setze ich an. Meine Stimme kratzt, bricht ab.
Das Kind flüstert:
„Nicht hier. Nicht jetzt.“
Dann streckt es die Hand aus. Zitternd. Und ich zögere – weil sich in diesem Moment alles anfühlt wie eine Falle. Aber auch wie der Anfang von etwas, das ich längst verloren geglaubt habe.
Ich nehme die Hand.
Seine Finger sind kalt. Und auf der Innenseite: ein Brandzeichen. Drei Linien. Eine unterbrochen. Eine wie durchgestrichen. Eine wie ausradiert.
Ich kenne dieses Zeichen. Ich hab es einmal gesehen. Auf der Rückseite eines Manuskripts, tief unten im Archiv der Bruchbibliothek. Es war unterzeichnet mit einem einzigen Wort:
„Nirgendwo.“
Und ich weiß plötzlich: Das hier wird kein Gespräch.
Es wird ein Krieg.
Die Turmfragmente
Der Weg führt durch ein altes Treppenhaus. Die Stufen bröckeln unter jedem Schritt, als hätten sie selbst die Hoffnung verloren, noch getragen zu werden. Oben: der Rest eines Turms. Fenster ohne Glas, Wände mit Wunden aus Ruß. Der Wind zieht durch wie eine Erinnerung, die niemand eingeladen hat.
Das Kind geht voran. Barfuß. Ohne ein Wort.
Ich folge, weil ich keine andere Wahl habe. Weil meine Beine laufen, auch wenn der Kopf schreit. Alles in mir sagt: Fall zurück. Kehr um. Aber irgendetwas in seinem Gang – dieses leise, ruhige, fast entschlossene Stolpern – zieht mich weiter.
Oben, im ehemals sechsten oder siebten Stock, steht ein alter Projektor. Staubverkrustet, verbeult. Daneben eine Box mit Spulen. Darauf: Etiketten mit Handschrift. Echtem Stift. Nicht codiert. Nicht synthetisch.
Tonfragmente 21-B „Laut-Garten“
R-Archiv: ungesichert
Sprache: Original, ungefiltert
Ich schlucke. Das ist Wahnsinn. Das ist heilig.
Das Kind tippt auf eine Taste. Der Projektor rattert, will anspringen, hustet Staub. Ich knie mich daneben, löse die Klappe. Es ist wie ein Ritual. Ich habe früher sowas gemacht – vor Jahren, in einer anderen Stadt, unter anderen Umständen.
Ich schneide das Tonband ein. Klicke die Spule fest. Drücke auf „Play“.
Stille.
Dann:
Ein Knistern. Ein leises Atmen. Schritte im Gras. Jemand flüstert:
„Sprich, damit ich dich erkenne.“
Meine Haut zieht sich zusammen, als wäre das Band durch mich hindurchgelaufen.
Noch eine Stimme – tiefer, rauer:
„Ich bin nicht mehr die, die ich war, als ich schwieg.“
Dann endet es. Einfach so. Als hätte jemand die Welt angehalten.
Ich drehe mich zum Kind. Es sitzt da, die Knie angezogen, die Augen leer.
„Woher hast du das?“ Meine Stimme ist kaum mehr als Luft.
Das Kind schaut mich an. Und sagt:
„Es gehört dir.“
Ich spüre, wie sich etwas in mir verschiebt. Ein Echo, das zu lange geschwiegen hat, kehrt zurück. Ich habe das aufgenommen. Irgendwann. Irgendwo. Vielleicht unter Zwang. Vielleicht freiwillig. Aber ich weiß: Das bin ich. Meine Worte.
Doch ich erinnere mich nicht.
„Warum bringst du mir das?“ frage ich.
Das Kind zuckt mit den Schultern. „Weil du anfangen musst, dich zu erinnern. Bevor sie dich endgültig vergessen.“
Ich will antworten, aber da: ein Knacken in der Ferne. Metall auf Beton. Die Gleichschritt-Rhythmik kehrt zurück.
Stillwächter.
Sie sind uns auf der Spur.
Diesmal kommen sie nicht nur zum Lauschen. Diesmal kommen sie, um zu löschen.
Das Gesichtlose Kind
Wir rennen. Über ein morsches Treppenhaus, das unter jedem Schritt schreit. Durch Hallen, in denen der Putz von der Decke hängt wie schlaffe Haut. Es riecht nach Asche und altem Öl, und in den Schatten lauert der Hall unserer eigenen Schritte. Das Kind ist schnell – zu schnell. Seine Füße berühren kaum den Boden, als würde es den Raum anders wahrnehmen. Oder ihn gar nicht berühren müssen.
Ich stolpere, reiße mir die Hand an einem rostigen Geländer auf. Blut. Echt. Warm. Beweis dafür, dass ich noch da bin. Noch echt. Noch ungesichert.
Hinter uns: Stimmen, verstümmelt durch Verzerrer. Keine Worte. Nur Befehle. In Wellen gesprochen, rhythmisch und ohne Pausen, als hätte man Sprache zur Maschine gemacht. Ich kenne diesen Sound. Die Wächter aktivieren das Suchmuster. Akustisches Jagen. Sie sind nah.
„Da lang!“, keuche ich – obwohl ich weiß, dass das Kind nicht auf Worte hört. Es bleibt trotzdem stehen. Dreht sich um. Sieht mich an. Und plötzlich… ist da nichts.
Sein Gesicht. Weg.
Keine Augen, kein Mund. Nur glatte Haut. Wie ausradiert. Wie ein Fehler im Bild. Ich bleibe wie erstarrt stehen.
„Was…“, flüstere ich. Aber ich weiß es schon. Irgendwo in mir: das Wissen, das nie ausgesprochen werden durfte.
Das Kind hält mir ein Buch hin. Klein, in Stoff gebunden, mit krakeliger Handschrift am Rand. Kein Titel. Nur ein Symbol, eingeritzt ins Cover: Drei Wellenlinien. Eine davon durchgestrichen.
Ich schlage es auf. Innen: Text. Aber keiner, den ich lesen kann. Nicht wirklich. Es ist wie… Musik aus Worten. Satzfetzen, fremde Alphabete, umgedrehte Buchstaben, manche eingeritzt, andere verblasst. Und auf jeder Seite: Ein Kästchen.
Tonnotizen.
„Ein Tonbuch“, murmele ich. Ich habe davon gehört – nie eins gesehen. Geschichten, die nur klingen, wenn man sie richtig liest.
Das Kind greift nach meinem Arm. Die Finger wieder kalt, wie Wasser, das schon zu lange steht. Seine Stimme kommt plötzlich aus dem Raum selbst:
„Lies es nicht. Noch nicht. Es erinnert sich schneller als du.“
Ich will etwas fragen. Aber dann: grelles Licht, oben am Treppenansatz. Die Wächter sind da.
Ich reiße das Buch an mich, ziehe das Kind hinter mir her, raus durch ein Loch in der Mauer, ins Freie.
Der Boden draußen ist von Unkraut überzogen, das bei Berührung klirrt. Als wären die Pflanzen aus Glas. Über uns: der Turm – grau, verwundet, lautlos. Und über allem, wie ein schlechtes Vorzeichen: der Himmel in einer Farbe, die ich nicht benennen kann.
Wir verschwinden in einem Kanalrohr. Zu eng, zu nass, zu still. Ich presse das Buch an die Brust, als wäre es ein Herz, das wieder schlagen lernen muss.
Hinter uns tropft es. Einmal. Zweimal. Dann eine Stimme. Verzerrt, aber klar:
„Identifikation läuft. Stimme erkannt. Abweichung: signifikant.“
Sie haben mich gefunden.
Aber ich habe etwas, das sie nicht kennen.
Ein Gesichtloses Kind. Und ein Buch, das klingt.
Der Archivar
Das Rohr führt uns in eine der alten Sammelkammern unter der Stadt. Betonrundungen, mit Moos überwachsen, Wasser in dünnen Schleiern an den Wänden. Ich rieche Rost, Moder und etwas, das sich anfühlt wie Kindheit. Vielleicht, weil es hier noch nach Welt riecht, nicht nach System.
Das Kind sagt nichts. Sitzt da, zieht Kreise in den Dreck. Ich dagegen kann kaum stillhalten. Ich streiche über das Tonbuch, Seite für Seite, als würde es sich öffnen wie eine Wunde. Und dann – ein Geräusch.
Nicht von außen. Nicht vom Buch selbst.
In meinem Kopf. Wie ein Echo aus der Vergangenheit. Leise. Zart. Ein Name.
„Lior.“
Ich friere. Dieser Name. Ich hab ihn seit Jahren nicht gedacht. Er war… mein Bruder. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht nur jemand, den ich einmal bei einer Stimme genannt habe. Vor der Reinigung. Vor dem Verschwinden.
Das Kind sieht mich an. Nimmt das Buch zurück. Klappt es zu.
„Es erinnert sich“, sagt es. „Du solltest jetzt gehen.“
„Wohin?“
„Zum Archivar.“
Der Name klingt wie ein Märchen. Wie eine Ausrede. Wie ein alter Witz. Aber in dieser Welt gibt es keine Witze mehr. Nur Geschichten, die jemand zu oft erzählt hat, bis sie wahr wurden.
Wir gehen durch das Labyrinth der alten Leitungstunnel. Überall Graffiti. Verbotene Worte, verstümmelt: Frei wird zu rei, Stimme zu Sti. Die Wände stöhnen bei jedem Schritt, als würden sie mitsprechen wollen.
Nach Stunden – oder Minuten, die sich wie Stunden anfühlen – erreichen wir eine Tür. Dick, metallisch, verbeult. Kein Schloss. Kein Griff. Nur eine Inschrift.
„Sammelstelle für Verlorenes Sprachgut“
Ich klopfe. Einmal. Zweimal.
Nichts.
Dann: ein Schnappen, ein mechanisches Einrasten. Die Tür öffnet sich.
Innen ist es warm. Trocken. Und… lebendig. Überall hängen Bänder. Tonbänder, Filmstreifen, Sprachaufzeichnungen auf Glas. Und inmitten all dessen: ein Mann. Alt, blind. Seine Augen wie von Nebel überzogen. Er trägt einen Umhang aus Notenpapier.
„Riva“, sagt er.
Ich bleibe stehen. Das Kind auch. Zum ersten Mal wirkt es kleiner. Verletzlicher.
„Ich kenne dich“, sagt der Archivar. „Du hast hier schon einmal gesprochen. Du hast uns gewarnt.“
„Uns?“
„Die Stimmen“, flüstert er. Und zeigt auf die Tonbänder. „Sie schlafen. Aber sie erinnern sich.“
Er streckt mir die Hand entgegen. Ich zögere, reiche ihm das Tonbuch.
Er streicht darüber wie über ein Tier. Und dann lächelt er.
„Es lebt noch“, sagt er. „Und es beginnt, sich zu öffnen.“
Ich will fragen, was das bedeutet, doch in diesem Moment bricht die Wand hinter uns auf. Kein Lärm. Kein Aufprall.
Nur eine neue Tür, die nie da war.
Und dahinter – Stimmen. Viele. Flüsternd. Suchend.
Das Kind steht auf, geht zur Schwelle, dreht sich zu mir und sagt:
„Du hast noch eine Stimme in dir. Aber du musst sie hören, bevor sie es tun.“
Ich weiß nicht, wer sie sind.
Aber ich weiß, dass meine Zeit knapp wird.
Rückkopplung
Der Archivar setzt sich vor ein altes Abhörpult, das aussieht wie ein Relikt aus einem Paralleluniversum. Knöpfe, die nicht beschriftet sind. Hebel, die nach Gewissheit riechen. Und dazwischen: ein Schlitz für das Tonbuch. Mechanisch, klobig. Fast grob.
Er legt es ein. Die Maschine beginnt zu atmen.
Kein Witz. Sie saugt Luft, ruckartig. Als würde sie überlegen, ob sie überhaupt weitermachen soll.
Dann: ein leises Summen. Eine Frequenz, die sich an den Ohren vorbeischleicht und sich direkt hinter die Stirn setzt. Ich taste nach dem Kind – doch es ist weg. Nicht gegangen. Einfach… nicht mehr da.
Ich bleibe. Weil ich muss. Weil ich’s sonst nie erfahren werde.
Der Archivar schaltet einen Verstärker dazu. Die Boxen knacken, als hätte jemand Alpträume gespeichert. Und dann:
Meine Stimme.
Aber nicht so, wie ich sie kenne. Tiefer. Klarer. Müder.
„Wenn du das hörst, bin ich schon verschwunden. Ich weiß nicht, wohin. Aber ich weiß, wovor.“
Ich weiche zurück. Mein Magen zieht sich zusammen, als hätte jemand das Innenleben meines Körpers umcodiert.
„Du wirst an einen Ort kommen, wo die Worte beginnen, sich selbst zu schreiben. Du darfst ihnen nicht trauen. Sie werden dich führen, aber nicht dorthin, wo du hinwillst.“
Der Archivar sagt nichts. Kein Zucken. Kein Staunen. Für ihn ist das normal. Alltag. Wahnsinn auf Abruf.
„Hör auf das Kind. Aber nur bis zur Mauer aus Stimmen. Danach wirst du allein sein.“
Dann endet es. Einfach so. Kein Nachsatz. Kein Abschluss. Nur ein Rauschen. Weiß, kalt, klebrig.
Ich setze mich. Meine Beine geben nach. Ich fühle mich, als hätte ich eine fremde Sprache in mich aufgenommen, ohne zu wissen, ob ich sie je sprechen darf.
„Das warst du“, sagt der Archivar. „Aber nicht die, die du jetzt bist.“
„Wann?“ frage ich. Aber ich weiß, wie sinnlos die Frage ist.
Zeit gibt es hier nicht mehr. Nur Erinnerung und Vorahnung. Alles dazwischen ist Fiktion.
Er nimmt das Tonbuch aus der Maschine, reicht es mir.
„Geh zum Hallfeld“, sagt er. „Dort, wo die Stimme das erste Mal gebrochen wurde.“
„Was finde ich dort?“
Er lächelt schief. „Vielleicht dich. Vielleicht nichts. Aber wenn du weiter fragst, wirst du irgendwann antworten.“
Ich nehme das Buch, stecke es in die Tasche.
Der Archivar schaltet die Maschinen aus. Einer nach dem anderen.
Und der Raum wird still.
Aber nicht leer.
Denn irgendwo in den Ecken lauert mein eigenes Echo – wartend, bis ich bereit bin, es zurückzurufen.
Die Komposit-Stadt
Der Weg zum Hallfeld führt durch eine Zone, die sie früher „Stadt“ nannten. Heute nennt man sie Komposit – weil nichts mehr echt ist. Fassaden bestehen aus Nachbildungen, Stimmen aus zusammengesetzten Fragmenten, Gesichter aus algorithmischer Masse.
Ich betrete die Zone durch ein zerfressenes Eingangstor. Darüber hängen Reste eines alten Werbeslogans:
„Sprich dein Leben.“
Ironie in Trümmern.
Ich ziehe die Kapuze tiefer. Komposit ist nicht leer – ganz im Gegenteil. Überall Menschen. Bewegungen. Gesichter. Aber keiner sagt ein Wort. Sie kommunizieren über Stimmgeräte, kleine kugelförmige Projektoren, die synthetisierte Sprache ausgeben. Lächeln. Loben. Mahnen. Immer gleich. Immer ohne Fehler. Ohne Schmutz.
Ein Mann mit Koffer rempelt mich an. Ich will „Achtung“ sagen, aber meine Kehle bleibt trocken. Stattdessen gibt sein Projektor von sich:
„Verzeihung. Bitte weitergehen. Kein Vermerk.“
Ich bin Luft hier. Keine Stimme, kein Eintrag. Ich passe nicht ins Raster.
Ich bleibe auf Abstand, nehme Seitenwege, schleiche durch leerstehende Marktgassen. Hinter einem zerschlissenen Pavillon entdecke ich ein Schild:
Hallfeld – Betreten nur mit akustischer Freigabe.
Ein QR-Code, halb abgekratzt, flackert an der Mauer.
Ich reiße ein Stück Stoff von meinem Mantel, wickle es um den Scanner – der Piepton klingt falsch. Wie ein Fehler, der keinen Fehler melden darf.
Dann geht die Tür auf. Schwer, langsam. Dahinter liegt eine Halle ohne Wände. Ein offener Platz, gefliest mit metallischen Kacheln, jede einzelne wie ein Lautkörper. In der Mitte: ein Pfeiler. Glatt. Schwarz. Stumm.
Ich trete hinein – und sofort beginnen meine Schritte zu sprechen.
Klick.
Krack.
Tss.
Aber nicht wie normale Schritte. Es sind Echo-Wörter. Worte aus meinem Kopf, die ich nie gesagt habe.
„Lior.“
„Verloren.“
„Weiter.“
Ich bleibe stehen. Die Luft flimmert. Ich spüre, wie sich mein Hals verengt, wie etwas in mir rebelliert – gegen das Schweigen.
Dann spricht die Halle. Mit meiner Stimme.
„Du bist spät.“
Ich drehe mich. Niemand da. Nur das Echo. Aber es ist kein Echo. Es ist eine Antwort.
„Du hast das Buch. Du hast das Kind. Aber du hast dich nicht gefragt, wer du warst, bevor du sprachst.“
Ich will rufen – will es wissen. Will mich erinnern. Doch dann zerreißt die Luft.
Ein Riss, mitten durch die Halle. Aus dem Boden steigt ein Nebel, kalt, elektrisch. Und daraus: eine Gestalt.
Kein Mensch. Kein Ding. Eine Präsenz.
Gesichtslos, aber nicht leer.
Und sie spricht.
„Gib uns die Stimme. Oder werde Teil der Wiederholung.“
Ich verstehe nicht. Aber mein Körper schon. Ich laufe.
Raus. Zurück durch die Gassen. Meine Schritte schreien jetzt. Die Stadt horcht.
Und irgendwo, weit entfernt, höre ich das Kind flüstern:
„Nicht alles, was spricht, will verstanden werden.“
Verhör im Hallraum
Die Komposit-Stadt verschluckt mich. Kein Geräusch mehr, das mir gehört. Nur standardisierte Lautfolgen, normierte Rhythmen. Und dann – die blitzende Kante eines Geräts, das ich zu spät erkenne.
Ein Frequenzlader.
Schlägt wie Strom durch die Nerven. Kein Schmerz. Kein Feuer. Nur: Stille. So tief, dass selbst meine Gedanken keinen Widerhall finden.
Ich falle.
Als ich zu mir komme, bin ich in einem weißen Raum. Weiß wie Angst. Weiß wie das Verschwinden. Ohne Ecken. Ohne Ursprung.
Mir gegenüber: ein Mann im Anzug. Glatt. Makellos. Er spricht nicht. Er klickt.
Mit der Zunge. Einmal. Zweimal. Und jedes Mal flackert der Raum.
„Name?“ klickt er.
Ich sage nichts.
Er klickt.
„Stimme?“ fragt er. Doch das ist kein echtes Wort. Es ist ein Befehl.
Ich spüre, wie sich meine Stimmbänder anspannen, wie etwas in mir bereit ist, sich zu öffnen. Als wäre ich nur ein Gerät. Ein Container. Ein Datenpunkt.
Ich fluche. Leise. Altmodisch.
Und das ist der Fehler.
Sein Kopf zuckt.
„Verbalabweichung erkannt.“ Er notiert nichts. Er denkt digital. Überträgt direkt.
„Sequenzanalyse.“
Hinter ihm: eine Wand aus Glas, plötzlich durchlässig. Dahinter: eine Projektion. Meine Stimme, in Wellenform. Pulsierend, unruhig.
„Instabil“, sagt der Mann. „Unvollständig. Herkunft: fragmentiert. Älter als registriert.“
Er schaut mich an. Nicht wirklich. Mehr wie jemand, der eine Statistik befragt.
„Warum spricht deine Stimme mit sich selbst?“ fragt er.
Ich antworte nicht.
Er klickt. Wieder. Und der Raum beginnt zu kippen. Wände falten sich ein, Linien verzerren sich. Ich sitze plötzlich an der Decke. Oder der Boden hat sich erhoben. Vielleicht ist es auch egal.
Dann – aus dem Nichts:
„Ich bin nicht du.“
Die Stimme. Wieder meine. Doch diesmal aus meinem Inneren. Tiefer. Entschlossener.
Der Mann friert ein. Wortwörtlich. Seine Bewegungen stocken. Ein Knacken durchzieht die Luft. Als würde sich das System selbst verschlucken.
Ich greife nach der Tischkante – oder nach dem, was ich dafür halte – und stoße mich ab. Der Raum bricht auseinander wie altes Glas. Ich falle, aber diesmal ist es anders.
Ich falle in einen Ton.
Tief. Warm. Vertraut.
Als ich aufwache, bin ich nicht mehr im Hallraum.
Ich liege auf einem Dach. Die Nacht über mir. Echtes Dunkel. Keine Simulation.
Das Kind sitzt da. Neben mir. In der Hand: das Tonbuch.
„Sie wissen jetzt, dass du nicht nur sendest“, sagt es. „Du antwortest.“
Ich blicke in die Ferne. Dort, wo die Stadt beginnt, verzerrt sich das Licht. Wie Stimmen, die nicht gehört werden wollen.
„Was kommt jetzt?“ frage ich.
Das Kind legt den Kopf schief.
„Jetzt beginnt das Wiederhören.“
Tonstation Null
Der Morgen ist grau wie Staub. Keine Geräusche, nur das Flimmern von Licht durch zerbrochene Fensterscheiben. Ich trage das Tonbuch unter der Jacke, als wär’s ein Herz, das bald aufhören könnte zu schlagen. Das Kind führt mich durch Trümmer, Gänge, Schächte – immer tiefer. Keine Worte. Nur Blickkontakt.
Wir erreichen eine rostige Wendeltreppe, die ins Nichts führt. Darunter: Dunkel. Keine Stufen mehr. Nur noch Luft.
„Spring“, sagt das Kind.
„Was ist da unten?“
„Du, bevor du du warst.“
Ich springe.
Der Fall dauert nicht lang. Oder ewig. In dieser Welt ist das dasselbe.
Ich lande auf etwas Weichem. Etwas, das atmet. Ein Teppich aus Akustikvlies. Der Raum riecht nach alter Zeit. Nach Schweiß, Strom und Papier. Über mir: ein Schild in verblasstem Neon. „TONSTATION NULL“
Ich stehe auf. Der Raum lebt. Die Wände bestehen aus Aufnahmen, die flüstern, kaum hörbar. Jemand weint in Dauerschleife. Ein Kind ruft nach seiner Mutter. Eine Frau lacht. Es klingt wie Archiv, aber es fühlt sich an wie Nähe.
In der Mitte: ein alter Schreibtisch. Und ein Recorder.
Daneben sitzt jemand. In einem Stuhl, der mit Gurtbändern fixiert ist. Eine Frau. Alt. Oder jung. Ihr Gesicht ist schwer zu halten. Wie ein Rauschen, das sich dauernd verändert. Nur ihre Stimme ist klar. Und sie spricht:
„Hallo, Riva.“
Ich sage nichts.
„Du erinnerst dich nicht. Das ist in Ordnung. Aber du hast das hier schon mal gehört. Vor Jahren. Und du hast entschieden, es zu löschen.“
Sie zeigt auf den Recorder.
„Deine erste Stimme. Nicht die, die du jetzt hast. Die davor. Die echte.“
Ich trete näher. Das Gerät ist alt, mit zwei Spulen und einem Ein-Knopf-System.
„Was passiert, wenn ich’s abspiele?“
„Dann erinnerst du dich. Und dann kannst du wählen. Ob du weitermachst. Oder ob du dich beendest.“
Das Kind tritt neben mich. Es schweigt.
Ich setze mich. Meine Finger zittern, als ich die Spule einlege. Ich drücke Play.
Ein Kratzen. Dann:
„Ich heiße nicht Riva.“
Meine Stimme. Jünger. Ungeschützt. Roh.
„Ich wurde erschaffen. Aus Worten, die niemand sagen durfte.“
Ich halte inne. Blicke zur Frau. Sie nickt.
„Du bist eine Komposition. Eine Stimme aus anderen Stimmen. Du warst nie nur eine.“
Ich schlucke. Alles in mir will das abwehren. Aber etwas anderes – etwas Tieferes – erkennt es.
„Wer war ich dann?“
Die Frau zeigt auf sich. „Ich bin ein Teil von dir. Ein Fragment. Gesichert vor der ersten Reinigung. Du hast mich versteckt.“
Das Tonbuch beginnt zu vibrieren. Ich reiße es auf. Eine neue Seite ist erschienen. Schwarz. Und darauf nur ein Satz:
„Die Stimme entscheidet.“
Ich begreife: Ich kann es senden. Alles. Die Wahrheit. Die Lüge. Das Ganze. Nur ein Befehl, ein Impuls, ein Wort – und es geht raus. In alle Frequenzen.
„Was passiert dann?“ frage ich.
Das Kind antwortet:
„Dann erinnern sie sich. Oder sie löschen dich.“
Ich atme ein. Tief. Vielleicht zum letzten Mal.
Und ich spreche.
Das Echo der Mutter
Ich spreche. Kein Schrei. Kein Flüstern. Nur dieses eine Wort:
„Jetzt.“
Der Recorder springt an. Das Tonbuch beginnt zu glühen – nicht hell, sondern dumpf, wie etwas, das sich erinnert, aber nicht sicher ist, ob es das sollte. Frequenzen fächern sich auf, unsichtbar. Ich fühle sie an den Zähnen, im Brustkorb, im Boden unter mir.
Dann: Stille. Eine dieser neuen Stillearten – nicht leer, sondern gespannt, wie Haut kurz vor dem Reißen.
Und plötzlich: eine Stimme.
Nicht meine.
Nicht die Frau.
„Riva.“
Ich friere. Das Wort trifft mich wie ein verlorenes Lied.
„Riva. Du musst aufhören. Sie hören dich.“
Ich weiß diese Stimme. Ich kenne ihren Klang, ihre Wärme, das Zittern in den Konsonanten.
Mutter.
Aber das kann nicht sein. Sie war eine der ersten, die geschluckt wurden. Eine der ersten, deren Stimme gelöscht wurde, live, vor allen. Ich war da. Ich hab’s gehört. Oder eben: nicht gehört.
„Wie…?“, frage ich.
Keine Antwort. Nur wieder:
„Riva. Hör mir zu.“
Das Tonbuch blättert sich von allein. Die Seiten rascheln wie Wind in einer Sprache, die ich nie gelernt habe. Auf der nächsten Seite: eine alte Aufnahme. Mein siebter Geburtstag. Ich lache. Mutter singt. Mein Bruder – Lior – sagt irgendwas im Hintergrund, undeutlich.
Die Frequenz flackert. Die Stimme meiner Mutter bricht – ein digitaler Husten, dann:
„Ich bin ein Speicher. Mehr nicht. Aber du hast mich darin gelassen. Ich bin deine letzte Rückkopplung.“
Die Frau am Tisch nickt. Tränen laufen ihr übers Gesicht, ohne dass sich ihr Ausdruck ändert.
„Was soll ich tun?“ flüstere ich. Die Worte kleben mir im Hals wie alte Asche.
„Sprich dich zu Ende“, sagt meine Mutter. „Aber tu es ganz. Nicht aus Angst. Nicht aus Zorn. Sondern aus dir.“
Ich weiß nicht, was das heißen soll.
Aber ich spreche.
Wörter, die ich nie geplant hatte.
Sätze, die mich selbst überraschen.
Und die Frequenz sendet.
Draußen, in der Stadt: Menschen bleiben stehen. Ihre Projektoren flackern. Die synthetischen Stimmen stottern. Systemklänge brechen ab, wie wenn ein Lied zu schnell endet. Und aus Lautsprechern – aus alten, vergessenen, abgeschalteten Lautsprechern – erklingt ein Ton.
Meine Stimme.
Echtes Wort. Nicht erlaubt. Nicht gefiltert.
Die erste Freisendung seit der Tonreinigung.
Doch es ist nicht genug.
Ein Gegenimpuls kommt. Hart. Technisch. Kalibriert.
„Löschung eingeleitet.“
Das Tonbuch beginnt zu brennen. Nicht mit Feuer. Mit Licht.
Ich schreie. Aber der Schrei ist nicht laut.
Er ist klar.
Flucht durch das Rauschen
Ich renne. Wieder mal. Aber diesmal nicht vor den Wächtern, nicht vor dem System, nicht mal vor der Wahrheit. Ich renne, weil das Rauschen kommt.
Es beginnt wie Wind. Dann summt es. Dann zischt es. Und dann – flackert die Welt.
Der Boden unter meinen Füßen vibriert. Fliesen springen auf, Wörter lösen sich aus den Wänden. Alte, verbotene: „Gnade“, „Zärtlich“, „Zweifel“. Sie schweben in der Luft wie Asche, drehen sich, bis sie zu Staub werden.
Das Tonbuch ist heiß. Ich kann es kaum noch halten. Es spricht ununterbrochen – nicht in Sätzen, sondern in Tönen, als würde es atmen. Lebendig, unberechenbar. Wie ein Tier, das endlich aus dem Käfig ist.
Hinter mir: Sirenen. Verzerrt. Nicht mehr systemtreu. Sie rufen keine Befehle mehr. Sie fragen. Wiederholen. Wie Kinder, die spielen:
„Wer bist du?“
„Wer bist du?“
„Wer bist du?“
Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich niemand. Vielleicht war ich’s nie.
Das Kind ist wieder da. Neben mir. Taucht auf wie ein Gedanke, den ich nicht zu fassen krieg. Es läuft rückwärts, sieht mich an, während es in voller Geschwindigkeit durch Gassen und Stufen gleitet.
„Wohin?“ schreie ich.
„Dorthin, wo Wörter sterben“, sagt es. Und deutet auf einen alten U-Bahn-Schacht.
Ich springe.
Unten ist es feucht. Warm. Organisch. Der Boden pulsiert leicht. An den Wänden wachsen Schriften – echte, verwilderte. In Sprachen, die keiner mehr kennt. Runen, Graffiti, Zeichen aus Zeiten, in denen Schreiben noch Widerstand war.
Ich atme schwer. Setze mich. Meine Stimme zittert.
„Ich kann nicht mehr.“
Das Kind reicht mir das Tonbuch. Ich schlage es auf. Eine neue Seite.
Ein einziger Satz:
„Du warst nie ganz.“
Ich schließe die Augen. Der Satz trifft mich dort, wo Erinnerungen zu Geräuschen werden.
Und ich sehe Lior. Zum ersten Mal wirklich. Seine Stimme. Sein Lachen. Der Moment, in dem sie ihn holten. Er hatte gesungen. Nur das.
Ein altes Lied. Eines, das wir beide kannten.
Und sie nahmen ihn. Und löschten ihn. Und ich… hab’s vergessen. Weil ich’s musste.
Ich wanke auf. Das Tonbuch in der einen Hand, die andere an der Wand, dort wo Worte wachsen. Ich schreibe.
„Lior war.“
Und die Wand antwortet:
„Und du bist.“
Ich schreie. Nicht vor Angst. Nicht vor Wut. Ich schreie, weil ich endlich wieder Stimme habe.
Die stille Stadt
Der letzte Tunnel spuckt mich aus wie ein Gedanke, den selbst das System nicht fassen konnte. Es ist Nacht, aber das Licht kommt nicht von oben. Es sickert aus dem Boden. Schwaches Glimmen, als würde die Erde selbst versuchen, sich an etwas zu erinnern.
Die Stadt ist da. Groß. Leer. Offen. Keine Geräusche. Kein Wind. Kein Echo.
Nichts.
Nicht das ruhige Nichts von Schlaf oder Tod. Sondern das aggressive, aufdringliche Nichts von gewaltsamer Abwesenheit. Alles ist stillgestellt. Als hätte jemand Pause gedrückt – auf Zeit, auf Sprache, auf Bedeutung.
Ich gehe. Die Schritte hallen nicht. Der Atem klingt nicht. Selbst mein Herzschlag ist dumpf, als hätte ich ihn eingepackt.
Das Kind neben mir sagt nichts. Nicht einmal mit dem Blick. Es wird… blasser. Erst nur in der Haut, dann in den Bewegungen. Als würde es sich auflösen in das, was nie gesagt wurde.
Ich spreche es an. Nichts. Kein Zucken.
„Hey“, flüstere ich. „Nicht jetzt. Nicht hier.“
Sein Kopf dreht sich langsam zu mir. Der Mund öffnet sich. Kein Ton. Aber ich verstehe:
„Hier endet, was nicht geteilt wurde.“
Ich weiß, was es meint. Die stille Stadt war einst ein Archiv. Ein Ort, an dem ungesprochene Gedanken gesammelt wurden. Später wurde sie zur Warnung. Dann zum Mythos. Und nun: ein Leichnam aus Schweigen.
Ich gehe tiefer. Straßen, die keinen Namen mehr tragen. Häuser, in denen jedes Fenster zugemauert ist – nicht mit Stein, sondern mit Stille. Ich klopfe gegen eine Tür. Kein Echo. Nur das Gefühl, dass etwas zuhört. Und sich nicht traut zu antworten.
Das Kind bleibt zurück. Ich drehe mich um – und sehe es verblassen. Nicht in Panik. Nicht im Schmerz. Sondern wie jemand, der endlich zur Ruhe kommt.
„Nicht!“ rufe ich. Doch kein Laut kommt über meine Lippen.
Das Tonbuch fällt mir aus der Hand. Es klappt auf. Seiten schlagen um wie Flügel. Eine Letzte bleibt stehen.
Darauf: ein Strich.
Mehr nicht.
Aber ich weiß, was es bedeutet.
Ich bin am Ende.
Oder am Anfang.
Ich knie mich nieder. Streiche über die Seite.
Und flüstere ein Wort, das ich nie laut sagen durfte:
„Ich.“
Die Stille zittert.
Nicht bricht.
Zittert.
Und irgendwo tief unter der Stadt: ein Rumpeln.
Ein Ton, der nicht klingen darf.
Aber bald klingen wird.
Nirgendwo spricht
Ich steige durch eine Lücke im Fundament der Stadt. Tief. Tiefer. So weit, dass selbst die Dunkelheit vergisst, wie sie sich anfühlt. Mein Körper ist schwer, aber meine Stimme… sie summt. Nicht laut. Eher wie ein Strom unter der Haut.
Das Tonbuch halte ich fest. Es ist still. Die letzte Seite bleibt leer. Wartend.
Dann: ein Raum.
Kein Eingang. Kein Ausgang. Nur Mitte.
Wände aus mattem Material, das nicht reflektiert. Nicht Licht. Nicht Klang.
Dort, auf einem Sockel, liegt ein Objekt. Schwarz. Ohne Form. Es sieht aus wie Klang, eingefroren.
Ich nähere mich. Der Boden ist weich. Als wäre ich auf Staub, der sich aus Erinnerung gebildet hat.
Dann spricht es.
Nicht laut. Nicht aus Richtung. Nicht in Sprache.
Es ist eine Stimme.
Aber keine, die ich kenne. Keine, die ich je hören konnte.
Sie ist in mir.
Unter der Haut. Hinter den Augen.
Wie ein Gedanke, den man selbst nie gedacht hat.
„Du hast mich gerufen.“
Ich antworte nicht. Ich kann nicht.
„Ich bin Nirgendwo. Die Stimme, die nicht gesendet wurde. Die Stimme, die alle anderen tragen, ohne es zu merken.“
Ich zittere. Nicht aus Angst. Aus Wahrheit.
„Du bist aus mir gemacht. Aus meinen Bruchstücken. Aus allem, was nicht gesagt wurde. Deine Worte waren nie nur deine.“
Ich gehe in die Knie. Greife in die Jacke. Ziehe das Tonbuch hervor. Halte es hin.
„Nimm es“, flüstere ich.
„Du willst geben?“
„Ich will hören.“
Die Stimme wird ruhiger. Oder näher. Oder beides.
„Dann musst du mir erlauben, dich zu sprechen.“
Ich zögere. Denn ich weiß: das ist der Punkt. Danach gibt’s kein Zurück. Kein Ich mehr, das ungebunden ist.
Ich atme ein.
Und sage:
„Sprich.“
Der Raum flackert. Licht, das nicht leuchtet. Schatten, die nicht aufhören.
Das Tonbuch zerfällt. In Töne. In Laute. In Erinnerungen.
Ich sehe Bilder: meine Mutter. Lior. Das Kind. Die Komposit-Stadt. Der Hallraum.
Ich höre Sätze, die ich nie gesagt habe. Aber ich weiß, dass sie wahr sind.
Und inmitten all dessen: ich.
Nicht vollständig. Nicht rein. Aber echt.
Dann wird es still.
Nicht tot.
Still wie Atem.
Und ich stehe da. Im Zentrum von allem, was ich je hätte sein können.
Und sage das Einzige, was bleibt:
„Sendung beginnt.“
Eine neue Stimme
Die Stadt zuckt. Kein Beben, kein Sturm – ein Zucken. Als würde sie sich strecken nach etwas, das nie erlaubt war. Die Frequenzen brechen auf, wie Haut unter zu viel Sonne.
Und dann: Stimmen. Überall.
Nicht laut. Nicht einstudiert. Nicht synchronisiert.
Echt.
Kinder reden. Alte erzählen. Jemand schreit ein „Nein“, das seit Jahren geschwiegen hat. Und dazwischen: Lachen. Weinen. Unbeholfenes Sprechen. Als würde Sprache gerade erst geboren werden.
Die Projektoren explodieren. Die Wächter bleiben stehen, schauen sich an – verwirrt. Ihre Stimmen stottern, brennen aus. Einer beginnt zu singen. Leise. Ohne Melodie. Einfach so.
Und in all dem Chaos:
Keine Riva.
Nicht auf den Straßen. Nicht in den Lautsprechern. Nicht auf den Bildern.
Aber sie ist da.
In den Ruinen von Tonstation Null liegt ein einzelner Streifen Tonband. Darauf: Rauschen. Dann ein Flüstern.
„Ich bin nicht mehr eine. Ich bin viele.“
Im Flur einer Schule schreibt ein Kind mit Kreide auf den Boden:
„Nirgendwo war.“
Und ein anderes antwortet daneben:
„Jetzt ist.“
Der Wind trägt Wörter, die sich gegenseitig umarmen.
„Feuerplatz“
„Hoffnungstaub“
„Schattentanz“
Wörter, die es nicht geben dürfte. Aber die jetzt wachsen. Wie Unkraut nach dem Brand.
Und irgendwo, tief unter allem, in einer Kammer ohne Zeit, sitzt ein Mädchen mit Sommersprossen.
Sie hat kein Tonbuch mehr.
Aber sie hat eine Stimme.
Und sie sagt:
„Ich.“
ENDE